Das Comeback der Elektrostimulation in der Psychiatrie

Weil die Entwicklung neuer Behandlungsformen bei psychischen Krankheiten stagniert, erleben ältere Methoden wie die Elektrokrampftherapie ein Revival – auch in der Schweiz.
Vor zwei Jahren konnte Isabelle* nicht mehr essen, schlafen oder sich waschen. Im Jahr 2018 wurde bei der 49-jährigen Frau aus dem Kanton Neuenburg Melancholie diagnostiziert – eine schwere Form der Depression.
Sie begann, jeden Tag einen Cocktail von 15 Medikamenten einzunehmen. Mehrmals war sie zur Behandlung in psychiatrischen Kliniken. Sie überlebte zwei Suizidversuche.
Heute ist Isabelle ein anderer Mensch. Sie sieht gepflegt aus, spricht warmherzig. Irgendwann, sagt sie, will sie wieder arbeiten. Im Moment aber nimmt sie sich Zeit für ihre Kinder und ihren Partner, der sie während ihrer Krankheit unterstützt hat.
«Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwann wieder stabil sein könnte – geschweige denn, mich selbst», sagt Isabelle. «Doch dank meiner Therapie bin ich heute wieder in der Lage, mich um sich selbst zu kümmern und mit anderen zu kommunizieren.»
Was sie «gerettet» hat, sagt Isabelle, war Neurostimulation: Therapien wie die Elektrokrampftherapie (EKT) und die transkranielle Magnetstimulation (TMS), bei denen die Neuronen im Gehirn mit Hilfe von Strom stimuliert werden.
Diese Therapieformen werden vor allem zur Behandlung von Depressionen, Angstzuständen und anderen psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie eingesetzt.
Rund 30% der Patient:innen mit Depressionen können nicht mit Antidepressiva behandelt werden. Isabelle ist eine von ihnen. Deswegen wenden sich immer mehr Menschen alternativen Behandlungen zu.
Nichts Neues seit den 1960er-Jahren
Antidepressiva wurden in den 1950er-Jahren entwickelt, vor allem in der Schweiz und den USA. Damals waren sie bahnbrechend: Sie regulierten chemische Ungleichgewichte im Gehirn der Patient:innen.
Entweder, indem sie die Zahl Moleküle im Gehirn, wie Serotonin und Noradrenalin, erhöhen. Diese werden normalerweise von Neuronen gebildet und sind dafür zuständig, Verhalten, Stimmung und Aufmerksamkeit zu regulieren. Oder, indem sie Enzyme blockierten, die diese Neurotransmitter abbauen.
Medikamente der ersten Kategorie – so genannte trizyklische Antidepressiva – wurden zuerst vom Schweizer Labor Geigy marktfähig gemacht, das heute Teil von Novartis ist. Sie dominierten das Geschäft bis zum Ende des Jahrhunderts.
In den 1990er-Jahren kam eine zweite Generation von Antidepressiva auf. Diese blockieren die Wiederaufnahme von Serotonin (SSRI) oder Serotonin und Noradrenalin (SNRI). Sie sind auch heute noch die gängigste Methode zur Behandlung von Patient:innen, die an Depressionen leiden.

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«Zwischen Ende der 1980er-Jahre bis zur Jahrtausendwende konzentrierte sich die Psychiatrie auf neue pharmazeutische Entdeckungen», sagt Anne Harrington, Franklin L. Ford Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der Harvard Universität in den USA.
«Aber selbst in der Schweiz, die eigentlich ein Zentrum für pharmazeutische Innovation ist, wurden keine neuen Zielpunkte für das Gehirn oder etwas anderes als ‹Me-too-Medikamente› entdeckt», so Harrington.
«Me-too-Medikamente» sind solche, die sich von bereits bestehenden Produkten nur minimal unterscheiden. Im Fall der Antidepressiva sind das vor allem SSRIs wie Prozac, Zolof und Lexapro.
Radikale Neuentwicklungen von Arzneimitteln zur Therapie von psychischen Krankheiten gab es seit den 1960er-Jahren keine mehr. «Das ist einer der verblüffendsten Fakten in der Geschichte der Behandlungen im Bereich der psychischen Gesundheit», sagt Harrington.
In den 2010er-Jahren war die Forschung weitgehend ins Stocken geraten. Patente für gängige Antidepressiva waren abgelaufen, Pharmaunternehmen wendeten sich von den Neurowissenschaften und der psychischen Gesundheit abExterner Link, um nach profitableren Feldern zu suchen, so Harrington.
Der britische Pharmariese Glaxosmithkline (GSK) reduzierte 2009 seine Forschung und Entwicklung zu Depression und Angstzuständen. Pfizer kündigte 2011 an, seine neurowissenschaftliche Forschung deutlich zu reduzieren. Und Novartis schloss 2012 seine neurowissenschaftliche Forschungseinheit in Basel.
Die Rückkehr der EKT
1938 wurde Lysergsäurediethylamid (LSD), eine der stärksten psychedelischen Drogen, zum ersten Mal in einem Sandoz-Labor in Basel hergestellt – ursprünglich als potenzielles Stärkungsmittel.
Im selben Jahr wurde in Italien die EKT zur Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen entwickelt. Die Schweiz war eines der ersten Länder, die diese Therapie ab 1939 anwendeten.
LSD und EKT können die chemischen Prozesse im Gehirn verändern und damit bei der Behandlung von Patient:innen mit psychiatrischen Störungen helfen. LSD aber, wie auch die später entwickelten Psychedelika, wurden lange stigmatisiert, weil sie vor allem als Rauschmittel in der Freizeit bekannt waren.
Die Elektrobehandlung wiederum wurde mit Gewalt und Zwang in Verbindung gebracht, ein Bild, das etwa im Buch und späteren Film «Einer flog über das Kuckucksnest» thematisiert wird.
Doch vor einigen Jahren begann sich dies zu ändern.
Seit einer Weile hat die Verfügbarkeit von EKT stark zugenommen: In den letzten zehn Jahren haben vier der fünf Schweizer Universitätsspitäler ihre Abteilungen für diese Therapieformen wieder geöffnet.
Auch die Behandlungszahlen zeigen den Anstieg: Im Jahr 2023 wurden 398 Patient:innen mit EKT behandelt, gegenüber 228 im Jahr 2019.
Innerhalb von Europa schwanken die Zahlen stark, aufgrund kultureller und wirtschaftlicher Unterschiede.
Während im Vereinigten KönigreichExterner Link, in DeutschlandExterner Link und in Spanien ein leichter Anstieg zu beobachten war, blieben die Zahlen in vielen Ländern Osteuropas mit weniger als 0,1 Patient:innen pro 10’000 Einwohner:innenExterner Link niedrig.
In Slowenien besteht seit 1994 ein vollständiges Verbot. In ItalienExterner Link führte der Psychiater Franco Basaglia in den 1970er-Jahren eine Bewegung zur Schliessung von psychiatrischen Anstalten an. 2017 boten in dem Land nur neun der 145 psychiatrischen Einrichtungen EKT an.
«Die EKT heilt nicht alles», sagt Annette Brühl, Chefärztin und stellvertretende Leiterin der Erwachsenenklinik an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK). «Aber sie ist faszinierend, weil sie eine recht breite Wirksamkeit hat: Man kann Depressionen, Manien, Schizophrenie behandeln.»
Erstmals bemerkte Brühl den Anstieg der EKT 2016, als sie noch am Zentrum für Depression der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) tätig war: Die Patient:innen wurden aus der ganzen Region zugewiesen, die Wartezeit für eine Behandlung betrug ein halbes Jahr.
Im Jahr 2020 wechselte sie in die UPK. Dort leitete sie die Wiedereinführung der EKT-Behandlungen, die in den 1970er-Jahren wegen mangelnder Beliebtheit und der Hoffnung auf Ersatz durch Medikamente eingestellt worden waren.
Das Verfahren hat seinen schlechten Ruf aus dem letzten Jahrhundert hinter sich gelassen. EKT-Patient:innen bekommen Elektroden auf die Stirn geklebt, erhalten Elektroschocks von vier bis acht Sekunden Dauer und erleiden einen ein- bis zweiminütigen Anfall, der die Weiterleitung der elektrischen Reize ermöglicht.
Aber sie befinden sich jetzt in einer viel sichereren Umgebung, in der sie Sauerstoff, Muskelrelaxantien und eine zehnminütige Ganzkörperanästhesie erhalten. Auf diese Weise können die Nebenwirkungen auf ein Minimum reduziert werden.
‹Weniger schädlich als ein Kopfball›.
Obwohl Brühl sagt, das Verfahren sei «weniger schädlich für das Gehirn als ein Kopfball», warnen Kritiker:innen vor möglichen Risiken. Vor allem fürchten sie langfristige Auswirkungen auf das Gehirngewebe und das Gedächtnis.
Brühl bestätigt zwar, dass aufgrund der Behandlung das Gedächtnis während einer gewissen Zeit nicht richtig funktioniere. «Aber das ist nicht dauerhaft.»
Während das Ausmass der Langzeitnebenwirkungen umstritten sei, so Brühl, seien die häufigsten Nebenwirkungen laut Untersuchungen Verwirrung, Kopfschmerzen, Übelkeit und Gedächtnisverlust. Ältere Menschen sind am meisten von den ersten beiden Symptomen bedroht, Frauen von GedächtnisverlustExterner Link.
Bettina* aus dem Kanton Zürich machte zwischen 2014 und 2015 17 EKT-Sitzungen in der PUK, um von einer behandlungsresistenten Depression zu genesen.
Heute nimmt sie Lithium: ein stimmungsstabilisierendes Medikament, das vor allem zur Behandlung bipolarer Störungen eingesetzt wird. Sie macht eine Psychotherapie und achtet auf ihre Gesundheit. Sie sagt aber auch, dass ihre Erinnerung an die vier Monate, in denen sie eine EKT erhielt, lückenhaft ist.
«Der Gedächtnisverlust in dieser Zeit war sehr stark. In manchen Fällen weiss ich nicht mehr, wen ich während der Therapie getroffen habe», sagt Bettina. «Aber es waren so oder so traurige Zeiten.» Wichtig sei für sie, dass sie immer noch arbeiten, Klavier spielen und drei Sprachen fliessend sprechen könne.
Neben ihrer Arbeit hat Bettina angefangen, Vorträge vor Medizinstudent:innen zu halten. Sie will die Öffentlichkeit für die Behandlung zu sensibilisieren.
«Nach meiner ersten EKT-Sitzung habe ich endlich wieder etwas gefühlt, nachdem ich ein Jahr lang nicht weinen, lachen oder etwas fühlen konnte. Davor war ich wie ein Zombie», sagt sie. «Ich war so froh, dass ich von der EKT erfuhr. Ich sagte mir: Ich kann nichts verlieren, wenn ich sie ausprobiere.»
Auch Isabelle, die Patientin aus dem Kanton Neuenburg, erfuhr, dass die EKT eine der letzten verbleibenden Möglichkeiten zur Behandlung ihrer Melancholie ist. Doch ihre Erfahrungen mit der Therapie sind weniger enthusiastisch.
Die Ärzt:innen hätten ihr 75 Sitzungen über ein Jahr hinweg empfohlen, in der Hoffnung, dass es ihr damit besser gehen würde. Stattdessen litt sie unter Gedächtnislücken, hatte einen Bandscheibenvorfall und ihre Zähne lockerten sich.
TMS-Therapie
Eins aber gesteht Isabelle der EKT zu: Sie hat damit die Welt der elektrischen Behandlungen kennengelernt, besonders die transkranielle Magnetstimulation (TMS) oder ihre repetitive Version (rTMS) – eine neuere, weniger invasive und weniger bekannte Methode der Neurostimulation.

Die Therapie wurde 1985 entwickelt. Dabei wird ein Gerät, das einem Schläger ähnelt und ein Magnetfeld aussendet, in der Nähe des Kopfs der Patient:innen platziert.
Die Behandlungen variieren je nach Erkrankung und können bis zu einer Stunde dauern, während der das Gerät in regelmässigen Abständen einminütige Stimulationen abgibt.
Die Behandlung kann bei psychischen Störungen helfen, die gegen herkömmliche Therapieformen resistent sind – etwa Depressionen, schwere Zwangsstörungen, Schizophrenie, bipolare Störungen, Süchte und Abhängigkeiten.
In der Neurologie ist die TMS zur Behandlung von chronischen neuropathischen Schmerzen, zur Rehabilitation nach einem Schlaganfall, bei Parkinson und Migräne zugelassen, sagt Indrit Bègue, Assistenzprofessorin in der Abteilung für Psychiatrie am Universitätsspital Genf (HUG). Es war die erste Einrichtung in der Schweiz, die 2003 diese Behandlung vorschlug.

Genau wie die EKT beruhe die Wirksamkeit der TMS auf der sogenannten synaptischen Plastizität – also der Fähigkeit des Gehirns, seine Verbindungen als Reaktion auf wiederholte Reize zu verändern, so Bègue. Während es im Jahr 2020 in der Schweiz 60 TMS-Patient:innen gab, stieg diese Zahl laut Bundesamt für Statistik im Jahr 2023 auf 398 an.
Nicht billig
Die EKT-Behandlungen haben jedoch einen hohen Preis. Eine Sitzung in den UPK kostet um die 600 Franken und muss etwa zehnmal wiederholt werden, um wirksam zu sein.
Die Behandlung wird in der Schweiz und in mehreren anderen Ländern erstattet, darunter Deutschland, Spanien und das Vereinigte Königreich.
Das Vereinigte Königreich ist auch eines der wenigen europäischen Länder, welche die TMS-Therapie für psychische Erkrankungen erstatten.
In der Schweiz allerdings müssen Patient:innen einen erheblichen Eigenbeitrag leisten. Eine Sitzung kostet rund 350 Franken, und laut Empfehlungen sollte sie fünfmal pro Woche über vier bis sechs Wochen wiederholt werden. Die Kosten für eine Erstbehandlung liegen also bei knapp 9000 Franken, welche die Patient:innen selbst tragen müssen.
«Die Schweiz hinkt im Vergleich zu den USA, Australien und einigen europäischen Ländern wie den Niederlanden hinterher», sagt Bègue. Die fehlende Kostenerstattung schränke den Zugang zu den Kliniken ein. Das verlangsame die Integration der TMS in die Standardversorgung.
«Ich finde es inakzeptabel, dass diese Behandlung nur jenen zur Verfügung steht, die sie sich leisten können», sagt Isabelle. «Ich hatte grosses Glück, diese Therapie bezahlen zu können. Aber jeder Mensch hat ein Recht auf eine Behandlung.»
Heute lässt sie sich zweimal pro Woche in der Praxis von Fady Rachid in Genf behandeln. Rachid ist Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Interventionelle Psychiatrie (SGIP), einer Vereinigung von Ärzt:innen, die mit EKT arbeiten.
Vor etwa einem Jahr beantragte die SGIP beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Rückerstattung der TMS-Behandlung. Die Antwort soll in den kommenden Monaten folgen.
Ein Feld in Entwicklung
«Auf diesem Gebiet wird viel geforscht und es gibt ständig Weiterentwicklungen», sagt Rachid. Er erwähnt ausdrücklich die «SAINT-Therapie» (Stanford Accelerated Intelligent Neuromodulation Therapy), die versucht, den Prozess der Remission von Depressionen durch eine verbesserte TMS-Methode zu beschleunigen.
Anders als die derzeitige Standard-TMS-Behandlung, bei der einminütige Stimulationen über 40 Minuten verteilt werden, sieht das «SAINT-Protokoll» zehnminütige Stimulationen vor, die durch eine einstündige Pause getrennt sind und zehnmal an einem Tag wiederholt werden.
Insgesamt dauert die Therapie fünf Tage. Laut StudienExterner Link, welche die Basis waren für die Zulassung durch die Food and Drug Administration (FDA), erreicht «SAINT» eine Remissionsrate von etwa 90% – das heisst, bei 90% der Patient:innen konnte die Therapie die Krankheitssymptome wirksam verringern.
Rachid berichtet von einer Remission und einem Ansprechen von 60-70%. Sein Kollege Jean-Frédéric Mall sagt, dass er sogar ein Ansprechen von 90% bei einigen Arten von Depressionen beobachtet habe. Seine Privatpraxis in Lausanne bietet sowohl TMS- als auch ECT-Behandlungen an.
«Das ist keine Alternativmedizin», sagt Mall, «es ist das Gegenteil davon». Die Behandlungen seien wissenschaftlich fundiert und ihre Wirksamkeit erwiesen. «Unsere Patient:innen sind oft frustriert, weil sie ihnen nicht schon früher von ihren Psychiater:innen empfohlen wurden.»
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*Die Namen wurden zum Schutz der Privatsphäre geändert
Editiert von Virginie Mangin/dos, Übertragung aus dem Englischen: Meret Michel/raf

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