Der schier aussichtslose Kampf der Schweizer Schokoladeindustrie gegen Kinderarbeit
Die Schweizer Schokoladehersteller haben sich verpflichtet, Kinderarbeit in ihren Lieferketten bis 2025 abzuschaffen. Aber allein schaffen sie es nicht, sagen zwei Genfer Expertinnen.
Rund 1,56 Millionen Kinder arbeiten weltweit im Kakaoanbau. Das ist das Ergebnis der umfassendsten Studie über Haushalte im Kakaoanbau (rund 90% des Kakaos wird von Familienbetrieben angebaut). Sie wurde 2020 vom National Opinion Research Center (NORC) der Universität Chicago veröffentlicht.
In den Kakaoanbaugebieten waren 38% der Kinder in der Elfenbeinküste und 55% der Kinder in Ghana, die in bäuerlichen Haushalten leben, an Kinderarbeit in der Kakaoproduktion beteiligt.
Der Zürcher Schokoladehersteller Barry Callebaut hat sich verpflichtet, bis 2025 seine gesamte Lieferkette einer menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht zu unterziehen und alle festgestellten Fälle von Kinderarbeit zu beseitigen.
Auch Nestlé und Lindt & Sprüngli haben versprochen, bis 2025 eine vollständige Rückverfolgbarkeit ihrer Kakaolieferkette bis zu den einzelnen Farmen zu erreichen.
Forschende der Universität Genf haben jedoch kürzlich ein Weissbuch veröffentlicht, in dem sie die Ursachen der Kinderarbeit analysieren. Sie kommen dabei zum Schluss, dass die Unternehmen allein nicht erfolgreich sein können.
SWI swissinfo.ch sprach mit den Autorinnen des Berichts. Sie legten Wert darauf, dass ihnen die Antworten gemeinsam zugeschrieben werden.
SWI swissinfo.ch: Es gibt Fortschritte bei der Bekämpfung der Kinderarbeit auf Kakaoplantagen, aber die Unternehmen scheinen gegen eine Wand zu stossen. In der Elfenbeinküste zum Beispiel arbeitet immer noch jedes dritte Kind auf den Familienfarmen in den Kakaoanbaugebieten, während es 2005 noch mehr als jedes zweite Kind war. Warum ist der Fortschritt in den letzten zehn Jahren ins Stocken geraten?
Berit Knaak und Dorothée Baumann-Pauly: Die Gründe dafür sind vielfältig. Noch nie waren Schokoladeunternehmen so bereit, das Problem der Kinderarbeit anzuerkennen und Ressourcen für dessen Bekämpfung bereitzustellen.
Allerdings konzentrieren sich die Massnahmen des Privatsektors oft auf leicht zugängliche geografische Regionen. Das bedeutet, dass andere, abgelegenere Anbaugemeinschaften, in denen das Risiko von Kinderarbeit wahrscheinlich noch grösser ist, vernachlässigt werden.
Unternehmen neigen auch dazu, sich auf ihre eigenen Lieferketten zu konzentrieren, anstatt mit anderen Firmen aus der Branche und weiteren wichtigen Stakeholdern zusammenzuarbeiten, um eine umfassende Strategie für eine nachhaltige Lösung zu entwickeln. Ein solcher unternehmensbezogener Ansatz ist begrenzt, da er keine systemischen Herausforderungen angeht.
Auch die Regierungen der Elfenbeinküste und Ghanas unterstützen häufig die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen, arbeiten aber selten enger mit ausländischen Regierungen zusammen. Es scheint nicht nur an Koordination zu mangeln, sondern auch an Verständnis für die Verflechtung der Ursachen von Kinderarbeit.
Die Konzentration auf nur einen Aspekt wird nicht zu den gewünschten Ergebnissen bei der Verringerung und schliesslich der Abschaffung von Kinderarbeit führen. Denn man muss die vielen Faktoren berücksichtigen, die das Phänomen vorantreiben.
Monitoring spielt eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Kinderarbeit im Kakaosektor. Wie ist dies in abgelegenen oder grenznahen Gebieten in Ghana oder Burkina Faso möglich, wo der Kakaoanbau immer wichtiger wird?
Schätzungen zufolge ist derzeit bis zu einem Viertel der ivorischen Kakaoproduktion nicht rückverfolgbar. Neue Kakaoanbaugebiete haben sich in abgelegenen und schwer zugänglichen Regionen im Westen der Elfenbeinküste entwickelt.
Die Richtlinie der Europäischen Union über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen verpflichtet diese zu einer risikobasierten menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht. Das bedeutet, sie müssen sich auf jene Teile ihrer Wertschöpfungskette konzentrieren, in denen die Risiken für die Menschen am grössten sind.
Neue Technologien könnten die Identifizierung von Hochrisikobereichen für Kinderarbeit erleichtern. Im weiteren Verlauf unserer Forschung wollen wir Erdbeobachtungssatelliten und Geodaten nutzen, um potenzielle Hochrisikogebiete zu kartieren.
Das wird aber nur der erste Schritt sein. Die Daten müssen in der Praxis überprüft werden. Um Kinderarbeit zu bekämpfen, muss man die komplexen Ursachen verstehen. Erst dann kann eine umfassende und praktikable Gegenstrategie entwickelt werden.
Besteht nicht die Gefahr, dass die Nulltoleranz gegenüber Kinderarbeit im Kakaosektor die Kinder in gefährlichere Sektoren wie den Bergbau treibt?
In der Tat verfolgen viele Unternehmen eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Kinderarbeit, weil sie befürchten, dass alles andere als eine Akzeptanz von Kinderarbeit missverstanden werden könnte.
Die Bekämpfung von Kinderarbeit erfordert jedoch bis zu einem gewissen Grad einen pragmatischen Ansatz, der die Realitäten in den Kakaoanbaugemeinden anerkennt.
Eine Null-Toleranz-Politik verleitet dazu, die komplexen Ursachen nicht anzugehen, sondern lediglich die Symptome zu bekämpfen, um schnelle Ergebnisse zu erzielen. Schlimmer noch, eine Null-Toleranz-Politik kann dazu führen, dass Unternehmen ihre Lieferbeziehungen aufgeben, ohne das Problem anzugehen.
In diesem Fall kann eine Null-Toleranz-Politik dazu führen, dass Kinder aus wirtschaftlicher Not anderswo Arbeit suchen, zum Beispiel im informellen Sektor oder in anderen Branchen wie dem handwerklichen Goldbergbau. Und das ist möglicherweise gefährlicher für sie.
In Ihrer jüngsten Studie plädieren Sie dafür, von einzelnen Ursachen für Kinderarbeit wegzukommen und sich auf die zusammenhängenden Ursachen zu konzentrieren. Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
Unsere Studie hat gezeigtExterner Link, dass Kinderarbeit nie das Ergebnis einer einzelnen Ursache ist, sondern dass es ein ganzes Ökosystem gibt, das Kinderarbeit wahrscheinlicher macht. Um das Problem in den Griff zu bekommen, muss daher an mehreren miteinander verknüpften Ursachen gearbeitet werden.
Um beispielsweise den Zugang zu Bildung zu ermöglichen, muss die physische Infrastruktur – ein wetterfestes Gebäude, Mobiliar und Lehrmaterial – bereitgestellt, eine qualifizierte Lehrperson gefunden und finanziert und eventuell untergebracht und der Transport zur Schule organisiert werden.
Selbst wenn Schulbildung vorhanden ist, ist dies nur möglich, wenn die Kinder über eine Geburtsurkunde verfügen. Das ist mit einer Reihe schwieriger administrativer Anforderungen verbunden.
Ein weiteres Beispiel sind die häufigen Gesundheitsprobleme in den Kakaoanbaugemeinden, wie Malaria oder Krankheiten, die auf den Mangel an sauberem Trinkwasser zurückzuführen sind.
Wenn Landarbeiterinnen und -arbeiter nicht arbeiten können, springen oft ihre Kinder ein. Um dieses Risiko zu verringern, müssen der Zugang, die Bezahlbarkeit und die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessert werden.
Länder wie die Elfenbeinküste und Ghana verdienen Millionen von Dollar mit dem Export von Kakaobohnen in Länder wie die Schweiz. Sollten ihre Regierungen und Kakaobehörden nicht auch die Verantwortung für die Bekämpfung der Kinderarbeit übernehmen?
Gemeinsame Verantwortung bedeutet, dass alle Beteiligten an einer Strategie arbeiten, um das Problem der Kinderarbeit wirksam anzugehen, einschliesslich der Behörden.
Den Regierungen der produzierenden Länder kommt eine Schlüsselrolle zu, wenn es darum geht, ein Umfeld zu schaffen, das Kindern den Zugang zu Bildung ermöglicht. Etwa durch die Förderung der Geburtenregistrierung, die Ausbildung von Lehrpersonen und die Festlegung von Lehrplänen.
Die Schweiz ist seit 1972 Mitglied des Internationalen Kakao-Übereinkommens. Dieses hat zum Ziel, den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen produzierenden und konsumierenden Ländern zu fördern. Was kann die Schweizer Regierung tun, um Kinderarbeit in einem ihrer strategisch wichtigsten Wirtschaftssektoren zu bekämpfen?
Die am 1. Januar 2022 in Kraft getretene Schweizer Verordnung über Wirtschaft und Menschenrechte (WRV) definiert explizit die Erwartungen an Unternehmen, die in Lieferketten tätig sind, in denen ein Risiko für Kinderarbeit besteht.
Schweizer Unternehmen, die Geschäfte mit einem hohen Risiko von Kinderarbeit tätigen – wie zum Beispiel Unternehmen im Kakaosektor –, sind verpflichtet, eine umfassende menschenrechtliche Sorgfaltsprüfung durchzuführen. Das bedeutet, die Rückverfolgbarkeit der Lieferkette sicherzustellen und Schritte zur Identifizierung, Eindämmung und Beseitigung von Kinderarbeit festzulegen.
Die ersten Berichte der Unternehmen nach dieser neuen Gesetzgebung sind dieses Jahr für 2023 fällig. Unternehmen, die nicht berichten oder falsche Angaben machen, müssen mit einer Busse von bis zu 100’000 Franken rechnen.
Über die Gesetzgebung hinaus könnte die Schweizer Regierung die Abschaffung der Kinderarbeit vorantreiben, indem sie direkt mit den Regierungen der beiden wichtigsten Kakaoanbauländer Ghana und Elfenbeinküste zusammenarbeitet.
Sie könnten ihre kollektive Überzeugungskraft nutzen, um die wichtigsten Akteure der Kakaoindustrie zusammenzubringen und bei der Entwicklung und Koordinierung von länderspezifischen Ansätzen zu helfen, die Kinderarbeit in Hochrisikoregionen umfassend angehen.
Die Schweiz repräsentiert die Schokoladeindustrie wie kein anderes Land der Welt. Die Schweizer Regierung sollte eine Vorreiterrolle bei innovativen Bemühungen zur Bekämpfung von Kinderarbeit in der Kakaoversorgungskette übernehmen.
Editiert von Virginie Mangin/gw, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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