EU greift bei den Lieferketten hart durch ‒ was das für die Schweiz bedeutet
Das Europäische Parlament hat neue Gesetze verabschiedet, um Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen in globalen Lieferketten zur Verantwortung zu ziehen. Das hat auch weitreichende Auswirkungen auf die grössten Unternehmen der Schweiz.
Nach Jahren der Debatte hat das Europäische Parlament zwei neuen Gesetzen zugestimmt, die Unternehmen verpflichten, gegen Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten vorzugehen.
Am 23. April gab es grünes Licht für VorschriftenExterner Link, die die Ausfuhr und Einfuhr von Produkten aus der EU verbieten, wenn sie in Zwangsarbeit hergestellt wurden.
Einen Tag später verabschiedeten die Abgeordneten weitreichende VorschriftenExterner Link. Diese verpflichten die Unternehmen, Menschenrechts- und Umweltrisiken nicht nur zu erkennen, sondern auch Massnahmen zu ergreifen, um sie zu beseitigen. Bei Unterlassung sind sie in der EU schadenersatzpflichtig.
Beide Gesetze stellen eine Abkehr von der bisherigen Praxis der Aufsichtsbehörden dar. Lange habe die Politik bei Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten von Unternehmen die Hände in den Schoss gelegt, sagt Nicolas Bueno. Der Professor für Menschenrechte an der UniDistance Suisse verfolgt den EU-Prozess schon seit Jahren.
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«Die Tatsache, dass diese beiden Gesetze gerade jetzt verabschiedet wurden, ist ein Zeichen. Und zwar dafür, dass die Öffentlichkeit in Europa zunehmend gewillt ist, das Verhalten globaler Konzerne zu regulieren, die jahrelang von einer Rechtslücke profitiert haben», so Bueno.
«Sie werden nun für Schäden, die sie im Ausland verursachen, zur Rechenschaft gezogen.»
Die Unternehmen haben lange Zeit behauptet, Selbstregulierung und freiwillige Massnahmen seien ausreichend.
Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten sind jedoch nach wie vor allgegenwärtig. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätztExterner Link, dass 17,3 Millionen Menschen in der Privatwirtschaft gegen ihren Willen in einer Reihe von Sektoren wie Landwirtschaft, Fischerei und Bauwesen arbeiten müssen.
Gemäs der IAO ist Zwangsarbeit jede Arbeit oder Dienstleistung, die eine Person unter Androhung einer Strafe verrichtet und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.
Ein Mitte März veröffentlichter ILO-BerichtExterner Link geht davon aus, dass durch Zwangsarbeit in der Privatwirtschaft jährlich rund 236 Milliarden Dollar (216 Milliarden Franken) an illegalen Gewinnen erzielt werden.
Zu Beginn dieses Jahres deckte eine UntersuchungExterner Link des öffentlich-rechtlichen Schweizer Fernsehens SRF auf, dass Kinder auf Kakaoplantagen in Ghana arbeiten, die den Schweizer Schokoladenhersteller Lindt & Sprüngli beliefern. Und dies trotz der Versprechen und Programme des Unternehmens, dies zu verhindern.
Was das für die Schweiz bedeutet
Obwohl die Schweiz nicht Mitglied der EU ist, werden Schweizer Unternehmen, die in der EU Geschäfte machen, von den Gesetzen betroffen sein. Die EU macht 58% des Schweizer HandelsvolumensExterner Link aus und ist damit der grösste Handelspartner des Landes.
Im Rahmen des EU-Zwangsarbeitsgesetzes werden die nationalen Behörden in den 27 Mitgliedstaaten verdächtige Waren, Lieferketten und Hersteller untersuchen.
Produkte aus Zwangsarbeit dürfen in der EU nicht mehr verkauft und an den EU-Grenzen abgefangen werden. Dies gilt auch für Produkte, die über Commerce-Seiten wie Temu und Amazon verkauft werden.
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Die USA haben 2021 ein ähnliches Gesetz verabschiedet. Dieses zielte vor allem auf Produkte aus China ab, die von Zwangsarbeiter:innen in der Region Xinjiang hergestellt wurden. EU-Parlamentarier:innen sagten, das EU-Gesetz enthalte eine ganze Liste von Hochrisikogebieten und -sektoren.
Dieses Gesetz wird spürbare Auswirkungen auf Schweizer Unternehmen haben, sagt Gabi Sonderegger. Die Forscherin am Zentrum für Entwicklung und Umwelt der Universität Bern arbeitet gerade an einem ForschungsprojektExterner Link über zwangsarbeitsfreie Lieferketten.
«Schweizer Unternehmen müssen proaktiv Massnahmen ergreifen, um die Einhaltung der Vorschriften zu gewährleisten. Dies mit dem Ziel, nicht mit den Auswirkungen des Gesetzes konfrontiert zu werden und ihren Zugang zum EU-Markt aufrechterhalten zu können», sagt sie gegenüber SWI per E-Mail.
Das andere Gesetz, die so genannte Corporate Sustainability Due Diligence Directive, gilt für Unternehmen mit 1’000 oder mehr Mitarbeitenden und einem Umsatz von mindestens 450 Millionen Euro (440 Millionen Schweizer Franken) in der EU.
Das bedeutet, dass grosse Unternehmen sowohl innerhalb als auch ausserhalb der EU unter die Richtlinie fallen. Schweizer Unternehmen können auch indirekt betroffen sein, wenn sie in der Wertschöpfungskette von Grossunternehmen stehen.
Wie eine Schweizer Lösung scheiterte
Im Jahr 2020 wurde in der Schweiz eine Initiative abgelehnt, die den Unternehmen ähnliche Verpflichtungen auferlegt hätte. Stattdessen wurde ein abgeschwächter Gegenvorschlag angenommen. Er verlangt von den Unternehmen lediglich, die Risiken von Kinderarbeit und der Beschaffung von Mineralien aus Konfliktgebieten in ihren Lieferketten zu ermitteln und zu melden.
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Das EU-Gesetz gehe viel weiter als das Schweizer Gesetz, so Bueno. «Das EU-Gesetz deckt nicht nur eine viel umfassendere Liste von Menschenrechtsfragen ab, sondern sanktioniert Unternehmen auch mit potenziell hohen Geldstrafen, wenn sie keine Massnahmen ergreifen, um die Risiken oder Menschenrechtsverletzungen anzugehen.» Das Schweizer Gesetz sanktioniere Unternehmen nur, wenn sie Risiken nicht meldeten.
Unternehmen sind zudem nach dem EU-Gesetz haftbar. Das bedeutet, dass jeder vor einem nationalen EU-Gericht gegen Unternehmen klagen kann.
Was wird das Gesetz bewirken?
Viele globale Unternehmen, darunter auch der Schweizer Lebensmittel- und Getränkehersteller Nestlé, haben sich im Prinzip für eine EU-weite Gesetzgebung ausgesprochen. In einer Erklärung auf der Unternehmenswebsite erklärt Nestlé, es unterstütze «angemessene Rechtsvorschriften», die darauf abzielen, Unternehmen zu ermutigen, ihre potenziellen Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt zu berücksichtigen.
Das Unternehmen fügt hinzu, dass jegliche Vorschriften darauf abzielen sollten, gleiche Bedingungen für alle Unternehmen zu schaffen, so dass für sie die gleichen Standards gelten. Dies würde einen stückweisen Ansatz vermeiden, bei dem einzelne Länder ihre eigenen Regeln erlassen.
Erfogreiche Intervention der Wirtschaft
Die Industrieverbände haben jedoch nach wie vor Bedenken. «Die neuen Bestimmungen sind sehr weitreichend und werden hohe Umsetzungskosten für die betroffenen Unternehmen mit sich bringen», sagte Denise Laufer vom Verband der multinationalen Unternehmen SwissHoldings.
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Die EU hat das Gesetz zur Sorgfaltspflicht im Hinblick auf die Bedenken schliesslich abgeschwächt. Zu Beginn des Jahres hatten einige grosse EU-Volkswirtschaften argumentiert, dass das Gesetz eine unangemessene Belastung für kleine Unternehmen darstelle, was die EU dazu veranlasste, die Geltung auf grosse Unternehmen zu beschränken.
Zum Ärger vieler Nichtregierungsorganisationen. «Das politische und wirtschaftliche Gerangel in letzter Minute hat das Gesetz verwässert und die potenziellen Auswirkungen beeinträchtigt“, heisst es in einer Erklärung der NGO Anti-Slavery International.
Wie viel Einfluss die Gesetze haben werden, hängt davon ab, wie sie umgesetzt werden, sagt Sibylle Baumgartner, die Direktorin der Züricher Beratungsfirma focusright. «Wenn bei einem Lieferanten Kinderarbeit festgestellt wird, geht es nicht nur darum, die Geschäftsbeziehung zu beenden. Die Unternehmen müssen Schritte unternehmen, um dem Kind zu helfen, in die Schule zurückzukehren, und Massnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass so etwas wieder passiert.»
Ein Kulturwandel als Ziel
Bueno sagt, die grösste Veränderung, die die Gesetze mit sich bringen werden, sei die neue Kultur, die sie in den Unternehmen schaffen werden. «Die Firmen werden versuchen müssen, Menschenrechtsverletzungen von vornherein zu verhindern.»
Der nächste Schritt ist die Annahme der Texte durch den Europäischen Rat am 23. Mai und ihre anschliessende Umsetzung in nationales Recht. Ob die Schweiz dem Beispiel der EU folgen wird, bleibt abzuwarten.
Schweizer Menschenrechtsaktivist:innen argumentieren, dass die EU-Entscheidung den Druck auf die Schweiz erhöht. Dies zumal die Schweiz bald das einzige Land in Europa sein wird, das die Unternehmen nicht zur Verantwortung zieht.
Die Koalition für Unternehmensgerechtigkeit gab bereits bekannt, dass sie eine Volksinitiative zu diesem Thema für eine landesweite Abstimmung vorbereite. Denn «auch die Schweiz muss ein Gesetz zur Unternehmensverantwortung verabschieden.»
Im vergangenen Dezember erklärte die Schweizer Regierung, sie werde analysieren, wie die EU-Mitgliedstaaten das Sorgfaltspflichtgesetz umsetzen. Dann wolle sie entscheiden, wie es weitergeht.
Editiert von Reto Gysi von Wartburg/ts, aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger
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