Fünf Wege, um den Medikamentenmangel zu bekämpfen
In vielen Ländern suchen die Behörden händeringend nach Lösungen für die Lieferengpässe bei Medikamenten. Wie vielversprechend sind sie?
Hat Ihnen in den letzten Jahren einmal ein Apotheker, eine Apothekerin gesagt, dass Ihr verschreibungspflichtiges Medikament nicht vorhanden ist? Falls nein, können Sie sich glücklich schätzen. In der Schweiz sind derzeit rund 700 Medikamente knappExterner Link, von Antibiotika bis zu Schmerzmitteln.
Damit ist die Schweiz nicht allein. Weltweit berichten zahlreiche Länder über Versorgungsengpässe bei Medikamenten.
Mancherorts hat der Mangel bereits gefährliche Auswirkungen: In Mexiko beispielsweise wurden mehrere Todesfälle gemeldet, nachdem Ärzt:innen aufgrund von Morphinmangel Patient:innen mehrere Dosen aus einem einzigen FläschchenExterner Link verabreichen mussten.
In Europa hat der Medikamentenmangel von 2000 bis 2018 um das 20-fache zugenommen. Mit der Pandemie, welche die Lieferketten durcheinanderbrachte, hat sich das Problem abermals verschärft. Medikamente fehlen nicht nur häufiger, sondern auch über längere Zeiträume.
«Wir klagen schon seit Jahren über Engpässe», sagt Ilaria Passarani, Leiterin des Zusammenschlusses der Apothekerinnen und Apotheker der Europäischen Union, der mehr als 400’000 Fachleute vertritt.
«Die Situation ist inzwischen so gravierend, dass auch Politiker:innen und Medien auf das Problem aufmerksam geworden sind.»
Die europäischen Gesundheitsbehörden debattieren über mögliche Lösungen. Darunter auch solche, die sich mit den eigentlichen Ursachen der Knappheit befassen – wie etwa den globalisierten Lieferketten. Auch in der Schweiz wächst der Druck, das Problem anzugehen.
Eine Koalition aus Schweizer Ärzt:innen, Apotheker:innen und Konsumentenschutzorganisationen hat im Oktober letzten Jahres die notwendigen 100’000 Unterschriften gesammelt für eine Volksinitiative zur medizinischen VersorgungssicherheitExterner Link.
Sie will den Bundesrat verpflichten, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, um Engpässe zu verhindern. Dazu soll er die Herstellung von Arzneimitteln im Inland fördern und sicherstellen, dass stets genügend Vorräte vorhanden sind.
Wie viel Hoffnung bieten die vorgeschlagenen Lösungen? Wir haben uns fünf Optionen angeschaut.
1. Bessere «Frühwarnsysteme» schaffen
Einer der einfachsten Wege im Umgang mit dem Medikamentenmangel ist, die Knappheit selbst in den Griff zu bekommen. Dazu braucht es Überwachungs- und Frühwarnsysteme.
Mit deren Hilfe wären Apotheken und Ärzt:innen in der Lage, Prognosen zu erstellen, Vorräte anzulegen und nach Alternativen zu suchen, bevor der Mangel die Patient:innen trifft.
Um die Warnungen über Medikamentenmangel innerhalb der EU zu bündeln und zu automatisieren, hat die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) eine Datenbank eingerichtet: Ende Januar ist die Europäische Plattform zur Überwachung von Arzneimittelengpässen (ESMP) online gegangenExterner Link.
Brasilien hat bereits 2022 die landesweite Überwachungssoftware «MonitoraAE»Externer Link eingeführt, die den Medikamentenmangel in Echtzeit dokumentiert.
Auch die Schweizer Behörden planen, die Meldestelle für lebenswichtige MedikamenteExterner Link zu modernisieren. Der Bundesrat hat die wirtschaftliche Landesversorgung beauftragt, die Heilmittelplattform in den kommenden Jahren zu einem Frühwarnsystem auszubauenExterner Link. Die Details dazu sind allerdings noch nicht bekannt.
Diese Massnahmen könnten den Behörden helfen, Engpässe schneller zu erkennen. Doch um die Situation in den Griff zu bekommen, brauche es mehr als das, sagt Valérie Junod, Professorin für Pharmarecht an den Universitäten Lausanne und Genf, die 2021 an einer Studie über ArzneimittelknappheitExterner Link mitgearbeitet hat.
Das Problem ist, dass es kein zentrales Management von Angebot und Nachfrage gebe, so Junod. Weder im Lokalen noch auf nationaler Ebene – und schon gar nicht weltweit.
«Jedes Spital, jede Apotheke sucht auf eigene Faust nach Lösungen», sagt Junod. «Ein Spital kann beschliessen, auf ein anderes Medikament umzusteigen. Aber was passiert, wenn das alle tun?»
Zudem mangle es an Transparenz seitens der Industrie, sagt Junod. Die Pharmaunternehmen geben keine Informationen heraus über Produktionsstandorte für bestimmte Medikamente und kommunizieren nicht, wenn es Schwachstellen gibt.
In der Folge sei häufig unklar, warum ein bestimmter Versorgungsengpass überhaupt entstanden ist. Das macht es für die Behörden schwierig, Risiken zu erkennen, Engpässe und deren Dauer vorherzusehen.
2. Alternativen erlauben
Eine weitere Möglichkeit wäre es, Apotheken und Ärzt:innen mehr Flexibilität dabei einzuräumen, alternative Medikamente oder Behandlungen anzubieten.
In einigen Ländern ist es Apotheker:innen gesetzlich verboten, eine kleinere Packung oder eine andere Verabreichungsform vorzuschlagen – zum Beispiel als Sirup statt als Pille.
Mögliche Lockerungen solcher Vorschriften werden derzeit in vielen Ländern diskutiert. In der Schweiz ist es für Apotheker:innen seit kurzem einfacher, Medikamente durch andere zu ersetzen oder im Ausland Alternativen aufzutreiben, wenn es zu Engpässen kommt.
Diskutiert wird auch, Medikamente auch nach Ablauf des Verfalldatums nicht direkt wegzuwerfen, sondern weiter zu verabreichen – wenn Studien zeigen, dass sie noch sicher sind.
Einige Länder, darunter die Schweiz, Japan und Südafrika, erlauben auch so genannte Magistralrezepturen: Gemeint sind Medikamente und Generika, welche die Apotheken selbst herstellen, wenn sie das Original nicht mehr auf Vorrat haben.
Europa geht hier noch einen Schritt weiter: Der Europarat hat dafür das Projekt European Drug Shortages Formulary (EDSForm)Externer Link ins Leben gerufen.
Es soll Apotheker:innen als Wegleitung dienen, wie sie bei Engpässen Arzneimittel selbst herstellen können, die zwar nicht zugelassen sind, aber denselben Wirkstoff wie das ursprüngliche Produkt enthalten.
Dies könnte vor allem gegen den Mangel von Generika helfen. Bei teureren und patentierten Arzneimitteln jedoch, etwa dem Medikament Wegovy zur Gewichtreduktion, ist die Situation komplizierter.
In den USA wird darüber debattiertExterner Link, ob man Apotheken erlauben sollte, Magistralrezepturen oder Kopien von Arzneimitteln herzustellen, wenn die Hersteller nicht liefern können.
Laut den US-GesundheitsbehördenExterner Link sei dies erlaubt, wenn es nicht «regelmässig oder in unangemessenen Mengen» geschehe. Die Pharmaunternehmen haben sich gegen eine solche Öffnung des Markts für mehr Arzneimittelhersteller gewehrt. Diese würden ihre Patente verletzen, argumentieren sie.
3. Den Markt attraktiver machen
Will man langfristig Lösungen für den Medikamentenmangel finden, muss man die zugrunde liegenden Ursachen angehen. Eine davon ist, dass der Markt für Generika, die den Grossteil der nicht vorrätigen Medikamente ausmachen, nicht attraktiv genug ist.
Einige Medikamente sind so billig, dass es sich für die Unternehmen nicht lohnt, sie zu produzieren. In der Folge gibt es für viele Arzneimittel und Wirkstoffe nur noch wenige Lieferanten, die deren Herstellung zudem häufig an billigere Standorte auslagern.
Seit 2022 soll es laut einer StudieExterner Link mindestens 18 Länder geben, die Arzneimittelherstellern finanzielle Anreize bieten, meist in der Form von Preiserhöhungen für patentfreie Arzneimittel. Brasilien etwa hat manche Medikamente für mindestens ein Jahr von Preisregulierungen ausgenommen.
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Warum dem Pharmaland Schweiz die Medikamente ausgehen
Kleine Märkte wie die Schweiz stehen vor grösseren Herausforderungen. Hier können höhere Preise die geringen Mengen nicht ausgleichen. Im Parlament wird deswegen diskutiert, Ausnahmen bei der Dreijahresfrist für die Überprüfung der Arzneimittelpreise zuzulassen, in der die Preise normalerweise gesenkt werden.
Es gibt auch Bestrebungen, einen QR-Code auf den Packungen einzuführen, anstatt gedruckte Anweisungen in drei Sprachen. Damit könnte man die Kosten senken und den Anreiz für die Hersteller erhöhen, die Medikamente weiter zu produzieren.
Solche Massnahmen bleiben nicht ohne Kritik. Preiserhöhungen in einer Zeit steigender Gesundheitskosten sind politisch heikel. Sie können für die Patient:innen zur Belastung werden.
Ausserdem bedeuten die Preiserhöhungen nicht automatisch, dass die Hersteller von Arzneimitteln auch verpflichtet sind, die Nachfrage zu decken.
Dass die Behörden kaum Einblick in die Arzneimittelpreise und die Rentabilität haben, macht die Situation noch komplizierter. Daher ist es für sie schwierig abzuschätzen, bei welchem Preis die Hersteller die Produktion oder Lieferung eines Arzneimittels einstellen könnten.
4. Die Produktion von billigen Generika wieder aufnehmen
Eine weitere Lösung, die derzeit oft diskutiert wird, ist es, die Produktion von Medikamenten zurück ins Inland zu holen. Derzeit kommen bis zu 80% der in der EU verkauften Wirkstoffe und etwa 40% der Arzneimittel aus China oder Indien.
Die Lieferketten sind anfällig für Unterbrechungen. Zum Beispiel, wenn neue Ausfuhrbeschränkungen verabschiedet werden oder wenn es zu Unterbrüchen in der Produktion kommt.
Viele Länder suchen nach Wegen, um die lokale Produktion anzukurbeln, ohne die Kosten für die Hersteller zu erhöhen.
Im Sommer 2023 kündigte die französische Regierung anExterner Link, dass sie die Produktion von 50 lebenswichtigen Medikamenten wieder aufnehmen wolle, die bisher von Importen abhängig waren.
Mit öffentlichen Geldern in Höhe von 160 Millionen Euro (150 Millionen Franken) sollen acht neue Produktionslinien unterstützt werden, etwa für das Antibiotikum Amoxycillin, das vom britischen Pharmariesen GSK im Nordwesten Frankreichs hergestellt wird, sowie für Schmerz- und Krebsmedikamente.
Russland und KasachstanExterner Link haben es sich zum Ziel gesetzt, bis 2025 50% der Arzneimittel im eigenen Land zu produzieren. Saudi-Arabien will den Anteil lokal hergestellter Medikamente bis 2030 auf 80% erhöhen.
Die österreichische Regierung hat dem Basler Generikahersteller Sandoz einen finanziellen Zuschuss in der Höhe von 28,8 Millionen Euro (27 Millionen Franken) gewährt, um die Herstellung von Amoxicillin in Österreich zu ermöglichen.
Auch die brasilianische Regierung hat staatlichen Pharmaunternehmen wie Fiocruz Finanzmittel zur Verfügung gestellt, damit sie wichtige Arzneimittel im Inland herstellen können.
Andere Länder wie etwa die Schweiz halten sich mit direkten Subventionen und Beteiligungen an Unternehmen zurück. Stattdessen versuchen sie, Firmen mit hochqualifizierten Arbeitskräften und Steuervergünstigungen anzulocken.
Die 1,5 Milliarden Franken hohe Investition des US-Unternehmens Biogen in eine Biologika-Fabrik in der Schweiz wurde beispielsweise durch Steueranreize und lokale Investitionen in nachhaltige Energiequellen begünstigt.
Expert:innen bezweifeln jedoch, dass die Verlagerung der Produktion ins Inland reicht, um die Engpässe zu beseitigen. «Es wird die Komplexität der Lieferketten und die Risiken im Zusammenhang mit den langen Transporten verringern», sagt Petra Dörr, Direktorin des Europäischen Direktorats für die Qualität von Arzneimitteln (EDQM), gegenüber SWI swissinfo.ch.
Am wichtigsten sei jedoch die Diversifizierung der Lieferanten. Vor allem bei jenen Wirkstoffen, die bisher nur von wenigen Firmen hergestellt würden. «So kann, wenn eine Quelle ausfällt, eine andere die Nachfrage decken.»
5. Sichere Lieferketten für künftige Arzneimittel aufbauen
In manchen Ländern haben die oben beschriebenen Massnahmen bereits dazu beigetragen, die akute Knappheit zu lindern.
Die grössere Frage ist jedoch, wie man Engpässe auch bei Arzneimitteln vermeiden kann, die neu auf den Markt kommen. Um die Vorhersage von Angebot und Nachfrage zu verbessern, planen die Hersteller, fortschrittliche Produktionssysteme und künstliche Intelligenz (KI)Externer Link einzusetzen. Damit könnten sie Unterbrechungen reduzieren und die Produktionskosten senken.
Doch die Gefahr besteht, dass die Arzneimittelhersteller nach Ablauf des Patentschutzes einfach wieder zu denselben kostengünstigen Lieferkettenstrategien zurückkehren, die zu den Engpässen geführt haben.
Deswegen sollten sich die Behörden nicht nur auf die freiwilligen Bemühungen der Unternehmen verlassen, sagt Rechtsprofessor Junod.
Stattdessen sollten Länder Lieferverpflichtungen einführen und Strafen verhängen, wenn diese nicht eingehalten würden. Die Versorgungssicherheit müsse zu einem Kriterium bei der Zulassung eines Medikaments gemacht werden, schrieb Junod 2022 in einem Artikel über LieferengpässeExterner Link.
Bussgelder im Fall eines Verstosses sollten die Schwere und die Auswirkungen von Engpässen auf die Patient:innen berücksichtigen.
Einige Länder haben bereits Massnahmen ergriffen: Die USA und Frankreich haben Bussen eingeführt für Unternehmen, die Lieferengpässe nicht gemeldet haben.
In Indien hat die Regierung Pharmaunternehmen von der Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen ausgeschlossen, wenn diese es versäumt haben, die Versorgung aufrechtzuerhalten, oder wenn sie minderwertige Medikamente herstellten.
In der Schweiz erklärte der BundesratExterner Link im vergangenen August, dass er prüfe, «ob die Vergütung bzw. Zulassung noch stärker an das Kriterium geknüpft werden kann, dass die Versorgung mit diesem Medikament gewährleistet ist».
Ein positives Signal: «Selbst in einem kleinen Land können Drohungen und Anreize Unternehmen dazu bringen, sich anders zu verhalten», sagt Junod.
Editiert von Virginie Mangin / ds, Übertragung aus dem Englischen: Meret Michel / raf
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