Hoffnung und Hype rund um die Zulassung von neuem Alzheimer-Medikament
Die Schweizer Arzneimittelbehörde Swissmedic wird voraussichtlich bis Ende Jahr über die erste Zulassung eines neuen Alzheimer-Medikaments seit zwei Jahrzehnten entscheiden. Das wird alles andere als einfach sein.
Jahrzehntelang gab die Alzheimer-Krankheit den Forscher:innen Rätsel auf. Pharmaunternehmen investierten Milliarden in die Erforschung der Krankheit, die langsam Gedächtnis und Denkvermögen zerstört. Doch seit mehr als 20 Jahren wurde kein neues Medikament mehr zugelassen.
Dies änderte sich im Juli 2023, als die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA den Wirkstoff Lecanemab, der unter dem Namen Leqembi vermarktet wird, für die Behandlung von Alzheimer im Frühstadium zuliess.
Mehrere andere Regierungen folgten, darunter Japan, China und Südkorea. Es ist das erste Medikament, das sowohl die Symptome des Gedächtnisverlusts als auch die vermutete Ursache der Krankheit bekämpft.
«Das vergangene Jahr war ein grosser Schritt vorwärts für die Alzheimer-Forschung», sagt Andrea Pfeifer, Gründerin und Geschäftsführerin von AC Immune, einem Biotechnologie-Unternehmen mit Sitz in Lausanne, das seit über 20 Jahren an Alzheimer-Therapien arbeitet.
«Es waren so lange keine neuen Medikamente auf den Markt gekommen, dass die Menschen nicht mehr daran glaubten, dass eine Behandlung der Krankheit überhaupt möglich ist.»
Die Euphorie in Europa währte nicht lange. Im Juli 2024 empfahl der Prüfungsausschuss der Europäischen Arzneimittel-Agentur, das Medikament nicht zuzulassen. Er argumentierte, die Risiken würden den Nutzen überwiegen und führte Sicherheitsbedenken wie Schwellungen und Blutungen im Gehirn an.
Einen Monat später genehmigte die britische Zulassungsbehörde Lecanemab, aber das National Institute for Health and Care Excellence, das die Kosteneffizienz von Arzneimitteln bewertet, empfahl keine Kostenerstattung.
Es argumentierte, der Preis, der in den USA bei 26’500 US-Dollar pro Jahr liegt (und in Grossbritannien vertraulich ist), sei im Verhältnis zum Nutzen zu hoch.
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Alzheimer-Patient:innen in der Schweiz warten nun gespannt auf einen Entscheid der Schweizer Zulassungsbehörde Swissmedic, der bis Ende 2024 erwartet wird.
Bei so vielen unterschiedlichen Meinungen ist der Entscheid alles andere als einfach: Die Zulassungsbehörde muss Nutzen und Risiken eines Medikaments gegen eine lebensbedrohliche Krankheit abwägen, die noch immer nicht vollständig verstanden wird und für die es seit Jahrzehnten keinen Durchbruch gegeben hat.
Die Alzheimer-Krankheit ist weltweit die häufigste Ursache von Demenz. Demenz ist ein Oberbegriff für eine Reihe von Symptomen, welche die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigen, während die Alzheimer-Krankheit eine spezifische Form der Demenz ist, die durch fortschreitenden Gedächtnisverlust und kognitiven Verfall gekennzeichnet ist.
Weltweit leiden über 55 Millionen Menschen an Demenz, bis zu 70% davon an der Alzheimer-Krankheit.
In der Schweiz sind rund 156’900 Menschen an Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz erkrankt, bis 2050 werden es laut der Organisation Alzheimer Schweiz voraussichtlich 315’400 sein.
Die Krankheit zerstört nach und nach das Gedächtnis, das Denkvermögen und schliesslich die Fähigkeit, einfache Tätigkeiten auszuführen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass die Alzheimer-Krankheit die Gesundheitssysteme jedes Jahr rund 1,3 Billionen US-Dollar kostet.
Viele Unbekannte
Die unterschiedlichen Ansichten über Lecanemab zeigen, wie schwierig es ist, bei dieser Krankheit Fortschritte zu erzielen.
Bis heute gibt es keinen zugelassenen Bluttest, mit dem sich feststellen lässt, ob jemand an Alzheimer erkrankt ist und wie weit die Krankheit fortgeschritten ist. Auch gibt es keine schlüssigen Beweise, was die Krankheit tatsächlich verursacht.
Medikamente können bisher nur die Symptome der Krankheit wie Gedächtnisverlust lindern. Zu diesem Zeitpunkt ist es jedoch zu spät, etwas gegen die Krankheit zu unternehmen, da der Gedächtnisverlust nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
«Die Krankheit muss frühzeitig behandelt werden, also bevor das Gehirn geschädigt wird», sagt Pfeifer. Dazu «müssen wir 15 bis 20 Jahre vor dem Auftreten der Symptome herausfinden, ob eine Person gefährdet ist, an Alzheimer zu erkranken.»
Aus diesem Grund beschäftigen sich die Arzneimittelhersteller intensiv mit den Vorgängen im Gehirn von Alzheimer-Patient:innen.
Hirnscans zeigen ungewöhnlich hohe Werte des Proteins Amyloid-beta, das sich im Gehirn zu Plaques ablagert und die Zellfunktion stört. Lecanemab gehört zu einer neuen Gruppe von Medikamenten, die diese Plaques angreifen.
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Die Menge der Plaques im Gehirn zu messen, reicht jedoch nicht aus, um zu sagen, ob die Medikamente den Gedächtnisverlust aufhalten.
Manche Menschen mit Plaques erkranken nie an Demenz. Auf der anderen Seite gibt es Medikamente, die zwar die Plaques reduzieren, aber keine Veränderung des Gedächtnisverlusts oder der Kognition bewirken.
Lecanemab, das von der amerikanischen Firma Biogen und der japanischen Firma Eisai vertrieben wird, ist das erste Medikament, das nicht nur die Plaques im Gehirn reduziert, sondern auch das Fortschreiten der Symptome verlangsamt.
Die Hauptstudie mit mehr als 1700 Alzheimer-Patient:innen im Frühstadium zeigte, dass das Medikament den kognitiven Verfall innerhalb von 18 Monaten im Vergleich zu einem Placebo um 27% verlangsamte.
Während die Forscher:innen dies als Wendepunkt für die Krankheit feierten, war es für die Zulassungsbehörde schwierig, die Bedeutung für die Patient:innen zu interpretieren.
Manche Expert:innen gehen davon aus, dass die Demenz um fünf Monate hinausgezögert werden könnte. Die bescheidenen Effekte könnten von Patient:innen oder Ärzt:innen gar nicht bemerkt werden, sagen einige Expert:innenExterner Link.
«In einem frühen Krankheitsstadium reduziert der Wirkstoff die schädlichen Eiweissablagerungen im Gehirn und verzögert so das Fortschreiten der Krankheit», schreibt Jacqueline Wettstein, Mediensprecherin von Alzheimer Schweiz, per E-Mail. «Lecanemab kann Alzheimer aber weder heilen noch stoppen.»
Der Nutzen müsse auch gegen die Nebenwirkungen abgewogen werden, darunter Hirnschwellungen oder Mikroblutungen, die zu leichten Kopfschmerzen und in einigen Fällen zum Tod führen können, so die Studie.
Als die FDA Lecanemab zuliess, erklärte sie, das Medikament sei sicher und habe einen klinisch bedeutsamen Nutzen.
Die Europäische Arzneimittel-Agentur kam jedoch zu einem anderen Schluss. Sie argumentierte, dass «der Nutzen der Behandlung nicht gross genug ist, um die mit Leqembi (Lecanemab) verbundenen Risiken zu überwiegen».
Selbst wenn die Arzneimittelbehörden das Medikament zugelassen haben, weigern sich einige Krankenkassen, wie zum Beispiel in Grossbritannien, die Kosten zu übernehmen, da das Medikament für den geringen Nutzen zu teuer sei.
In den USA kostet das Medikament 26’500 US-Dollar pro Jahr – ohne die Kosten für die zweiwöchentlichen Infusionen und die Nachsorge einzurechnen.
Vielversprechende Durchbrüche
Antonella Santuccione Chadha, die als Neurowissenschaftlerin an der Entwicklung von Alzheimer-Medikamenten gearbeitet hat und heute die in Zürich ansässige Women’s Brain Foundation leitet, sagt, das Nutzen-Risiko-Verhältnis müsse im grösseren Kontext der Alzheimer-Forschung gesehen werden.
«Ich verstehe, dass die mit diesen Medikamenten verbundenen Risiken im Vergleich zum Nutzen hoch sind», sagt Chadha. «Aber das ist vielleicht der Preis, den wir zahlen müssen, um die Erforschung dieser verheerenden unheilbaren Krankheit voranzutreiben.»
In den letzten zehn Jahren wurden mehr als 200 Forschungsprogramme entweder eingestellt oder scheiterten in klinischen Studien in späten Stadien, in denen Medikamente an einer grossen Zahl von Menschen getestet werden, so die US-amerikanische GesundheitsforschungsfirmaExterner Link IQVIA.
IQVIA schätzt die Gesamtkosten für die Entwicklung eines Alzheimer-Medikaments auf etwa 5,6 Milliarden US-Dollar, verglichen mit 793,6 Millionen US-Dollar für ein Krebsmedikament.
Pfeifer sagt, die US-Zulassung von Lecanemab habe Unternehmen wie ihrem die Botschaft vermittelt, dass sich die Investition lohne. Schätzungen zufolge wird das Medikament bis 2024 weltweit 361 Millionen US-Dollar generierenExterner Link.
«Diese neuen Medikamente sind vielleicht keine perfekten Heilmittel, aber sie verlangsamen bei vielen Patient:innen den kognitiven Verfall», sagt Pfeifer.
«Wenn Medikamente, die zumindest einigermassen wirksam sind, nicht zugelassen werden, wer wird dann in die Alzheimer-Forschung investieren, um die nächste Generation von Medikamenten auf den Markt zu bringen?», fragt Pfeifer.
Ein Jahr nach der Zulassung von Lecanemab gab die FDA grünes Licht für ein zweites Medikament, Donanemab, das von der US-Firma Eli Lilly unter dem Namen Kisunla vermarktet wird. Die Arzneimittelbehörden in Grossbritannien, Europa und Australien prüfen das Medikament noch.
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Auf der US-Plattform Clinicaltrials.gov sind rund 160 klinische Studien registriert, in denen 127 Medikamente gegen Alzheimer untersucht werden. Derzeit wird an Bluttests und neuen Medikamenten geforscht, die Entzündungen und andere Proteine bekämpfen, die neben Amyloid-beta für die Krankheit verantwortlich sind.
Das in Lausanne ansässige Biotechnologie-Unternehmen AC Immune arbeitet seit 20 Jahren an diagnostischen Tests und Immuntherapien, die sich die Fähigkeit von Immunzellen zunutze machen, Plaques aus dem Gehirn zu entfernen.
Das Unternehmen hat derzeit fünf Medikamente in der klinischen Erprobung und untersucht auch andere mögliche Ursachen der Krankheit.
«Jede Studie verbessert unser Verständnis der Krankheit. Aufbauend auf diesen Erfolgen wird die nächste Generation noch schneller verfügbar sein und einen grösseren Nutzen und eine verbesserte Sicherheit bieten», so Pfeifer.
Im Mai 2024 haben das japanische Unternehmen Takeda und AC Immune einen Vertrag über 100 Millionen US-Dollar abgeschlossen – im Voraus. Im Erfolgsfall winken weitere Milliarden.
Takeda erhält im Rahmen der Vereinbarung eine exklusive Option auf die weltweiten Lizenzrechte für eine seiner Immuntherapien in der klinischen Erprobung.
Zeit für eine Therapie
Noch ist unklar, wie Swissmedic über Lecanemab entscheiden wird. Eisai hat bei Swissmedic im Mai 2023 ein Zulassungsgesuch für das Medikament eingereicht.
Ein Swissmedic-Sprecher erklärte auf Anfrage von SWI swissinfo.ch, die Behörde könne keine Angaben zu einem ausstehenden Entscheid machen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Zulassungsbehörde mehr als ein Jahr für einen Entscheid benötigt.
Da die Schweiz nicht Mitglied der EU ist, entscheidet Swissmedic unabhängig von der Europäischen Arzneimittel-Agentur. Sie arbeitet mit Expert:innen zusammen, um zu prüfen, ob das Produkt «die Anforderungen an Wirksamkeit, Qualität und Sicherheit erfüllt».
Swissmedic hat im vergangenen Jahr rund 84% (41 neue Arzneimittel) der Zulassungsgesuche für neue Arzneimittel bewilligt. Dies entspricht dem Anteil, den die amerikanische FDA im vergangenen Jahr bewilligtExterner Link hat (84%, 55 neue Arzneimittel).
Auch wenn der Nutzen von Lecanemab gering ist, hoffen Alzheimer-Patient:innen in der Schweiz auf einen positiven Entscheid. Zurzeit kann das Medikament in der Schweiz nur auf eigene Kosten importiert werden.
«Nach jahrelanger Forschung haben wir endlich ein Medikament auf der Zielgeraden, das die Krankheit zumindest in einem frühen Stadium verzögern kann», sagt Wettstein.
Lecanemab kann Alzheimer nicht aufhalten. «Aber wenn es in einem frühen Stadium der Krankheit verabreicht wird, kann es den Menschen mit dieser Krankheit mehr Zeit verschaffen.»
Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger
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