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Ist die Schweiz bei der Innovation wirklich top?

Marc Pollefeys, Professor für Informatik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich und Leiter des Mixed-Reality- und KI-Labors von Microsoft in Zürich, trägt eine Mixed-Reality-Brille und posiert neben Spot, dem vierbeinigen Roboter von Boston Dynamics.
Keystone / Salvatore Di Nolfi

Die Schweiz steht in Innovationsranglisten regelmässig ganz oben, noch vor den Technologienationen USA und China. Woher kommt dieser Erfolg?

Wer auf Google oder Bing “innovativstes Land” in die Suche eingibt, stösst unweigerlich auf die Schweiz. Zum 14. Mal in Folge ist die Schweiz gemäss Global Innovation IndexExterner Link das innovativste Land der Welt. Der neuste Ländervergleich wurde Ende September von der UNO-Organisation für geistiges Eigentum (WIPO) in Genf veröffentlicht. Der 2007 von der Pariser Wirtschaftshochschule INSEAD ins Leben gerufene Index ist in kurzer Zeit zu einer Visitenkarte für Spitzenreiter wie die Schweiz geworden.

Der Global Innovation Index stützt sich bei der Definition von “Innovation” auf das Oslo Manual, das von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erarbeitet wurde. In der Fassung von 2018 wird Innovation definiert als ein “neues oder verbessertes Produkt bzw. ein neuer oder verbesserter Prozess (oder eine Kombination der beiden), das bzw. der sich von den bisherigen Produkten bzw. Prozessen der Einheit merklich unterscheidet und für potenzielle Nutzer verfügbar gemacht wurde (Produkt) bzw. in der Einheit eingeführt wurde (Prozess).”

“Bei praktisch allen Indikatoren schneidet die Schweiz sehr gut ab”, meint Sacha Wunsch-Vincent, bei der Abteilung Ökonomie und Datenanalyse der WIPO zuständig für den Global Innovation Index (GII). “Unsere Daten, unsere Erfahrung mit Innovation in der Schweiz und die jüngsten Entwicklungen legen nahe, dass die Schweizer Innovationsleistung in nächster Zeit nicht abnehmen wird.”

Nicht nur beim GII steht die Schweiz gut da. Auch bei der European Innovation ScorecardExterner Link 2024 belegt sie den Spitzenplatz.

Zweifellos ist die Schweiz ein Zentrum für Forschung, hochqualifizierte Arbeitskräfte und modernste Fertigungsmethoden, insbesondere in den Bereichen Biotech, Robotik und Maschinenbau. Dies belegt auch der hohe Anteil an PersonenExterner Link mit einem Doktortitel (3%).

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Aber ist die helvetische Alpenrepublik wirklich innovativer als Technologiegiganten wie die USA oder China, wie es der globale Index besagt? Und wie schneidet die Schweiz gegenüber kleineren Ländern wie Israel ab, das oft als “Start-up-Nationˮ bezeichnet wird, oder Estland, das als digitalstes Land der Welt gilt?

Um herauszufinden, warum die Schweiz gegenüber allen anderen Ländern regelmässig die Nase vorn hat, haben wir den Index genauer unter die Lupe genommen.

Guter Allrounder

Der Global Innovation Index bewertet 133 Länder anhand von 80 Indikatoren in zwei Kategorien. Die erste Kategorie beurteilt die Voraussetzungen (“Input”), also Innovationstreiber wie das regulatorische Umfeld, Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E), die Anzahl Universitätsabgänger:innen in Wissenschaft und Technik sowie die Verfügbarkeit von Risikokapital.

Die zweite Kategorie untersucht die Leistung (“Output”) wie Patente, die Anzahl Einhörner (Firmen mit einer Bewertung über USD 1 Mrd.) und Kreativität, z.B. anhand der Anzahl veröffentlichter Spielfilme oder mobiler Apps.

Dabei zeigt sich: Die Schweiz ist wie die beiden anderen der Top 3 (Schweden und USA) ein guter Allrounder. Sie liefert hohe Werte sowohl bei den Voraussetzungen als auch bei der Leistung und schneidet bei vielen Indikatoren gut oder sogar am besten ab.

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Länder wie Israel oder Estland haben hier das Nachsehen. Sie mögen zwar in Bezug auf Einhörner, Risikokapital und spezifische IT-Indikatoren ganz oben stehen, bei den meisten anderen Aspekten aber schneiden sie deutlich schlechter ab.

Grosse Länder wie China oder die USA haben zwar viel stärker diversifizierte Branchen oder deutlich grössere nationale Märkte, die regulatorischen Rahmenbedingungen sind aber in der Schweiz klar besser.

Sicherer Hafen für ausländische Firmen

Warum die Schweiz in der Forschung brilliert, zeigt ein genauerer Blick auf die Indikatoren. Einige der renommiertesten Hochschulen Europas befinden sich in der Schweiz, wo die Ausgaben für Forschung und Entwicklung als Anteil am BIP höher liegen als im OECD-Durchschnitt. 2023 wurden in der Schweiz CHF 24,6 Mrd. in F&E investiert, was ca. 3,3% des BIP entspricht. Zum Vergleich: China hat letztes Jahr seine F&E-Ausgaben markant auf USD 458 Mrd. (CHF 400 Mrd.) erhöht, womit der Anteil am BIP von 1% im Jahr 2000 auf nun 2,5% anstieg.

Eine besondere Stärke der Schweiz sind die zahlreichen Forschungspartnerschaften zwischen Hochschulen und der Industrie. Kein anderes Land kann hier der Schweiz das Wasser reichen.

InnoSuisse, die staatlich finanzierte Agentur für Innovationsförderung, bietet finanzielle Unterstützung für Forschungsprojekte von Hochschulen mit einem Umsetzungspartner in der Industrie. “Das funktioniert, weil die Hochschulen über den neusten Wissensstand bei Technologien verfügen, die in der Privatwirtschaft nachgefragt werden”, erklärt Martin Wörter, Professor für Innovationsökonomie an der ETH Zürich.

Wie in Europa üblich kommen auch in der Schweiz zwei Drittel der F&E-Ausgaben aus der Industrie. “Was die Schweiz besonders macht, ist die Tatsache, dass ein grosser Teil dieser F&E-Ausgaben von ausländischen Firmen stammt”, so Sacha Wunsch-Vincent. Neben grossen Schweizer Unternehmen wie Nestlé, Roche und Novartis, die alle in F&E investieren, betreiben auch zahlreiche globale Unternehmen wie Google und Philip Morris International Forschungszentren in der Schweiz.

“Es kommt selten vor, dass grössere F&E-Aktivitäten von einem Partner in einem anderen Land betreut werden”, meint Wunsch-Vincent und erklärt: “Die Schweiz ist ein sicherer Hafen. Man fühlt sich hier willkommen, und das Vertrauen in das Ökosystem Innovation ist gross”. Die Kombination von niedrigen Steuern und einer eher liberalen Regulierung ist für internationale Unternehmen schon länger hochattraktiv.

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Patente und Produktion

Die Spitzenposition der Schweiz erklärt sich auch dadurch, dass hierzulande geistigem Eigentum eine grosse Bedeutung zukommt. Der Index beinhaltet mindestens fünf Indikatoren zu Patenten oder Handelsmarken.

Kein Land meldet international pro Kopf und im Verhältnis zum BIP mehr Patente an als die Schweiz. Hauptverantwortlich dafür ist die biopharmazeutische Industrie der Schweiz, die sich stark auf Wirkstoffpatente abstützt. Ungefähr 80% der Schweizer ExporteExterner Link gehen in irgendeiner Form auf geistiges Eigentum zurück.

In der Schweiz dominieren Hightechbranchen wie Maschinenbau, Medizinaltechnik und Biotech die Produktion und den Export. Sie haben einen wesentlichen Anteil daran, dass die Schweiz so gut abschneidet.

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Länder wie die USA und China übertreffen die Schweiz in Bezug auf Anzahl und Grösse von Einhörnern allerdings bei weitem. In der Schweiz werden zwar jedes Jahr mindestens 500 neue Start-up-Unternehmen gegründet, und einige wenige schaffen es auch zum Einhorn. Keines ist jedoch so hoch bewertet wie SpaceX oder Bytedance in den USA oder das chinesische Unternehmen hinter TikTok, das USD 225 Mrd. Wert ist. Die Softwareentwicklungsfirma Sonarsource aus Genf ist mit einer Bewertung von USD 5 Mrd. das grösste Schweizer Einhorn.

Viele Schweizer Start-up-Unternehmen sind auch in Bereichen tätig, in denen Übernahmen durch ausländische Firmen häufig sind. So können die Startups über den kleinen Schweizer Markt hinaus expandieren.

Entwicklungsbonus

Die geringe Grösse und die austarierte Regulierung der Schweiz wirken sich im Ranking ebenfalls positiv aus. In Bezug auf politische Stabilität, Qualität der Regulierung und Umsetzung von Regierungsentscheidungen liegt nur noch Singapur vor der Schweiz. Zudem begünstigt der Index Länder, die bereit sind, in Innovation zu investieren, und gewichtet Breitbandkonnektivität, Bildungszugang und Stromproduktion stärker.

Während die Politik von China, Brasilien und den USA immer protektionistischere Züge annimmt, sticht die Schweiz mit ihren Handelsindikatoren heraus. Auf die Exporte entfielen 2021 70% des schweizerischen BIP, deutlich mehr als der EU-Durchschnitt von 50%.

“Wir sind ein sehr kleines Land und produzieren viel Technologie, zahlreiche Patente und viel Innovation”, analysiert Wörter. “Für wirtschaftlichen Erfolg ist der Zugang zu internationalen Märkten aber unabdingbar.”

Die Schweiz profitiert auch von ihrer geringen Grösse. Mit 9 Mio. Einwohnern entspricht die Schweiz in etwa der Grösse von Seoul, der grössten Stadt Südkoreas. Der Index bewertet die Länder oft im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungsgrösse, weshalb die Schweiz auch bei den Spielfilmen pro Kopf ganz oben steht.

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Was der Index nicht misst

Die Innovationsstärke von Ländern zu bemessen und zu vergleichen, ist keine einfache Aufgabe. Der Index bewertet zwar die Innovationskraft im Sinne einer Momentaufnahme, blendet aber die Entwicklungs- bzw. Innovationsgeschwindigkeit eines Landes mehrheitlich aus. Saudiarabien, Katar, Brasilien, Indonesien, Mauritius und Pakistan haben in der Rangliste in den letzten fünf Jahren am meisten Plätze gutgemacht, liegen aber immer noch hinter der Schweiz.

Einige Indikatoren wie Patente sind ohnehin nur begrenzt zur Einschätzung der Innovationskraft geeignet. “Patente erfassen zwar Erfindungen, also die Schaffung von etwas Neuem – nicht aber den Wert, der sich damit erzielen lässt”, erklärt Yann Rousselot-Pailley, der bei KPMG in Saudiarabien für Innovation und neue Technologien zuständig ist.

“Innovation hingegen verwandelt eine Erfindung in ein Geschäft oder sorgt für eine bessere Lebensqualität”, so Rousselot-Pailley gegenüber SWI swissinfo.ch. Indikatoren, die die Kommerzialisierung von Erfindungen bewerten, sagen seiner Ansicht nach viel mehr über Innovation aus. Auch Finanzkennzahlen wie Umsatz oder Unternehmensbewertung können den gesellschaftlichen Mehrwert nicht in vollem Umfang erfassen.

Zudem ändert sich schnell, wie Innovation geschieht, womit einige Indikatoren für den Ländervergleich noch weniger funktionieren. Viele Unternehmer:innen in der Technologiebranche glauben an offene Innovation und verlassen sich statt auf Patente zum Schutz der Erfindungen lieber auf das Geschäftsgeheimnis und zügige Vermarktung.

Während beim westlichen Ansatz die Innovation eher von der Basis, also von den Unternehmen selbst ausgeht und mit Risikokapital finanziert wird, suchen Länder wie China und Saudiarabien Alternativen zu diesem Modell. Dort spielen die Regierungen eine grössere Rolle, sowohl bei der Schaffung der Rahmenbedingungen als auch bei der aktiven Förderung von Innovation.

Die grössten F&E-Investoren Chinas – Huawei, Tencent und Alibaba – wurden alle in den letzten 40 Jahren gegründet. In der Schweiz hingegen kommen die bedeutendsten Forschungsausgaben von Roche, Novartis und Nestlé, die alle schon seit über 100 Jahren am Markt sind. Zudem entfallen in der Schweiz diese Ausgaben auf nur wenige Unternehmen, während in grösseren Ländern Tausende Firmen in F&E investieren.

“Man kann die Schweiz und China unmöglich vergleichen”, sagt Mark Greeven, Professor für Innovation an der IMD Business School in Hongkong. Nicht die Grösse sei ausschlaggebend, meint er, “sondern dass das Innovationssystem anders beschaffen ist – mit unterschiedlichen Unternehmenstypen, verschiedenen Führungsstrukturen und eigenen Zielen.”

Editiert von Virginie Mangin/gw. Übertragung aus dem Englischen: Lorenz Mohler/cm

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