Kinderarbeit ist nicht nur ein Problem der Schokoladeindustrie
Hinter dem köstlichen Aroma eines morgendlichen Kaffees, dem Glanz von Goldschmuck und dem Rauch einer brennenden Zigarette verbirgt sich ein schmutziges Geheimnis.
«Es könnte eine versteckte Zutat in dem Schokoladekuchen sein, den Sie gebacken haben, in den Schokoriegeln, die Ihre Kinder für die Schulspendenaktion verkauft haben, oder in der Eiswaffel mit Karamellsauce, die Sie am Samstagnachmittag genossen haben. Sklavenarbeit.»
So begann eine aufsehenerregende Recherche von Journalistinnen und Journalisten der Nachrichtenagentur Knight Ridder, über die amerikanische Zeitungen am 24. Juni 2001 berichteten.
Sie dokumentierte, wie Jungen im Alter von neun Jahren aus Mali in die Sklaverei verkauft wurden, um auf Kakaoplantagen an der Elfenbeinküste zu arbeiten, welche die amerikanische Schokoladeindustrie mit Kakaobohnen versorgten.
Die Geschichte und die Empörung, die sie in den USA auslöste, veranlassten den Kongressabgeordneten Eliot Engel, eine Gesetzesänderung einzubringen, um die Entwicklung eines «No Child Slavery»-Labels für Schokoladeprodukte zu finanzieren, die in den USA verkauft werden.
Das Repräsentantenhaus stimmte seiner Initiative mit 291 zu 115 Stimmen zu, und eine Abstimmung im Senat stand an. Um eine gesetzliche Regelung zu verhindern, erarbeiteten die Lobbygruppen der Industrie das so genannte Harkin-Engel-Protokoll, eine Vereinbarung zwischen ihnen und den acht grössten Schokoladeherstellern, darunter die Schweizer Giganten Nestlé und Barry Callebaut.
Sie verpflichteten sich darin, bis Juli 2005 freiwillige Standards zu entwickeln und umzusetzen, die bescheinigen, dass der von ihnen verwendete Kakao aus Westafrika ohne die schlimmsten Formen der Kinderarbeit hergestellt wurde, wie sie von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) definiert werden.
Die Frist wurde jedoch mehrmals verlängert, und 2010 einigte man sich auf eine abgeschwächte Version, die eine Reduzierung der Kinderarbeit in Westafrika um 70 Prozent bis 2020 vorsah.
Doch auch diese Frist wurde nicht eingehalten. Die umfassendste Studie über Kakao anbauende Haushalte, die das National Opinion Research Centre (NORC) der Universität Chicago im Jahr 2020 veröffentlichte, schätzte, dass immer noch rund 1,56 Millionen Kinder in der Kakaoproduktion arbeiten.
«Kinderarbeit steht seit mehr als 20 Jahren auf unserer Agenda, mit dem Harkin-Engel-Protokoll und den Verpflichtungen und Zielen der Industrie. Bisher wurden jedoch nur begrenzte Fortschritte erzielt», sagt Christian Robin, Geschäftsführer der Schweizer Plattform für nachhaltigen Kakao.
Mehr als nur Schokolade
Während die Schokoladeindustrie seit mehr als zwei Jahrzehnten unter Beobachtung steht, haben andere Sektoren, die von Kinderarbeit betroffen sind, besonders die Landwirtschaft, bisher nicht die gleiche Aufmerksamkeit der Konsument:innen auf sich gezogen.
Die «2024 List of Goods Produced by Child Labor or Forced Labor»Externer Link (TVPRA-Liste) des US-Arbeitsministeriums zeigt, dass das Problem in anderen Branchen wie Gold, Zuckerrohr, Kaffee und Tabak weitaus häufiger auftritt.
«Die Aufmerksamkeit, die der Kinderarbeit im Kakaosektor gewidmet wird, ist gerechtfertigt, aber sehr einseitig», sagt Robin. «Wir müssen die Komplexität des Problems verstehen und über den Kakao hinausschauen, sonst können wir nicht die richtigen Antworten finden.»
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) beobachtet seit dem Jahr 2000 die Kinderarbeit weltweit und veröffentlicht alle vier Jahre einen Bericht, der das Ausmass des Problems dokumentiert.
Der jüngste Bericht aus dem Jahr 2021 ist eine düstere Lektüre: 2020 waren schätzungsweise 160 Millionen Kinder – 63 Millionen Mädchen und 97 Millionen Jungen – von Kinderarbeit betroffen, das ist fast jedes zehnte Kind weltweit.
Es ist der erste Anstieg seit Beginn der Datenerhebung und bedeutet, dass das Ziel der Beseitigung der Kinderarbeit bis 2025, verfehlt wird, eines der 17 nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, die 2015 von den Staats- und Regierungschefs der Welt verabschiedet wurden.
«Angesichts dieses allgemeinen Anstiegs ist es dringend notwendig, allen Formen der Kinderarbeit mehr Aufmerksamkeit zu schenken», sagt Benjamin Smith, Senior Officer Kinderarbeit bei der in Genf ansässigen UNO-Agentur.
Kaffee und Kinderarbeit
Ein Rohstoff, der im Vergleich zu Schokolade kaum Beachtung findet, ist Kaffee. Der Bericht des US-Arbeitsministeriums listet 17 Kaffeeanbauländer auf, in denen Kinderarbeit gemeldet wurde: Brasilien, Kolumbien, Costa Rica, Elfenbeinküste, El Salvador, Dominikanische Republik, Guatemala, Guinea, Honduras, Kenia, Mexiko, Nicaragua, Panama, Sierra Leone, Tansania, Uganda und Vietnam.
Statistiken über Kinderarbeit in der Kaffeeindustrie sind rar, aber die verfügbaren Zahlen zeichnen ein düsteres Bild. Laut der nationalen Haushaltserhebung (ENAHO) in Costa Rica aus dem Jahr 2011, die 2015 veröffentlicht wurde, waren 8,8 Prozent der Kinderarbeitenden des Landes, also rund 1422 Kinder im Alter von 5 bis 14 Jahren, im Kaffeeanbau beschäftigt.
Die nationale Erhebung über Kinderarbeit in Vietnam aus dem Jahr 2012, die 2014 veröffentlicht wurde, ergab, dass schätzungsweise 34’131 Kinder im Kaffeeanbau beschäftigt waren, von denen 36,7 Prozent jünger als 15 Jahre waren, dem Mindestbeschäftigungsalter in Vietnam.
Es ist unmöglich, eine Kaffeepackung mit einem Siegel zu versehen, das hundertprozentig garantiert, dass der Kaffee ohne Kinderarbeit produziert wurde.
Zertifizierungsprogramme wie die von Fairtrade International und Rainforest Alliance stellen jedoch sicher, dass die Lieferant:innen zur Rechenschaft gezogen werden.
Fairtrade arbeitet nur mit genossenschaftlich organisierten und GPS-kartierten Farmen zusammen. Es gibt regelmässige Audits durch Dritte wie Flocert, welche die Farmen besuchen und die Arbeitsbedingungen überprüfen.
Die Betriebe können bis zur Behebung der festgestellten Probleme suspendiert werden. Und wenn solche systematisch auftreten, können sie ihre Fairtrade-Zertifizierung verlieren.
«Wer Fairtrade-zertifizierten Kaffee kauft, kann sicher sein, dass es Mechanismen gibt, die Kinderarbeit aufdecken und kontrollieren», sagt Monika Firl, leitende Kaffeeberaterin bei Fairtrade. «Es ist uns wichtig, dass Kinder in einer sicheren Umgebung aufwachsen.»
Die Rainforest Alliance, eine internationale gemeinnützige Organisation, hat ebenfalls ein Zertifizierungsprogramm für Kaffeeanbauende, das die Überwachung von Kinderarbeit sowie Landwirtschafts- und Nachhaltigkeitsstandards umfasst.
Sie verfolgt einen Ansatz, bei dem zertifizierte Farmen interne Komitees einrichten müssen, um Kinderarbeit zu verhindern, zu überwachen und mit Unterstützung der Zertifizierungsstelle zu beheben.
Die Nichtumsetzung eines solchen Systems kann zum Entzug der Zertifizierung führen, auch wenn das Audit keine Fälle von Kinderarbeit feststellt.
Ziel ist es, von einem binären Bestanden-Durchgefallen-Modell wegzukommen und stattdessen ein robustes System zu schaffen, das Kinderarbeit effektiv identifiziert und bekämpft.
«Unsere Erfahrungen vor Ort zeigen, dass ein strikter Null-Toleranz-Ansatz nicht funktioniert und dazu führen kann, dass Fälle unter den Tisch fallen», sagt Daria Toschi, Direktorin für Lebensgrundlagen und Menschenrechte bei der Rainforest Alliance.
Der Kontext ist entscheidend
«Das Leben auf den Familienfarmen ist sehr, sehr hart und alle packen mit an», sagt Firl von Fairtrade, der seit 30 Jahren im Kaffeegeschäft tätig ist, davon 10 Jahre in Mittelamerika. «Der Baum wartet nicht auf Dich, und das Wetter auch nicht.»
Die Schulferien fallen oft mit der Erntesaison zusammen, und es ist üblich, dass Kinder bei der Ernte und Verarbeitung der Bohnen helfen. «Das Sortieren der Bohnen ist eine übliche Familienaktivität am Abend, so wie wir vielleicht Gin Rommé spielen», sagt Firl.
Ältere Kinder können in Pflegearbeiten wie Beschneiden, Ausbringen von Kompost oder Unkrautjäten eingebunden werden. «Sie werden wahrscheinlich Landwirte und müssen das Handwerk lernen», sagt Firl.
Faktoren, auf welche die Anbauenden keinen Einfluss haben, können die Situation zusätzlich erschweren. Kaffee wird zum Beispiel in Ländern angebaut, in denen gesellschaftspolitische Konflikte herrschen.
Aufgrund der Sicherheitslage kann es in der Region an Schulen oder Kindertagesstätten mangeln, und es kann sogar gefährlich sein, ein Kind zu Hause zu lassen. Firl erinnert sich an einen Fall, in dem Kinderarbeit gemeldet wurde, die Nachforschungen jedoch mehr Kontext aufzeigten.
«Einmal gab es Bedenken, als die kleine Tochter eines Bauern auf einem Kaffeefeld gesehen wurde. Aber der Vater nahm sie mit, weil in der Gegend Paramilitärs waren und sie bei ihm sicherer war», sagt sie.
Die Rainforest Alliance berücksichtigt auch lokale Gegebenheiten und hat Karten mit sozialen Risiken erstellt. Mexiko zum Beispiel wird als «mittleres Risiko» für Kinderarbeit eingestuft, weil viele Migrantenfamilien mit Kindern aus Guatemala über die Grenze kommen.
Zertifizierte Landwirte in Mexiko sind daher verpflichtet, ab dem zweiten Jahr der Zertifizierung über die Standard-Risikobewertung hinauszugehen und die Ursachen von Kinderarbeit durch eine vertiefte Risikobewertung zu ermitteln.
Erkenntnisse
Obwohl die Schokoladeindustrie auch nach zwei Jahrzehnten Intervention noch mit Kinderarbeit zu kämpfen hat, lassen sich ihre Erfahrungen auf andere Sektoren übertragen.
So war die Schokoladeindustrie eine der ersten, die das von der ILO entwickelte System zur Überwachung und Beseitigung von Kinderarbeit (CLMRS) übernommen haben.
Im Mittelpunkt des CLMRS stehen Vermittler:innen in den lokalen Gemeinschaften, die dabei helfen, Fälle von Kinderarbeit auf Kakaofarmen zu identifizieren und zu registrieren. Sie arbeiten mit den Familien, dem Unternehmen und der lokalen Regierung zusammen, um die Ursachen zu bekämpfen.
Die Massnahmen umfassen beispielsweise die Bereitstellung von Schuluniformen oder die Unterstützung von Müttern bei der Gründung eines Kleinunternehmens.
Daten des CLMRS der International Cocoa Initiative zeigen, dass 36 Prozent der Kinder, die in Ghana und der Elfenbeinküste auf Kakaofarmen arbeiteten, nach zwei weiteren Folgebesuchen durch Gemeindemitarbeiter:innen nicht mehr in der Kinderarbeit tätig waren.
Die Schokoladeindustrie hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2025 alle Kakao anbauenden Haushalte in Ghana und der Elfenbeinküste mit CLMRS oder ähnlichen Systemen zu erfassen.
Mehr
Warum nicht alle Kinderarbeit komplett verbieten wollen
Viele Schokoladeunternehmen wurden von Kakaoanbauländern wie Ghana dafür kritisiert, dass sie ihre eigenen CLMRS einführen, anstatt mit den nationalen Kakaobehörden in den Kakaoanbauländern zusammenzuarbeiten.
Eine von der ILO unterstützte und von der EU mit zehn Millionen Euro (9,3 Millionen Schweizer Franken) finanzierte Initiative, die im Juni 2024 lanciert wurde, soll einen kooperativeren Ansatz fördern.
Das «CLEAR Supply Chains»-ProjektExterner Link will in Honduras, Uganda und Vietnam die Ursachen der Kinderarbeit in den Lieferketten des Kaffeesektors durch einen gebietsbezogenen Ansatz anstelle eines unternehmensbezogenen Ansatzes angehen.
«Aus dem Kakaosektor haben wir gelernt, dass Regierungen die CLMRS anführen und der Privatsektor sich daran orientieren sollte», sagt Projektleiter Wouter Cools.
Um Doppelarbeit zu vermeiden, arbeiten vier UNO-Organisationen – die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), das Internationale Handelszentrum (ITC) und das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) – mit denselben Anbaugemeinschaften zusammen.
Nestlé, zu dessen Kaffeemarken Gold Blend und Nespresso gehören, ist eines von elf privaten Unternehmen, die ihre Bemühungen zur Bekämpfung der Kinderarbeit mit dem Projekt verknüpfen wollen.
Initiativen wie CLMS, Zertifizierungsprogramme und die Zusammenarbeit zwischen der Industrie, lokalen Regierungen und der Zivilgesellschaft haben sich als wirksam erwiesen, um Kinderarbeit in der Kakaoproduktion zu reduzieren, so ein Sprecher der Swiss Sustainable Coffee Platform, die im Juni offiziell lanciert wurde.
«Die Kakaoindustrie bietet Lektionen, die dem Kaffeesektor als Leitfaden dienen können», so der Sprecher. «Diese Modelle können angepasst und auf den Kaffeesektor übertragen werden, mit demselben Verbindlichkeiten der verschiedenen Interessengruppen und einer klaren Rechenschaftspflicht.»
Editiert von Nerys Avery, Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger
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