Mehr Fettleibigkeit in der Schweiz: Können neue Medikamente wie Ozempic helfen?
Der Anteil fettleibiger Menschen in der Schweiz hat sich in den letzten drei Jahrzehnten mehr als verdoppelt. Können neue Medikamente wie Ozempic und Wegovy diese Entwicklung stoppen?
Gemäss der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2022Externer Link sind rund 12% der Schweizer Bevölkerung fettleibig. 1992 waren es nur 5%.
Ältere Menschen sind überproportional von Adipositas betroffen: 43% der Adipositas-Fälle konzentrieren sich auf die Altersgruppen zwischen 55-64 und 65-74 Jahren.
Die im Ausland geborene Wohnbevölkerung ist etwas stärker gefährdet, ebenso die Bevölkerung in ländlichen Gebieten der Schweiz.
Mit der Zunahme der Fettleibigkeit ist auch das Interesse an Adipositas-Medikamenten gestiegen. Die in der Schweiz am häufigsten verwendeten Medikamente zur Gewichtsreduktion sind Orlistat und Liraglutid.
Orlistat verhindert, dass der Körper Fett aus der Nahrung aufnimmt, und Liraglutid bewirkt, dass sich der Magen weniger schnell entleert. Beide Medikamente müssen ärztlich verschrieben werden.
Neue Wundermittel zur Gewichtsreduktion
Eine neue Generation von Medikamenten hat jedoch zusätzliches Interesse an der Bekämpfung von Fettleibigkeit geweckt. Ozempic ist ein injizierbares Medikament, das 2017 in den USA erstmals zur Senkung des Blutzuckerspiegels bei Menschen mit Typ-2-Diabetes zugelassen wurde.
Influencer:innen priesen das Medikament in den sozialen Medien als «Zauberpille» zur schnellen Gewichtsabnahme an und trieben damit die Nachfrage weltweit in die Höhe.
Das von der dänischen Firma Novo Nordisk entwickelte Medikament ist in der Schweiz nur für Altersdiabetes zugelassen und darf nur auf ärztliche Verordnung zur Gewichtsreduktion eingesetzt werden (so genannter Off-Label-Use).
Ein weiteres von Novo Nordisk hergestelltes Medikament namens Wegovy ist speziell zur Gewichtsreduktion bestimmt und wurde 2022 von der Schweizer Arzneimittelbehörde Swissmedic zugelassen.
Wegovy enthält wie Ozempic den Wirkstoff Semaglutid, allerdings in einer höheren Dosierung. Dieser Wirkstoff senkt den Blutzuckerspiegel und ahmt das appetitzügelnde Hormon GLP-1 nach.
«Semiglutide wie Wegovy sind ein grosser Fortschritt im Vergleich zu dem, was bisher zur Verfügung stand, und eine sichere Option. Adipositas ist eine chronische Krankheit, und dieses Medikament bietet eine chronische Behandlung», sagt Bernd Schultes, Vizepräsident der Schweizerischen Gesellschaft für das Studium der krankhaften Adipositas (SMOB), gegenüber SWI swissinfo.ch.
Wegen der weltweit grossen Nachfrage ist Wegovy in der Schweiz erst seit November letzten Jahres auf dem Markt, eineinhalb Jahre nach der Zulassung durch Swissmedic.
Voraussetzung für die Behandlung mit Wegovy ist ein Body-Mass-Index (BMI) über 30 oder ein BMI zwischen 27 und 30 mit mindestens einer gewichtsabhängigen Begleiterkrankung.
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Seit März übernehmen die Schweizer Krankenkassen Wegovy. Allerdings nur für maximal drei Jahre und unter der Bedingung, dass die Patientin oder der Patient in den ersten zehn Monaten eine Gewichtsabnahme von 12% erreicht.
Schultes hält den Versuch, die Gesundheitskosten durch solche Einschränkungen zu senken, für falsches Sparen.
«Wir können eine Kaskade von gesundheitlichen Komplikationen wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Hüft- und Kniegelenkersatz verhindern, wenn wir früher mit der Pharmakotherapie [Medikation, Anm.d.Red.] ansetzen», sagt er.
Schweizer Investition in den Markt für Medikamente zur Gewichtsreduktion
Aber es geht nicht nur um die Kosten. In diesem schnell wachsenden Sektor lässt sich auch Geld verdienen.
Der Schweizer Pharmariese Roche ist im Dezember mit der Übernahme von Carmot Therapeutics für fast 2,7 Milliarden Franken in den Markt für Medikamente zur Gewichtsreduktion eingestiegen.
In diesem Monat gab das Unternehmen mit Sitz in Basel bekannt, dass sein experimentelles Medikament CT-388 Patientinnen und Patienten in der ersten Phase der Studie nach 24 Wochen geholfen habe, fast 19% ihres Gewichts zu verlieren.
«Die Ergebnisse sind sehr ermutigend für die weitere Entwicklung von CT-388 sowohl bei Adipositas als auch bei Typ-2-Diabetes und unterstreichen das Potenzial des Medikaments, sich zu einer erstklassigen Therapie für dauerhafte Gewichtsabnahme und Blutzuckerkontrolle zu entwickeln», liess sich Levi Garraway, Chief Medical Officer von Roche, in einer Pressemitteilung vom 16. MaiExterner Link zitieren.
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Nicht nur die Pharmaindustrie investiert in den Boom der Fettleibigkeitstherapie. Auch der Schweizer Lebensmittelkonzern Nestlé, dem vorgeworfen wird, den Konsum ungesunder Fertignahrung zu fördern, hat die Chance für neue Produkte erkannt.
Ende Mai gab das Unternehmen bekannt, dass es mit dem Verkauf von portionierten Tiefkühlgerichten unter dem Namen Vital Pursuit beginnen wird. Die neuen Produkte sollen für US-Kundinnen und Kunden im vierten Quartal dieses Jahres verfügbar sein.
«Da der Einsatz von Medikamenten zur Unterstützung der Gewichtsabnahme weiter zunimmt, sehen wir eine Chance, diese Konsumentinnen und Konsumenten zu bedienen. Vital Pursuit bietet erschwingliche und wohlschmeckende Ernährungsoptionen, die den Bedürfnissen der Konsumentinnen und Konsumenten in dieser aufstrebenden Kategorie entsprechen», liess sich Steve Presley, Geschäftsführer von Nestlé Nordamerika, in einer Pressemitteilung vom 21. MaiExterner Link zitieren.
Forschung zur individuellen Behandlung von Adipositas
Die Ursachen von Fettleibigkeit sind komplex. Spezifische Therapien und Medikamente können bei manchen Menschen besser wirken. So haben Schweizer Forschende beispielsweise herausgefunden, dass das Hormon Cortisol eine wichtige Rolle bei der Regulierung des Kohlenhydrat-, Fett- und Eiweissstoffwechsels spielt.
Das Stresshormon wird in den Nebennieren gebildet und erhöht den Blutzucker, der dann in Fett umgewandelt wird, vor allem im Bauchbereich. Daher kann die Einnahme von Medikamenten, die den Cortisolspiegel senken, manchen Menschen helfen, Gewicht zu verlieren.
«Bei manchen Menschen baden die Fettzellen in einem Meer aus Cortisol, obwohl es im Blut nicht erhöht ist», schreibt Felix Beuschlein, Oberarzt an der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung am Universitätsspital Zürich, auf der Website des Loobesity-ProjektsExterner Link.
«Findet man nun heraus, dass einige Patientinnen und Patienten besonders gut auf Medikamente ansprechen, die den Cortisol-Stoffwechsel verändern, wäre das ein grosser Schritt in Richtung präzisionsmedizinscher Behandlung bei Adipositas und Übergewicht.»
Beuschlein ist Leiter des Loobesity-Projekts. Dieses wurde 2023 ins Leben gerufen, um ein personalisiertes Profil zu erstellen, das die Grundlage für künftige zielgerichtete Behandlungen bildet.
Mehr als 300 fettleibige und übergewichtige Menschen haben sich für das Projekt angemeldet und geben regelmässig Auskunft über ihren Gesundheitszustand, lassen sich eine Biopsie ihres Fettgewebes entnehmen und unterziehen sich einer Magnetresonanztomografie (MRT). Dieser umfangreiche Datensatz wird dann mithilfe von künstlicher Intelligenz analysiert.
«Mit der Kohortenstudie wollen wir herausfinden, wie und bei wem bestimmte Therapien und Medikamente wirken», sagt Beuschlein.
Das Loobesity-Projekt hat noch ein weiteres Ziel: Es soll klären, warum die meisten Menschen wieder zunehmen, wenn sie Medikamente zur Gewichtsabnahme wie Wegovy absetzen.
Editiert von Reto Gysi von Wartburg, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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