Pestizidfrei, aber nicht Bio: Eine Alternative für die Schweizer Landwirtschaft?
Es ist schwierig, Landwirtinnen und Landwirte zur Umstellung auf ökologischen Landbau zu bewegen. Könnte der Verzicht auf Pestizide bei gleichzeitigem Einsatz synthetischer Düngemittel die Umstellung erleichtern?
Vor drei Jahren rückten Pestizide in der Schweiz ins Zentrum des politischen Diskurses. Im Rahmen des direktdemokratischen Systems des Landes hatten die Stimmberechtigten die Möglichkeit, sich für ein vollständiges Pestizidverbot auszusprechen und die Schweiz zu einer Oase für 100% biologischen Landbau zu machen.
Bei der Auszählung der Stimmen im Juni 2021 fand die Pestizid-Initiative mit nur 40% Zustimmung jedoch keine Mehrheit. Die Schweizerinnen und Schweizer waren noch nicht bereit für eine Revolution.
Doch eine stille Revolution ist bereits im Gang: Ab 2019 bietet die Schweizerische Vereinigung für Integrierte Produktion (IP-Suisse), eine Bewegung für nachhaltige Landwirtschaft mit rund 18’500 Mitgliedern, eine Prämie von 30% für Bäuerinnen und Bauern an, die Weizen ohne Pestizide anbauen, aber nicht auf Bio umstellen.
Dazu gehört auch, dass der Einsatz von Düngemitteln nicht eingeschränkt wird. Vor allem die grösste Schweizer Supermarktkette Migros unterstützt die Preisprämie des Systems, das zu den ersten seiner Art in Europa gehört. Sie vertreibt den Weizen unter ihrem eigenen Label «TerraSuisse».
Chemisch-synthetische Pflanzenschutz- und Düngemittel dürfen im ökologischen Landbau nicht verwendet werden. Bestimmte nichtökologische Produkte wie Kupfer und flüssiges Paraffin sind jedoch in begrenzten Mengen erlaubt.Der gesamte Betrieb muss diese Grundsätze einhalten, um als ökologisch zertifiziert zu werden.
Der Begriff «pestizidfrei» bezieht sich in erster Linie auf den Verzicht auf chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel. Je nach Regelung kann diese Einschränkung jedoch auf einen bestimmten Zeitraum während des Anbaus (z.B. nach der Blüte) beschränkt sein, und die Beizung von Saatgut mit Chemikalien kann erlaubt sein.
Der Einsatz von synthetischen Düngemitteln ist dagegen nicht eingeschränkt. Die Betriebe können sich auch dafür entscheiden, nur einen Teil ihres Anbaus pestizidfrei zu bewirtschaften und auch nach einer Anbausaison wieder auszusteigen.
Auch die Schweizer Regierung fördert eine nicht-biologische, aber pestizidfreie Landwirtschaft. Im Jahr 2023 hat sie sich verpflichtet, die schädlichen Umweltauswirkungen von Pestiziden bis 2027 zu halbieren.
Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Regierung den Einsatz gefährlicher Chemikalien eingeschränkt und Direktzahlungen an Landwirtschaftsbetriebe eingeführt, die freiwillig einen pestizidreduzierten und pestizidfreien, aber nicht biologischen Anbau betreiben. Diese Zahlungen liegen zwischen 650 Franken pro Hektar Weizen und 1400 Franken pro Hektar Raps.
«Es geht nicht darum, ein Verbot durchzusetzen, sondern den Landwirtinnen und Landwirten die Möglichkeit zu geben, dies zu tun, wenn es für sie sinnvoll ist und die Konsumierenden und Steuerzahlenden bereit sind, sie dafür zu entschädigen», sagt Robert Finger, Professor für Agrarökonomie und Agrarpolitik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich.
IP-Suisse schätzt, dass der Anteil des pestizidfreien (nicht biologischen) Weizenanbaus an der gesamten Schweizer Weizenanbaufläche im Jahr 2022 rund 15% betragen hat.
Je nach Ausmass der Ertragseinbussen könnten die landwirtschaftlichen Betriebe gemäss ModellrechnungenExterner Link bis 2027 zwischen 41% und 79% der gesamten Ackerfläche in der Schweiz auf diese Anbauweise umstellen.
«Die Einführung von pestizidfreien Lebensmitteln als dritte Produktkategorie würde den Konsumentinnen und Konsumenten eine breitere Produktpalette bieten. Die Produkte sind nachhaltiger und preisgünstiger als konventionelle Produkte», heisst es in einer StudieExterner Link, die 2024 unter fast 600 deutschen Konsumentinnen und Konsumenten durchgeführt wurde.
Demnach sind die Konsumentinnen und Konsumenten bereit, für solche Hybridprodukte zwischen 38,3% und 93,7% mehr zu bezahlen.
Die Belastung mit Pestiziden wird in Verbindung gebracht mit verschiedenen Krebsarten, neurologischen Störungen wie Parkinson und Alzheimer, Entwicklungsstörungen bei Kindern und Fortpflanzungsproblemen.
Nach Angaben des Schweizer Bundesamts für Umwelt liegen die Pestizidkonzentrationen im Grundwasser an 98% der Messstellen unter dem Grenzwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter.
Die Rückstände des Pestizideinsatzes können jedoch noch Jahrzehnte später in der Umwelt verbleiben, da nach dem Abbau Chemikalien, so genannte Metaboliten, freigesetzt werden.
Dazu gehören auch Abbauprodukte verbotener Pestizide wie Atrazin und Dichlobenil. Schweizweit weist jede dritte Messstelle Metabolitkonzentrationen über dem Grenzwert von 0,1μg/L auf.
Probleme bei der Umsetzung
Der pestizidfreie Anbau ist nicht ohne Ertragseinbussen möglich, auch wenn Düngemittel eingesetzt werden. In gemässigten Breiten, wo die meisten Studien durchgeführt wurden, wird der durchschnittliche Ertragsverlust auf etwa 6% geschätzt. In ungünstigen Anbaugebieten können die Verluste aber auch höher sein.
«Wenn es für die Betriebe sowie die Konsumentinnen und Konsumenten in einer bestimmten Region funktioniert, ist das grossartig. Anders sieht es in tropischen Regionen aus, wo Schädlinge sehr stark sind und Ernten über Nacht vernichtet werden können», sagt Virginia Lee, Sprecherin von Croplife International, einer Lobbygruppe, die Unternehmen vertritt, die Pflanzenschutzmittel herstellen.
Lee zufolge sollte der Schwerpunkt darauf liegen, so viele Nahrungsmittel wie möglich auf dem verfügbaren Land nachhaltig anzubauen. Sie plädiert dafür, für jede agroklimatische Zone die richtige Balance zwischen Produktivität, Klima und Biodiversität zu finden.
Der Schweizer Agrarriese Syngenta, Mitglied von Croplife International, stimmt Lee zu. Der Konzern will Pestizide nicht ganz verbannen.
«Es hat viele Innovationen in der Chemie gegeben, um die Wirksamkeit von Pestiziden zu verbessern. Wir sind von Kilogramm pro Hektar zu Gramm pro Hektar übergegangen, und auch die Entwicklungen in der Pestizidausbringungstechnologie tragen dazu bei, den Einsatz weiter zu reduzieren», sagt Ioana Tudor, Global Head of Crop Protection Marketing bei Syngenta.
Auch die Schweizer Landwirtinnen und Landwirte sind unschlüssig, wie sie den Umstieg auf einen pestizidfreien Anbau bewerkstelligen sollen.
«In der Theorie ist das ein interessanter Ansatz. In der Praxis gibt es aber einige Probleme bei der konsequenten Umsetzung», sagt Sandra Helfenstein, Mediensprecherin des Schweizer Bauernverbands.
«Zum Beispiel gibt es nicht für jede Krankheit oder jeden Schädling im Ackerbau eine gute biologische Bekämpfungsmethode. Deshalb kommt der Biolandbau im Ackerbau nicht in Schwung. Die Düngung ist hier das kleinere Problem.»
Unzureichender Schutz der Umwelt
Während die Hersteller von Agrochemikalien und die Landwirtschaftsbetriebe den Trend zum Verzicht auf Pestizide nicht teilen, halten Befürwortende des ökologischen Landbaus diesen Mittelweg für nicht ausreichend, um die Umwelt zu schützen.
«Düngemittel sind nicht das gleiche Problem wie Pestizide. Sie haben unterschiedliche Auswirkungen auf die Umwelt», sagt Raphaël Charles vom Schweizer Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL).
«Beim Einsatz von Düngemitteln wird das Treibhausgas Lachgas in die Atmosphäre freigesetzt. Die Anwendung führt auch zu Veränderungen im Lebenszyklus vieler Organismen, einschliesslich der Flora, und zur Mitdüngung von nicht landwirtschaftlich genutzten Gebieten.»
Charles befürwortet andere Alternativen zu synthetischen Düngemitteln, wie die Verwendung stickstoffbindender Pflanzen oder die Verwertung organischer Abfälle in Fermentern zur Herstellung von Kompost oder Gärrückständen.
«Ja, der ökologische Landbau ist weniger ertragreich, aber ist die konventionelle Landwirtschaft nicht eine Überproduktion, wenn man die Böden, die Umwelt und den Planeten betrachtet, die uns zur Verfügung stehen?»
Geld regiert die Welt
Letztlich hängt der Erfolg des pestizidfreien Landbaus von der finanziellen Förderung ab. Die Erträge sind zwar höher als im reinen Biolandbau, aber immer noch deutlich geringer, als wenn die Landwirtschaftsbetriebe alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel inklusive Pestizide einsetzen könnten.
So ergaben Betriebsversuche in den Jahren 2019 bis 2021 Erträge von 7,5 Tonnen pro Hektar im konventionellen Weizenanbau gegenüber 6,5 Tonnen im pestizidfreien, nicht biologischen Anbau.
Die Investition in die mechanische Unkrautbekämpfung bedeutet auch, dass die Landwirtinnen und Landwirte Geld investieren müssen. Sie müssen die Felder häufiger bearbeiten, mehr Arbeitskräfte einstellen und mehr Geld für Treibstoff für die Landmaschinen ausgeben.
«Wenn sich der Verzicht auf Pestizide allein lohnen würde, würden die Landwirtinnen und Landwirte es schon längst tun», sagt Finger, der kürzlich in der Zeitschrift Nature einen Überblick über europäische Initiativen für eine pestizidfreie LandwirtschaftExterner Link veröffentlichte.
«Es braucht die Unterstützung der Industrie und der Regierungen, um eine Änderung des Produktionssystems zu fördern. Preisaufschläge und staatliche Direktzahlungen geben den Landwirtinnen und Landwirten das Vertrauen, umzusteigen.»
Wie die Schweiz hat auch die deutsche Regierung begonnen, Betriebe zu entschädigen, die ab 2023 auf synthetische Pestizide verzichten. Auch kleinere private Initiativen sind entstanden, wie die Getreidegenossenschaft Kraichgaukorn in Baden-Württemberg, Deutschland, und in der französischen Bretagne, wo einige Genossenschaften ein «pestizidfreies» Label für Tomaten eingeführt haben.
Der Appetit auf solche freiwilligen Initiativen des «mittleren Wegs» wächst in Europa. Die Ablehnung des Green-Deal-Vorschlags der Europäischen Union Anfang des Jahres, den Einsatz von Pestiziden bis 2030 zu halbieren, hat nach Protesten der Landwirtschaft jedoch gezeigt, dass ein von oben verordnetes Verbot wahrscheinlich nicht funktionieren wird.
«Es ist eine Möglichkeit, je nach Kontext mit dem Verzicht auf den einen oder anderen Input, Dünger oder Pestizide, zu beginnen und später das gesamte System zu überprüfen. Das könnte eine Übergangsphase sein, die im derzeitigen politischen Klima funktionieren könnte», sagt Charles, der Experte für ökologische Landwirtschaft.
Editiert von Virginie Mangin/gw, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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