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Pharmaindustrie macht Ernst mit KI-Medikamenten

Frau im Labor
KI verspricht, die Entdeckung neuer Moleküle zur Behandlung einer Reihe von Krankheiten zu beschleunigen. Roche

Grosse Pharmaunternehmen wie Roche und Novartis setzen bei der Suche nach neuen Wirkstoffen im grossen Stil auf Künstliche Intelligenz (KI). Bis die ersten Patientinnen und Patienten mit KI-Medikamenten behandelt werden, ist es aber noch ein weiter Weg.

Matthias Steger ist medizinischer Chemiker und war zehn Jahre bei Roche in der Wirkstoffentwicklung tätig, bevor er selber Unternehmer wurde.

Seine Entdeckung des neuen Wirkstoffkandidaten EA-2353 für Retinitis pigmentosa, eine seltene degenerative Augenerkrankung, begann ganz analog mit Block und Stift.

Fast zehn Jahre lang notierte Steger alle chemischen Strukturen, für die sich im Experiment eine Wirkung auf Progenitorzellen feststellen liess. Diese Vorläuferzellen können sich im geschädigten Gewebe regenerieren.

Aber um tatsächlich einen Wirkstoffkandidaten zu identifizieren, musste Steger ein Muster in den chemischen Strukturen finden. Tests in Labors hätten Jahre und sehr viel Geld gekostet, und selbst dann hätte man auf einen Zufallstreffer hoffen müssen.

«Die Entdeckung eines neuen Moleküls ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen», sagt Steger gegenüber SWI swissinfo.ch. «Selbst für mich als Chemiker ist vieles oft Spekulation.» Die Entwicklung eines neuen Medikaments dauert im Schnitt zehn Jahre und kostet etwa 2,3 Milliarden Franken, bis es auf dem Markt ist.

In der Hoffnung, den Prozess zu beschleunigen, schickte Steger seine chemischen Strukturen Gisbert Schneider, einem ehemaligen Roche-Kollegen und heute Dozent für computergestützte Wirkstoffentwicklung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich.

Anhand seiner KI-Modelle ermittelte Schneider, welche Moleküle auf Grundlage der Muster in den chemischen Strukturen die gewünschte biologische Aktivität aufwiesen.

Steger und sein Team testeten und synthetisierten dann die gefundenen Moleküle über mehrere Jahre und entwickelten zwei Wirkstoffkandidaten. Einer davon ist EA-2523, der sich jetzt in der frühklinischen Phase befindet.

«Ohne KI hätten wir diese Substanz vielleicht nie gefunden», sagt Steger, der mit Schneider zur Weiterentwicklung der beiden Substanzen 2016 das Startup Endogena mit Niederlassungen in Zürich und San Francisco gegründet hat. «Die Algorithmen erkennen Muster, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben.»

Das Potenzial der KI, viel schneller und günstiger neue Wirkstoffkandidaten zu finden, hat einen wahren Investitionsboom in KI-Tools ausgelöst.

Gemäss einer 2023 veröffentlichten Studie der Boston Consulting GroupExterner Link haben Investmentgruppen in den letzten zehn Jahren über 18 Milliarden US-Dollar in etwa 200 Biotech-Firmen und Startups gepumpt, bei denen KI im Zentrum der Wirkstoffentwicklung steht.

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Die Pionierarbeit dieser neuen Technologie haben Startups und Biotech-Firmen geleistet. Jetzt, wo die ersten durch KI entdeckten Wirkstoffe an Menschen getestet werden, steigen immer mehr grosse Pharmaunternehmen ein, darunter die Schweizer Grosskonzerne Roche und Novartis.

2023 kündigte Roche eine mehrjährige Forschungszusammenarbeit mit dem amerikanischen Chip-Hersteller Nvidia an, um die Wirkstoffentwicklung zu beschleunigen. Dies ist nur eine von mindestens acht Kooperationen des Basler Pharmaunternehmens im Bereich KI.

Im Januar bot der andere Pharmariese am Rheinknie, Novartis, für den Ableger von Google Deepmind, Isomorphic Labs, 37,5 Millionen US-Dollar als Sofortzahlung und weitere 1,2 Milliarden, falls bestimmte Zwischenziele in der Wirkstoffentwicklung erreicht werden.

Dies sind nur einige von über hundert Vereinbarungen, die in der Pharmabranche in den letzten zehn Jahren zwischen Grosskonzernen und KI-Startups abgeschlossen wurden.

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Auf den KI-Zug aufspringen

Computergestützte Wirkstoffentwicklung ist bei den grossen Pharmaunternehmen schon seit Jahrzehnten gang und gäbe, doch auf KI wollte man sich bis vor Kurzem nicht zu stark einlassen.

«Mit neuronalen Netzen wurde schon vor vielen Jahren experimentiert. In den Nullerjahren entstand dann eine Art Ernüchterung, weil KI viele Hoffnungen nicht erfüllen konnte», konstatiert Schneider.

Die frühen neuronalen Netze oder KI-AlgorithmenExterner Link waren noch nicht ausgereift und die Hardware damals noch nicht leistungsfähig genug, um die umfangreichen Rechenoperationen durchzuführen.

Mittlerweile hat ein Umdenken stattgefunden. Heute lässt man sich viel eher auf die Empfehlungen eines KI-Algorithmus ein, denn kein Pharmaunternehmen möchte den Anschluss verlieren.

Als Künstliche Intelligenz bezeichnet man computergestützte Berechnungs- und Modellierungstechniken, die grosse und komplexe Datensätze analysieren, daraus lernen, Informationen liefern und Aufgaben ausführen, die normalerweise menschliche Intelligenz erfordern, jedoch in einem Umfang und mit einer Geschwindigkeit, welche die menschlichen Fähigkeiten übersteigt.

Deep Learning nutzt neuronale Netze und ist eine in der Arzneimittelforschung verbreitete KI-Technologie, um Wissen aus Daten zu generieren.

Quelle: Boston Consulting Group

Grund für den Paradigmenwechsel sind die Fortschritte bei Deep Learning, generativen KI-Tools wie ChatGPT, der Rechenleistung sowie beim Wissensstand in Genetik und Molekularbiologie.

Die jüngste Generation von KI-Modellen kann Muster selbst in enorm grossen, heterogenen Datensätzen einschliesslich Bildern erkennen. In der Arzneimittelforschung, die sich mit Billionen von Zellen und 20’000 Genen pro Mensch befasst, sind diese Modelle deshalb besonders interessant.

2020 hat Googles KI-Tochter Deepmind einen Algorithmus namens Alphafold auf den Markt gebracht. Dieser KI-Algorithmus kann dreidimensionale Strukturen menschlicher Proteine, RNA und DNA vorhersagen.

Dies war bei der Bestimmung der Proteinstruktur von Sars-CoV-2 von entscheidender Bedeutung und hat dazu geführt, dass Covid-Impfstoffe in Rekordzeit entwickelt werden konnten.

Alphafold hat nicht nur die Forschung an neuen Wirkstoffzielen beflügelt, sondern das Potenzial der KI für die Wissenschaft insgesamt aufgezeigt.

Pharmaunternehmen nutzen mittlerweile selbstentwickelte oder öffentliche KI-Software, um Daten in medizinischen Fachzeitschriften auszuwerten, Molekülbibliotheken abzufragen und Krankheitsziele zu identifizieren.

Einigen Studien zufolgeExterner Link könnte KI die Zeit und Kosten für die Entwicklung eines neuen Wirkstoffs um 25–50% reduzieren.

+ Impfstoffe in Rekordzeit: Künstliche Intelligenz leistet Beitrag zur Wissenschaft

«Künstliche Intelligenz – und dazu gehören auch maschinelles Lernen und grosse Sprachmodelle – ist nicht gänzlich neu», sagt Elif Ozkirimli, Leiterin der Abteilung Informatikgestützte Produkte für Forschung und Entwicklung (F&E) bei Roche in Basel.

«Die Dynamik und das Ausmass aber haben in den letzten beiden Jahren rasant zugenommen.»

Roche hat gemäss einer aktuellen PräsentationExterner Link für Investoren zuletzt 3 Milliarden US-Dollar pro Jahr in die Modernisierung seiner digitalen Infrastruktur gesteckt, um KI noch stärker in F&E zu integrieren.

Vor einigen Jahren holte Roche die besten Bioinformatikerinnen und -informatiker vom MIT und der Universität von Cambridge ins Unternehmen, um in der Abteilung Computational Sciences der US-Tochter Genentech in San Francisco ein Team aus etwa 400 Personen aufzubauen. In Basel und an anderen Standorten arbeiten noch Hunderte Fachleute mehr.

2021 kaufte Roche die Firma Prescient Design, ein Startup aus New York mit drei Angestellten, das Algorithmen entwickelt, die nun mit öffentlichen und Roche-internen Daten aus Versuchen und klinischen Studien trainiert wurden.

Mittlerweile sind die Algorithmen bereits in Gebrauch, suchen nach neuen Krankheitsindikationen für ältere Medikamente und priorisieren Wirkstoffkandidaten mit der besten Aussicht auf Erfolg.

Selber machen statt suchen

Das Potenzial der KI geht jedoch über die effizientere Wirkstoffentwicklung hinaus. In Zukunft könnten Moleküle gefunden oder gar hergestellt werden, von denen Chemikerinnen und Chemiker noch nicht mal geträumt haben. Einige Algorithmen, wie derjenige von Gisbert Schneider bei Endogena, schaffen Moleküle von Grund auf neu.

«Statt ein Molekül nach dem anderen auf seine potenzielle Wirksamkeit abzuklopfen, dreht die generative KI den Spiess einfach um. Wir geben den Molekülen aktiv bestimmte Eigenschaften, anstatt nach ihnen zu suchen», sagt Schneider.

Grafik
swissinfo.ch / Kai Reusser

Mehrere Startups verfolgen diesen Ansatz bereits. Insilico aus Hongkong hat mittels KI-Modellen das Krankheitsziel für Lungenfibrose (das Molekül, das mit der schwerwiegenden Lungenerkrankung in Zusammenhang steht) identifiziert und eine wirkstoffähnliche Molekülstruktur entwickelt.

Die Entwicklungskosten der Substanz, die innerhalb von 18 Monaten synthetisiert wurde und sich bereits in Phase-II-Studien befindet, sind mit 3 Millionen US-Dollar deutlich niedriger als bei herkömmlichen Verfahren.

2022 unterzeichnete Insilico eine Vereinbarung mit dem französischen Pharmariesen Sanofi in Höhe von 1,2 Milliarden US-Dollar. Ziel auch hier: Krankheitsziele identifizieren und Wirkstoffkandidaten finden.

Bei Genentech haben die Chemikerinnen und Bioinformatiker das Deep-Learning-Netz «GNEProp» entwickelt, mit dessen Hilfe kleine Moleküle für Antibiotika gegen resistente Keime hergestellt werden sollen.

Einige der Moleküle, die der Algorithmus vorschlägt, haben eine komplett andere Struktur als die Moleküle, mit denen er trainiert wurde.

Das Unternehmen übernimmt nun einige dieser Moleküle in die präklinische Phase und speist die Laborergebnisse wieder zurück in die KI-Modelle, um die Vorschläge weiter zu optimieren.

«Wirkstoffentwicklung läuft ein bisschen nach dem Trial-and-Error-Prinzip», sagt Ozkirimli. «Mit KI können wir nun unsere Fehler zurück ins System melden, womit die Erfolgsaussicht im nächsten Durchlauf steigt.»

Marathon statt Sprint

Trotz der enormen Investitionen und dem Enthusiasmus hängen die Pharmaunternehmen ihre Erfolge mit KI noch nicht an die grosse Glocke.

Weder Roche noch Novartis geben bekannt, welche Wirkstoffe in klinischen Studien mittels KI entwickelt wurden. Nur weil ein Wirkstoffkandidat am Computer oder im Labor funktioniert, müssen Patientinnen und Patienten nicht zwingend darauf ansprechen.

Misserfolge sind in der Arzneimittelforschung denn auch die Regel: Neun von zehn Medikamenten, die konventionell entwickelt wurden, fallen in den klinischen Studien durch, wenn das Präparat auf Sicherheit und Wirksamkeit im Menschen getestet wird.

Noch lässt sich nicht abschätzen, ob KI-Medikamente in dieser Hinsicht besser abschneiden, und falls ja, welche KI-Algorithmen dahinter die verlässlichsten Ergebnisse liefern.

+ Die Schweiz, Land der grossen Pharma-Konzerne, versucht Startups einzubinden

«Es gibt noch viel, was wir zum menschlichen Körper und zum Entstehen von Krankheiten nicht wissen. Unklar ist auch, weshalb einige Patientinnen und Patienten besser auf einen Wirkstoff ansprechen als andere», sagt ETH-Professor Gisbert Scheider gegenüber SWI.

«Der mögliche Nutzen von KI dürfte momentan eher überschätzt werden. Im Zusammenspiel mit dem menschlichen Körper geht das chaotische Element oft vergessen.»

Gemäss einer im April veröffentlichten StudieExterner Link schafften es im letzten Jahrzehnt mindestens 75 Wirkstoffe von Firmen, bei denen KI eine entscheidende Rolle in der Wirkstoffentwicklung spielt, in die klinische Phase.

80–90% der Substanzen, welche die erste klinische Phase durchlaufen haben, waren erfolgreich und liegen damit über dem Branchendurchschnitt von 50–60%.

Die Methodik dieser Studie wird jedoch von einigen Fachleuten bemängeltExterner Link. Allgemeingültige Aussagen zum Erfolg von KI seien kaum möglich, da diese bei der Entwicklung der Substanzen in unterschiedlichem Ausmass eingesetzt worden sei.

Zudem sei die zweite klinische Phase, in der Wirkstoffe an deutlich grösseren Kohorten getestet werden, wesentlich aussagekräftiger dafür, ob es ein Präparat auf den Markt schafft.

Bei einigen Wirkstoffkandidaten kam es bereits zu Rückschlägen. Im vergangenen Oktober kündigte das Startup Exscientia an, dass eine frühklinische Studie für den mit KI entwickelten Wirkstoffkandidaten EXS-21546 gegen Krebs abgebrochen würde.

Nur Monate zuvor hatte Benevolent-AI aus London darüber informiert, dass sich ein KI-Wirkstoff als weniger wirksam als erhofft erwiesen habe.

Illustration: Artificial Intelligence, Künstliche Intelligenz

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«Die meisten Medikamente fallen nicht durch, weil irgendetwas mit dem Molekül nicht in Ordnung wäre – im Gegenteil: Meist tut das Molekül genau, was es soll», sagt der medizinische Chemiker Steger. «Nur passt die Molekularbiologie nicht in dem Masse zur Erkrankung der Patienten, wie das zu erwarten gewesen wäre.»

Editiert von Virginie Mangin/ds, Übertragung aus dem Englischen: Lorenz Mohler

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