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Roche setzt auf Volkskrankheiten

Eine Frau macht sich eine Spritze in den Bauch.
Roche war vor zwei Jahrzehnten in die Adipositas-Forschung eingestiegen, hatte sich aber nach mäßigem Erfolg wieder zurückgezogen. Jetzt, da der Markt boomt, ist das Unternehmen wieder eingestiegen. Getty Images

Der Schweizer Pharmariese Roche konzentriert seine Forschung und Entwicklung auf Krankheiten wie Adipositas, die das Gesundheitswesen stark belasten. Gleichzeitig erwarten Regierungen zunehmend Medikamente, die nicht nur Leben retten, sondern auch Geld sparen.

Die Blockbuster-Medikamente Ozempic und Wegovy haben gezeigt, dass die Entwicklung von Behandlungsmöglichkeiten für Volkskrankheiten wie Adipositas (Fettleibigkeit) und Diabetes für Pharmaunternehmen eine Goldgrube sein kann.

Der Aktienkurs des dänischen Konzerns Novo Nordisk, der hinter diesen Medikamenten steht, erreichte in diesem Jahr Rekordhöhen und machte das Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von über 530 Milliarden US-Dollar (457 Milliarden Schweizer Franken) zum wertvollsten Unternehmen Europas.

Der Erfolg dieser «Wundermittel» hat nicht nur die Suche nach dem nächsten Schlankheitsmittel neu belebt, sondern auch die Suche nach anderen Medikamenten, die ähnlich dramatische Veränderungen in der Behandlung von schweren Krankheiten bewirken können, von denen weltweit Millionen von Menschen betroffen sind.

Der Basler Pharmariese Roche ist der jüngste Konzern, der eine Neuausrichtung seiner Investitionsstrategie angekündigt hat, um sich auf die Entwicklung von „transformativen“ Medikamenten zu konzentrieren, d.h. auf Behandlungen, die einen bahnbrechenden Einfluss auf chronische Krankheiten wie Multiple Sklerose, Alzheimer oder Lungenkrebs haben, von denen grosse Teile der Weltbevölkerung betroffen sind.

Roche hat sich auf 11 Krankheiten in fünf Therapiegebieten spezialisiert, darunter drei, die nach Einschätzung des Unternehmens in den nächsten zehn Jahren mehr als 50 Prozent der weltweiten Krankheitslast ausmachen werden: kardiometabolische Erkrankungen wie Fettleibigkeit sowie onkologische und neurologische Erkrankungen.

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„Wir konzentrieren uns wirklich auf die Bereiche, in denen der grösste ungedeckte Bedarf besteht und auf die sich die Gesundheitssysteme konzentrieren werden“, sagte der langjährige Roche-Mitarbeiter Thomas Schinecker, der im März 2023 zum CEO ernannt wurde, auf einer jährlichen Investorenkonferenz im September.

“Gerade wenn sie weniger Budget zur Verfügung haben, werden sie sich auf die Bereiche konzentrieren, in denen sie die grösste Wirkung erzielen können.“

Diese Entwicklung spiegelt eine neue Realität wider, in der die öffentlichen Gesundheitsbudgets aufgrund demografischer Trends, insbesondere altersbedingter Krankheiten, zunehmend unter finanziellen Druck geraten. Regierungen suchen nach Diagnoseinstrumenten, Behandlungen und Medikamenten, die Hunderttausenden oder sogar Millionen ihrer Bürger:innen zugute kommen, um die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu stoppen.

Die World Obesity Federation schätzt, dass bis 2035 54% der erwachsenen Weltbevölkerung übergewichtig oder fettleibig sein werden, was die WeltwirtschaftExterner Link mehr als 4 Billionen US-Dollar kosten wird. Allein der MarktExterner Link für Medikamente gegen Fettleibigkeit könnte laut IQVIA, einem globalen Forschungs- und Analytikunternehmen im Gesundheitswesen, bis 2030 auf über 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr anwachsen.

Roche beteiligte sich vor zwei Jahrzehnten an der Adipositasforschung, zog sich aber nach bescheidenen Erfolgen wieder zurück. Jetzt, da der Markt boomt, ist das Unternehmen wieder eingestiegen.

Anfang dieses Jahres zahlte es 2,7 Milliarden Dollar für den Kauf von Carmot Therapeutics, einer kleinen kalifornischen Biotech-Firma, die Medikamente gegen Fettleibigkeit entwickelt und den Grundstein für eine ganze Forschungseinheit für kardiovaskuläre Stoffwechselkrankheiten bei Roche legte.

Bis 2040 werden schätzungsweise 288 Millionen Menschen an altersbedingter Makuladegeneration leiden, einer der Hauptursachen für irreversible Erblindung. DemenzerkrankungenExterner Link, von denen die Alzheimer-Krankheit die häufigste ist, werden bis 2050 weltweit 132 Millionen Menschen betreffen – gegenüber 47 Millionen im Jahr 2015.

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«Man stelle sich eine reale Zukunft vor, in der es ein erstaunlich wirksames Alzheimer-Medikament gibt», sagt Bill Coyle, Leiter der Pharmasparte von ZS Associates, einer auf das Gesundheitswesen spezialisierten Beratungsfirma mit Sitz in Zürich. «Die Zahlungsbereitschaft wird sehr hoch sein. Und das bei einer sehr grossen Patientenpopulation.»

Auswahl der Gewinner

Die Entscheidung von Roche, sich auf schwere Krankheiten zu konzentrieren, sei nicht überraschend, sagte Mike Rea, Chef der Gesundheitsberatungsfirma IDEA Pharma. Die meisten grossen Pharmaunternehmen haben sich in eine ähnliche Richtung bewegt.

Bayer aus Deutschland, Johnson & Johnson aus den USA und Novartis haben ihre Produktpipelines auf ähnliche Krankheitsgebiete ausgerichtet und Geschäftsbereiche mit geringerem Ertragspotenzial abgestossen oder herabgestuft.

Der französische Pharmariese Sanofi kündigte kürzlich an, einen Teil seines Geschäfts mit rezeptfreien Medikamenten, darunter auch das beliebte rezeptfreie Medikament Doliprane, verkaufen zu wollen, um sich auf neue, höherpreisige Medikamente zu konzentrieren.

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Der Strategiewechsel bei Roche konnte für die Anleger:innen nicht früh genug kommen. Das Unternehmen war 20 Jahre lang dank einer Reihe hochprofitabler Krebsmedikamente auf Erfolgskurs.

Doch Generika schmälern die Gewinne einiger dieser Medikamente wie Herceptin, und der Aktienkurs des Unternehmens hat sich in den zwei Jahren bis April 2024 aufgrund einer Reihe fehlgeschlagener klinischer Studien fast halbiert.

«Bis vor fünf Jahren war Roche in der Onkologie ziemlich erfolgreich. Aber jetzt ist das Unternehmen dort nicht mehr so stark», so Rea. «Die Herausforderung besteht nun darin, herauszufinden: Wie verändert man die F&E und kommt näher an das heran, was die Kostenträger sagen, was sie wollen – jetzt und in fünf Jahren?»

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Im vergangenen Jahr hat Roche sein Entwicklungsportfolio um 25% gestrafft und die Forschung an 26 Medikamenten eingestellt, von denen einige bereits in klinischen Studien getestet wurden.

Dazu gehören Therapien für Morbus Pompe, eine seltene genetische Erkrankung, die zu einer fortschreitenden Schwäche des Herzens und der Skelettmuskulatur führt, sowie für das Dup15q-SyndromExterner Link, die häufigste genetische Ursache für Autismus-Spektrum-Störungen.

Ebenfalls gestrichen wurden Medikamentenkandidaten in den Bereichen Krebs und Neurowissenschaften, die nicht das Potenzial hatten, sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen und zu einem “Mega-Blockbuster” zu werden, der auf dem Höhepunkt seines Lebenszyklus einen Jahresumsatz von 3 bis 5 Milliarden US-Dollar erzielt.

Mit der neuen Strategie will Roche das durchschnittliche Spitzenumsatzpotenzial seiner Pipeline um 40% steigern. In den letzten 20 Jahren lag der durchschnittliche Spitzenumsatz von eingeführten Medikamenten bei rund 4 Milliarden US-Dollar.  

Spitzenumsätze in der Grössenordnung von Mega-Blockbustern sind mit Medikamenten gegen seltene Krankheiten, bei denen es nur wenige Patient:innen gibt und die nur gegen eine einzige Krankheit (oder Indikation) eingesetzt werden, sehr schwer zu erreichen.

Im September kündigte Roche an, Ressourcen umzuverteilen, um die Entwicklung von drei Medikamenten gegen Alzheimer, Fettleibigkeit und entzündliche Darmerkrankungen zu beschleunigen, die alle ein jährliches Spitzenumsatzpotenzial von über drei Milliarden US-Dollar haben.

Kosten vs. Nutzen

Die Behandlung von Volkskrankheiten ist auch für das öffentliche Gesundheitswesen und die Versicherer von zentraler Bedeutung. In den meisten Industrieländern steigen die Gesundheitskosten aufgrund chronischer Krankheiten, der Langzeitpflege älterer Menschen, des medizinischen Fortschritts und der steigenden Ausgaben für Medikamente schneller als das Wirtschaftswachstum.

In der Schweiz wird ein Anstieg der gesamten GesundheitsausgabenExterner Link von 11,3% des BIP im Jahr 2019 auf 15% im Jahr 2050 erwartet, wobei die Langzeitpflege älterer Menschen einen immer grösseren Anteil ausmachen wird.

Um die Kosten zu senken, fordern viele Kostenträger:innen im Gesundheitswesen, dass Arzneimittel ihren Mehrwert nachweisen. Neben der Bewertung von Arzneimitteln hinsichtlich ihrer Sicherheit und Wirksamkeit prüfen viele Kostenträger:innen im Gesundheitswesen inzwischen auch die Kosteneffizienz eines Arzneimittels, d.h. wie viel Nutzen es in Bezug auf gesundheitliche Ergebnisse und Kosteneinsparungen bringt, z.B. weniger Krankenhausaufenthalte im Verhältnis zu den Behandlungskosten.

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Bisher zögerten die Krankenkassen, Medikamente gegen Fettleibigkeit zu bezahlen, da sie Fettleibigkeit eher als Lebensstilproblem denn als Krankheit ansahen. Die Weltgesundheitsorganisation hat Adipositas 1997 als chronische Krankheit anerkannt, die Europäische Kommission erst 2021.

Da es jedoch immer mehr Belege dafür gibt, dass der Nutzen dieser neuen Medikamente die Kosten überwiegen könnte, geraten die Kostenträger:innen unter Druck, die Kosten zu übernehmen – ein Druck, der noch zunehmen wird, wenn die Preise fallen, das Angebot sich verbessert und mehr Wettbewerber:innen auf den Markt kommen.

Einige Studien haben gezeigt, dass GLP-1-Medikamente, die ein Hormon imitieren, das bei der Kontrolle des Hungergefühls hilft und der Wirkstoff von Ozempic ist, zu einem Gewichtsverlust von 15 bis 20% führen und mit Übergewicht in Zusammenhang stehende Krankheiten wie Herzerkrankungen, bestimmte Krebsarten und Bluthochdruck verringern können.

Andere Studien zeigen, dass GLP-1-Medikamente das Fortschreiten einer Reihe von Krankheiten, einschliesslich Alzheimer, verlangsamen können.

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Das wachsende Interesse an der Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung weit verbreiteter Krankheiten, die den Gesundheitssystemen Milliarden einsparen könnten, fällt zusammen mit dem erwarteten Rückgang von Preisanreizen in den USA und der EU, die zuvor viele Pharmaunternehmen dazu veranlasst hatten, ihre Forschungsbudgets für neue Medikamente zur Behandlung seltener Krankheiten zu erhöhen.

Einige Länder wehren sich auch gegen Preise von bis zu 2-3 Millionen US-Dollar für Orphan-Medikamente, selbst wenn diese das Leben von Kindern mit tödlichen Erbkrankheiten erheblich verbessern können.

«Es gibt eindeutig einen Wandel in der Erzählung über seltene Krankheiten, der von den Kostenträgern vorangetrieben wird, die stets auf den Wert pochen», sagt Carina Schey, eine Gesundheitsökonomin aus Genf, die an Wertmodellen für Medikamente gegen seltene Krankheiten arbeitet.

Während Regierungen sich zunehmend Sorgen machen, wie sie die steigenden Kosten für die Behandlung von Volkskrankheiten aufbringen sollen, versuchen Pharmaunternehmen, sich als Teil der Lösung und nicht als Teil des Problems darzustellen.

«Die Gesundheitssysteme stehen massiv unter Druck», sagte Schinecker im September vor Roche-Investoren. Steigende Kosten «sind ein Trend, der nicht ewig anhalten kann. Es liegt auch in unserer Verantwortung, zur Bewältigung der Kosten im System beizutragen.»

Editiert von Nerys Avery/vm/ts; Übertragung aus dem Englischen von Michael Heger / me

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