Trotz möglicher Gesundheitsrisiken ist Rohmilchverkauf in der Schweiz möglich
Rohmilch galt lange als bedenklich und gefährlich. Nun ist sie wieder in den Kühlschränken von privaten Haushalten anzutreffen. Die Gesetzgebung passt sich weltweit an. Die Schweiz setzt auf Kennzeichnung und Eigenverantwortung.
Der republikanische Politiker Jason Schultz musste sich fast 16 Jahre gedulden, bis ein von ihm vorgeschlagenes Gesetz verabschiedet war, das im US-amerikanischen Bundesstaat Iowa den Verkauf von Rohmilch beziehungsweise nicht pasteurisierter Milch erlaubte.
Als er 2008 seinen Sitz im Repräsentantenhaus von Iowa gewann, rechnete Schultz nicht mit viel Widerstand gegen seinen Vorstoss. Denn Iowa ist ein Agrarstaat im Mittleren Westen, der für Maisanbau und Schweinezucht bekannt ist; auf der Landwirtschafsmesse Iowa State Fair wird sogar eine 270 Kilogramm schwere und ganz aus Butter geformte Kuh ausgestellt.
«Ich dachte, es würde ein Kinderspiel sein», schreibt Schultz, der heute Senator des Bundesstaats Iowa ist, auf Anfrage von SWI swissinfo.ch.
Es gelang ihm jedoch lange nicht, seine Gesetzesvorlage durchzubringen. Erst im Mai 2023 unterzeichnete die republikanische Gouverneurin Kim Reynolds das RohmilchgesetzExterner Link, dank der republikanischen Mehrheit während dieser Legislatur.
Seit dem 1. Juli 2023 dürfen die Bäuerinnen und Bauern in Iowa daher Rohmilch direkt an die Kundschaft verkaufen. Widerstand kam von öffentlichen Gesundheitseinrichtungen und grossen Molkereikonzernen mit der Begründung, Rohmilch sei eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit, da sie schädliche Krankheitserreger enthalten könne.
«Ich wollte einzig erreichen, dass die Bürgerinnen und Bürger von Iowa keine staatliche oder unternehmerische Einmischung befürchten mussten, wenn sie rohe Frischmilch wollen. Und das haben wir endlich erreicht», sagt Schultz.
Iowa schloss sich damit der wachsenden Mehrheit der amerikanischen Staaten an, die den Verkauf von Rohmilch erlauben. Doch die Lage bleibt kompliziert.
Von den 30 Bundesstaaten, die den Verkauf von Rohmilch zulassen, erlauben nur 17 den Direktverkauf ab Hof. 20 Staaten verbieten den Direktverkauf von Rohmilch, aber acht dieser Staaten erlauben so genannte «Herd-Share-Vereinbarungen».
Gemäss solchen Vereinbarungen dürfen Personen, die Anteile an einer Kuhherde besitzen, Rohmilch für den Eigenverbrauch beziehen. Erschwerend kommt hinzu, dass das Bundesrecht den Transport von Rohmilch über die Grenzen zwischen den Bundesstaaten hinweg nicht zulässt.
Wie in den USA gibt es auch in anderen Ländern der Welt spezifische Vorschriften für den Verkauf von Rohmilch. In Australien, Kanada, China und Schottland ist dieser verboten, während er in den meisten europäischen Ländern sowie in Japan durch Landwirtschaftsbetriebe erlaubt ist, die bestimmte Hygienestandards einhalten und Stichprobenkontrollen zulassen.
Brasilien hat den Verkauf von Rohmilch verboten, mit Ausnahme von abgelegenen GegendenExterner Link, die keinen Zugang zu einer konstanten Versorgung mit pasteurisierter Milch haben.
In der Schweiz ist der Verkauf von Rohmilch theoretisch verboten beziehungsweise nur unter Einhaltung bestimmter Bedingungen erlaubt. Gemäss der schweizerischen Lebensmittelgesetzgebung darf Rohmilch nicht zum unmittelbaren Konsum beworben oder angeboten werden.
Doch rund 400 so genannte «Milchautomaten» stehen in der ganzen Schweiz. Hier können Konsumentinnen und Konsumenten während 24 Stunden auf Knopfdruck Rohmilch beziehen.
«Rohmilch ist nicht konsumfertig. Die Abgabestelle ist daher verpflichtet, über Haltbarkeit, Aufbewahrungsbedingungen und Behandlung von Rohmilch zu informieren», schreibt das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BVL) auf Anfrage.
Anders gesagt: Ein Verzicht auf die Hitzebehandlung liegt in der Schweiz in der Eigenverantwortung der Konsumierenden und nicht in der Verantwortung der Milchproduzierenden. Pasteurisierte Milch hingegen muss mindestens 15 Sekunden lang auf 72 Grad Celsius erhitzt und schnell abgekühlt worden sein, bevor sie in den Verkauf gelangt.
Die Schweizer Milchbäuerinnen und -bauern halten sich also an die Vorschriften, indem sie ein Etikett auf den Automaten anbringen, das die Käufer:innen darauf hinweist, dass sie die Milch vor dem Konsum auf mindestens 70 Grad erhitzen, bei 5 Grad oder weniger aufbewahren sowie innerhalb von 3 Tagen konsumieren müssen.
Diese klare Deklaration ist erforderlich. «Bisher hat es kaum Probleme mit dieser Regelung gegeben», sagt Thomas Reinhard, Leiter Projekte und Support bei Swissmilk, dem Verband der Schweizer Milchproduzenten.
Neben einem Rohmilchautomaten eines Bauernhofs in der Nähe der Bundesstadt Bern, den SWI swissinfo.ch besucht hat (siehe Video), standen indes Trinkbecher.
Dies deutet darauf hin, dass einige Konsumentinnen und Konsumenten die Rohmilch an Ort und Stelle trinken, ohne sie nach Hause zu bringen, um sie gemäss Vorschriften zu erhitzen.
Die Schweizer Milchbäuerinnen und -bauern verdienen mit dem Verkauf von Rohmilch nicht viel, aber es hilft ihnen, ihr Geschäft zu diversifizieren.
«Der Rohmilchautomat ist in der Anschaffung recht teuer. Der Verkauf von Rohmilch ist nicht sehr profitabel, aber ich decke meine Kosten. Es ist eher eine Dienstleistung für meine Kundschaft, welche dieses Produkt wünscht», sagt Nicolas Pellaud, der im westschweizerischen Skigebiet Nendaz eine kleine Molkerei und Käserei betreibt.
Auch für Esther Mottier geht es nicht um finanzielle Vorteile, sondern um das Erfüllen von Kundschaftswünschen. Der Rohmilchautomat neben ihrem Bioladen in Château-d’Oex diene einer Nischengruppe an Kund:innen, etwa Personen, die gewisse Unverträglichkeiten haben oder diese Milch aus anderen Gründen bevorzugen.
«Der Verkauf von Rohmilch über einen Automaten bringt zwar einen besseren Preis pro Liter als der Verkauf an Gross- oder Detailhändler. Die verkauften Mengen sind jedoch sehr begrenzt und reichen nicht aus, um diesen Verkaufskanal wirklich lukrativ zu machen», sagt Mottier.
Die Gesetzgebung im Zusammenhang mit Rohmilch ist Teil einer umfassenderen Debatte über die positiven Effekte und Risiken, die mit dem Konsum von Rohmilch verbunden sind.
Vor vier Jahren führte das Schweizer Agrarforschungsinstitut Agroscope eine Studie über die gesundheitlichen Auswirkungen von RohmilchExterner Link durch und kam zum Schluss, dass Rohmilch und Rohmilchprodukte eine positive Wirkung auf die Vielfalt des Darmmikrobioms haben.
Gemäss einer 2022 von der US Food and Drug Administration durchgeführte AnalyseExterner Link zu Lebensmittelsicherheit und Ernährung konsumierten etwa 4,4% der Erwachsenen in den USA im Vorjahr mindestens einmal Rohmilch.
Es handelte sich zumeist um jüngere Personen, die in ländlichen Gegenden lebten sowie in einem Bundesstaat, in dem der Verkauf von Rohmilch im Einzelhandel legal ist.
Eine 2014 von der Oregon State University durchgeführte UmfrageExterner Link unter Rohmilchkonsument:innen im Nordwesten der USA ergab, dass der Geschmack (72%), der subjektiv wahrgenommene Vorteil für die Gesundheit (67%), die Unterstützung lokaler Bauernhöfe (60%) und die Krankheitsvorbeugung (50%) die Hauptgründe für den Konsum von Rohmilch waren.
Zurück nach Iowa. «Ich habe mich für mein Anliegen eingesetzt, um den Bürgerinnen und Bürgern von Iowa eine Wahlfreiheit zu ermöglichen. Sie sollen selbst über Vorteile und Risiken entscheiden und die Verantwortung übernehmen, ähnlich wie in der Schweiz», sagt Politiker Jason Schultz.
Gesundheitliche Risiken
Trotz des jüngsten Comebacks zeigt die wissenschaftliche Forschung gleichzeitig auf, dass Rohmilchkonsum gesundheitliche Risiken bergen kann.
Nach Angaben des US-Zentrums für Krankheitskontrolle und Prävention (CDCExterner Link) «kann der Verzehr von Rohmilchprodukten Menschen Keimen wie Campylobacter, Cryptosporidium, E. coli, Listeria, Brucella und Salmonellen aussetzen».
Die US Food and Drug Administration, das Center for Disease Control oder Ärzteverbände wie die American Academy of Pediatrics warnen vor Rohmilch.
Im Juli erkrankten 165 Amerikaner:innen (vor allem Kinder) an Salmonellen. Der Ausbruch wurde mit einem Betrieb in Kalifornien in Verbindung gebracht, der Rohmilch verkauft hatte.
In der Schweiz wird auf Rohmilchautomaten nicht mit Warnungen auf die Risiken des Rohmilchkonsums hingewiesen. Artikel 13 des LebensmittelgesetzesExterner Link gibt dem Bundesrat die Befugnis, besondere Kennzeichnungsvorschriften zu erlassen, namentlich um auf «besondere Gefahren» hinzuweisen.
Diese Möglichkeit wurde bisher aber nicht genutzt, um die Konsumentinnen und Konsumenten vor den Risiken von Rohmilch zu warnen – zumindest bisher noch nicht.
Neben gefährlichen Bakterien ist ein weiteres potenzielles Risiko bekannt geworden: die Vogelgrippe. Ende März wurde in den USA bei Milchvieh die hochpathogene Vogelgrippe nachgewiesen.
Forschende wiesen das Vogelgrippevirus in 57,5% von 275 Rohmilchproben nach, die von Herden in den vier betroffenen Bundesstaaten entnommen worden waren. Weitere Tests ergaben, dass ein Viertel dieser Proben infektiöse Viren enthielt.
Bei einer Folgestudie wurde Rohmilch künstlich mit Vogelgrippeviren angereichert. Durch eine Pasteurisierung konnten diese alle abgetötet werden.
«In der Schweiz und in Europa gibt es derzeit keine bekannten Fälle von Vogelgrippe bei Kühen. Daher sehen wir derzeit keine Notwendigkeit, den Verkauf von Rohmilch zu verbieten», erklärt eine Sprecherin des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen.
Das Institut für Virologie und Immunologie des Bundes prüft jedoch in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen landwirtschaftlichen Forschungsanstalt Agroscope die möglichen Risiken, die mit dem Vorhandensein von Vogelgrippeviren in Rohmilch verbunden sind.
«Wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen sollten, werden wir entsprechende Massnahmen ergreifen», sagt eine Sprecherin.
Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob
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