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Was ist ein fairer Preis für ein Medikament?

Eine Frau mit Schutzkleidung in einer Apotheke
Zeit für mehr Transparenz in der Branche, fordert die Expertin. KEYSTONE / CHRISTIAN BEUTLER

Die Diskussionen darüber, ob Medikamente, die Millionen kosten, ihr Geld wert sind, nehmen zu. Gleichzeitig hüllen sich viele Regierungen in Schweigen, wenn es um die mit Pharmaunternehmen ausgehandelten Preise geht. Der Weg zu fairen Preisen führt über mehr Transparenz, meint die Rechts- und Medizinexpertin Kerstin Noëlle Vokinger.

SWI swissinfo.ch: Niemand scheint mit den Medikamentenpreisen zufrieden zu sein. Die Pharmafirmen sagen, dass die Bemühungen, die Preise zu dämpfen, die Innovation bremsen. Gleichzeitig versuchen Patient:innen und Gesundheitsbehörden, mit zunehmend teureren Medikamenten zurechtzukommen. Was ist der Kern des Problems?

Kerstin Noëlle Vokinger: Zunächst einmal ist das Problem nicht neu. Wir diskutieren schon lange darüber, was ein fairer Preis ist, aber die Situation hat sich nur beschleunigt und verschärft.

Ein Problem ist, dass wir mehr Medikamente mit hohen Preisen haben. Die jährlichen Behandlungskosten können bei manchen Medikamenten über 150’000 Dollar betragen, und dann gibt es Gentherapien, die mehr als zwei Millionen Dollar kosten. Das ist eine neue Dimension.

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Ein weiteres Problem ist, dass die Evidenz für die Wirksamkeit vieler Medikamente zum Zeitpunkt der Zulassung abgenommen hat.

Das liegt zum Teil daran, dass in den USA, aber auch in Europa, der Schweiz und anderen Ländern immer häufiger beschleunigte Zulassungsverfahren angewendet werden.

Sie sollen Anreize schaffen, Medikamente mit hohem therapeutischen Nutzen zu entwickeln und rasch verfügbar zu machen.

Studien haben gezeigt, dass die Hersteller, obwohl sie zu einem späteren Zeitpunkt zusätzliche Evidenz vorlegen sollten, dies nicht immer tun oder verzögern.

Weniger Evidenz und höhere Preise sind eine schädliche Kombination für die Patient:innen und die Gesellschaft.

Porträt von Kerstin Noëlle Vokinger
Kerstin Noëlle Vokinger hat an der Universität Zürich in Rechtswissenschaften und Medizin promoviert und verfügt über einen Master-Abschluss der Harvard Law School. Derzeit bekleidet sie eine Doppelprofessur an der Juristischen und der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich, wo sie einen Lehrstuhl für Regulierung in Recht, Medizin und Technologie innehat. zVg

Warum fordern die Regierungen nicht mehr Evidenz?

Die Regierungen stehen unter Druck, den Patient:innen neue Medikamente zur Verfügung zu stellen.

Es ist nicht überraschend, dass hochpreisige Medikamente oft mit weniger Evidenz einhergehen, da es sich häufig um Medikamente zur Behandlung tödlicher Krankheiten handelt.

Tatsächlich investieren wir bis zu einem gewissen Grad in die Hoffnung. Das ist verständlich, weil zum Beispiel Patient:innen mit seltenen oder tödlichen Krankheiten Behandlungen brauchen.

Wie man aber über den Preis eines Medikaments verhandeln, wenn man seinen tatsächlichen therapeutischen Wert nicht kennt? Dieser tatsächliche Wert kann am Ende geringer sein als zum Zeitpunkt der Zulassung angenommen wurde.

Zudem müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass diese Medikamente schwere Nebenwirkungen haben können. Es ist wichtig, dass die Beweisschwelle nicht weiter gesenkt wird.

Wie sollten die Gesundheitsbehörden mit diesem Dilemma umgehen?

Wir müssen bei der beschleunigten Zulassung vorsichtiger sein und uns wirklich auf jene Medikamente konzentrieren, die das grösste Potenzial für einen hohen therapeutischen Nutzen haben. Es braucht viel, um Innovationen auf den Markt zu bringen, die den Patient:innen wirklich nützen.

Die Unternehmen wollen dafür belohnt werden. Es ist für sie profitabel, Medikamente früher auf den Markt zu bringen, aber der Mangel an Evidenz sollte sich auch im Preis wiederspiegeln.

Einige Regierungen und Hersteller:innen unterzeichnen Vereinbarungen, bei denen die Bezahlung davon abhängt, ob ein Medikament tatsächlich bestimmte vordefinierte Ergebnisse bei den Patient:innen erzielt. Ist das eine mögliche Lösung?

Diese Art von Marktzugangsvereinbarungen sind in manchen Situationen sinnvoll, aber wir müssen darauf achten, dass es keine Schlupflöcher gibt, die die Kosten in die Höhe treiben und dazu führen, dass unwirksame oder sogar schädliche Medikamente auf den Markt kommen.

Das grosse Problem bei vielen dieser Vereinbarungen ist die mangelnde Transparenz, die zu höheren Preisen führen kann. Studien haben gezeigt, dass vertrauliche Rabatte zu höheren Preisen und längeren Verhandlungsprozessen führen.

Viele Länder, darunter auch die Schweiz, sind in den letzten zehn Jahren bezüglich der Preisgestaltung von Arzneimitteln verschwiegener geworden. Warum war es so schwierig, mehr Transparenz in die Preisbildung zu bringen?

Wir befinden uns in einer Art Gefangenendilemma: Wenn ein Land nur an sich selbst denkt, weil es glaubt, durch Geheimhaltung einen tieferen Preis zu erzielen, dann funktioniert das ganze System nicht mehr – weil dann auch andere die Motivation verlieren, transparent zu sein.

Viele Länder, wie etwa England und Frankreich, sind schon seit einiger Zeit weniger transparent, so dass die Schweiz dachte, sie müsse auch mitspielen und anfing, vertrauliche Rabatte einzuführen. Das Schweizer Parlament erwägt sogar eine Gesetzesänderung, um solche Rabatte von der Ausnahme zur Regel zu machen.

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Dadurch entsteht ein erhebliches Machtungleichgewicht, da es für die Gesundheitsbehörden schwierig wird, für einen bestimmten Preis zu argumentieren – da nur die Hersteller:innen wissen, was andere Länder zahlen.

Darüber hinaus haben aber auch die Gesellschaft und die Patient:innen ein Recht darauf zu erfahren, wie viel eine Behandlung kostet, zumal sie ja zahlen. Deshalb bin ich der Meinung, dass die Transparenz der Medikamentenpreise obligatorisch sein sollte.

Sie haben umfangreiche Untersuchungen zu den Preisen von Krebsmedikamenten durchgeführt. Ein Ergebnis ist, dass der Preis nicht immer mit dem klinischen Nutzen korreliert. Sollte die Wirksamkeit den Preis bestimmen?

Es gibt zwei Elemente. Das eine ist der therapeutische Wert eines Medikaments. Dieser basiert auf klinischen Endpunkten wie der Gesamtüberlebensrate im Falle eines Krebsmedikaments.

Es gibt Forderungen nach weiteren Massstäben, wie z. B. dem Verlust für die Gesellschaft, wenn Personen krankheitsbedingt nicht arbeiten können.

Ich halte diese Faktoren zwar für wichtig, habe aber Bedenken, sie in Preisverhandlungen zu berücksichtigen. Denn je mehr schwer messbare Elemente wir einbeziehen, desto schwieriger wird es, den Wert von Arzneimitteln zu beurteilen und zu vergleichen.

Wenn wir den therapeutischen Wert eines Medikaments kennen und davon ausgehen, dass es einen höheren Wert hat als das Vergleichsmedikament, stellt sich die nächste Frage: Soll es 100 Franken oder eine Million Franken mehr kosten als das Vergleichsmedikament?

Hochwertige Medikamente sollten teurer sein als niedrigwertige, aber wir müssen uns auch fragen, wie viel teurer sie sein sollten. Grossbritannien tut dies bereits. Das System ist bei weitem nicht perfekt, aber es verbindet den Wert mit dem Preis.

Im Rahmen des Inflation Reduction Act plant die US-Regierung, die Preise für manche Medikamente, die vom staatlichen Versicherungsprogramm Medicare abgedeckt werden, zu verhandeln. Dies ist ein Versuch, die Preise in den USA zu senken, hat aber viele Pharmaunternehmen verärgert. Inwiefern ist das eine Revolution?

Es ist ziemlich revolutionär, nachdem wir so lange Zeit einen freien Markt mit freier Preisbildung hatten. Aus europäischer Sicht scheint es ein kleiner Schritt zu sein, jedes Jahr die Preise für nur zehn Medikamente auszuhandeln, die nicht einmal neu sind [was das staatliche Medicare-System tun wird].

Zehn Medikamente pro Jahr sind ein wichtiger Ausgangspunkt, aber wie US-Präsident Biden bereits sagte, sollte er ausgeweitet werden. Die USA sind der grösste Pharmamarkt der Welt, und dort legen die Unternehmen in der Regel ihre Preise fest, so dass dies enorme Auswirkungen haben wird.

Wie wird sich diese Reform auf die Mediekamentenpreise auswirken?

Das Ziel ist, dass die Preise sinken, denn ich glaube, alle sind sich einig, dass die Medikamente in den USA überteuert sind. Jetzt kommt es darauf an, welche Schlupflöcher es gibt und wie die Preise verhandelt werden.

Pharmaunternehmen sagen, dass der Schritt der USA und andere Bestrebungen in Europa, die Preise zu senken, negative Auswirkungen auf die Innovation haben könnten. Was ist Ihre Meinung dazu?

Das ist eine Behauptung ohne Beweise. Die Forschungs- und Entwicklungskosten für Medikamente sind nicht einmal transparent, wir haben nur grobe Schätzungen.

Ein wichtiger Schritt wäre, dass die Unternehmen ihre Forschungs- und Entwicklungskosten transparent machen, einschliesslich der Höhe der öffentlichen Mittel, die sie erhalten.

Editiert von Nerys Avery, Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger

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