Medikamentenpreise: Die Schweiz erwägt geheime Absprachen mit der Pharmaindustrie ‒ das steckt dahinter
Um die Kosten im Gesundheitswesen zu senken, erwägt das Schweizer Parlament Massnahmen bei der Preisgestaltung von Medikamenten und die Geheimhaltung von Absprachen mit der Pharmaindustrie. Das stösst auf Kritik.
Der Ständerat, die kleine Kammer in Bern, hat in der Sommersession ein umfassendes Massnahmenpaket zur Eindämmung der Kostenspirale im Gesundheitswesen verabschiedet.
Dazu gehört auch eine Reihe von Vorschlägen, um die Medikamentenpreise zu senken und den Zugang zu neuen, teuren Behandlungen zu verbessern.
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Noch müssen sich Bundesrat und Nationalrat mit der neuesten Version des Kostendämpfungspakets befassen. Doch Gesundheits- und Rechtsexpert:innen schlagen bei einigen Vorschlägen zur Preisgestaltung von Medikamenten bereits Alarm.
Sie warnen davor, dass ein Teil der Massnahmen nicht nur keine Kostendämpfung bewirken, sondern langfristig zu höheren Arzneimittelpreisen führen und globale Auswirkungen auf die Medikamentenpreise haben könnten.
Welche Vorschläge zur Eindämmung der Arzneimittelpreise gibt es?
Eine Massnahme des Kostendämpfungspakets sieht vor, sogenannte Preismodelle, auch Managed Entry Agreements genannt, im Krankenversicherungsgesetz zu verankern.
Beim Preismodell handelt es sich um eine Vereinbarung zwischen dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) und einem Pharmaunternehmen, welche die Bedingungen für die Aufnahme eines Medikaments in die Spezialitätenliste Externer Linkund damit in die Krankenversicherung festlegt.
Es gibt verschiedene Arten von Preismodellen. Eines der gängigsten Modelle ist das Mengenrabattmodell, bei dem ein Pharmaunternehmen bei Erreichen einer bestimmten Umsatzschwelle Rabatte oder Rückvergütungen gewährt.
Ein anderes Modell basiert auf der Leistung eines Arzneimittels und wird häufig für neue, teure Behandlungen wie Gentherapien verwendet, für die es nur wenig langfristige klinische Evidenz gibt.
Bei diesem Modell muss ein Versicherer nur dann Zahlungen an einen Arzneimittelhersteller leisten, wenn bestimmte gesundheitliche Ergebnisse bei Patient:innen erzielt werden.
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Wie kommen Medikamentenpreise zustande?
Die im Parlament diskutierten Massnahmen würden solche Preismodelle nicht nur gesetzlich verankern, sondern auch eine Geheimhaltung der Preise ermöglichen.
Das würde bedeuten, dass die Öffentlichkeit weder den Endpreis des Medikaments noch die vereinbarten Konditionen erfährt.
Eine weitere Massnahme, die im Rahmen des Kostendämpfungspakets diskutiert wird, zielt darauf ab, den Patient:innen neue Medikamente schneller zugänglich zu machen.
Statt abzuwarten, bis sich Krankenkasse und Hersteller über Preis und Konditionen geeinigt haben, sollen Patient:innen ein Medikament sofort beziehen können, wenn es von der Schweizerischen Arzneimittelbehörde Swissmedic zugelassen ist.
Die Versicherer würden bis zu einem bestimmten Zeitpunkt den vom Pharmaunternehmen festgelegten Preis bezahlen. Die im Parlament diskutierte Massnahme orientiert sich am deutschen Modell, das einen sofortigen Zugang zur Behandlung ermöglicht.
Der Vorschlag kommt zu einer Zeit, in der die Verhandlungen angesichts neuer, teurer Behandlungen immer komplexer werden.
Eine Umfrage Externer Linkder European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EEPIA) und ihrer Verbände hat ergeben, dass es in der Schweiz im Jahr 2023 durchschnittlich 301 Tage dauert, bis eine neue Behandlung auf die Spezialitätenliste gesetzt wird. Im Vergleich zu durchschnittlich 42 Tagen im Jahr 2015 liegt dieser Wert deutlich über der gesetzlichen Frist von 60 Tagen.
Obwohl eine solche Massnahme den Zugang zu Behandlungen verbessern würde, könnte sie letztlich zu höheren Preisen führen, warnen einige Expert:innen.
Studien haben gezeigt, dass es sehr schwierig ist, Preise neu zu verhandeln oder ein Medikament wieder vom Markt zu nehmen. Das bedeute, dass der erste Preis oft der Endpreis sei, sagt die Rechts- und Medizinexpertin Kerstin Noëlle Vokinger von der Universität Zürich.
«Das deutsche Modell sollte nicht übernommen werden. Es würde zwar einen schnelleren Zugang zu Medikamenten garantieren, aber zu höheren Kosten für das Schweizer Gesundheitssystem und die Haushalte führen», sagt sie gegenüber SWI swissinfo.ch.
Ausgehend von den Arzneimitteln, die zwischen 2011 und 2022 neu erstattet werden, errechnete Externer Linksie für die Schweiz Mehrkosten von 655 Millionen Franken pro Jahr, wenn sie das deutsche Modell übernehmen würde.
In der Schweiz gibt es bereits einen Artikel im Gesundheitsgesetz (Art. 71) zum Off-Label-Use, der es Ärzt:innen erlaubt, einen Sonderzugang zu einer Behandlung zu beantragen, die nicht Gegenstand von Verhandlungen war.
Warum soll die Preisgestaltung bei Medikamenten geheim bleiben?
Das Kostendämpfungspaket wurde im Jahr 2022 vom Bundesrat vorgeschlagen, um das Kostenwachstum im Gesundheitswesen zu bremsen.
Nachdem das Schweizer Stimmvolk im Juni zwei Initiativen zur Eindämmung der Gesundheitsausgaben abgelehnt hat, ist es noch dringender geworden, Lösungen für die steigende finanzielle Belastung der Schweizer Haushalte zu finden.
Die Arzneimittelpreise gelten als einer der wichtigsten Bereiche für Einsparungen. Immer mehr Therapien mit beschränkter klinischer Evidenz und einem Preis von über 100’000 Franken kommen auf den Markt und stellen die Krankenversicherer vor neue Herausforderungen.
Viele Länder, insbesondere in Europa, haben Preismodelle eingeführt, um neue Therapien verfügbar zu machen und gleichzeitig ihre eigenen finanziellen Risiken zu kontrollieren.
Gemäss einer StudieExterner Link haben 28 von 41 Ländern mit hohem Einkommen und der Europäischen Union Vereinbarungen zum kontrollierten Zugang getroffen.
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Geheime Preisabsprachen gehen zu Lasten der Patienten
In der Schweiz wurden in Einzelfällen bereits Preismodelle vereinbart, für eine regelmässigere Anwendung braucht es jedoch eine gesetzliche Grundlage.
Pharmaunternehmen sind zunehmend bereit, Rabatte und andere Preismodelle unter der Bedingung zu akzeptieren, dass diese vertraulich bleiben. Sie argumentieren, dass die Vertraulichkeit es ihnen ermöglicht, ihre Preisstrategien an die unterschiedlichen Bedürfnisse der einzelnen Länder anzupassen.
«Die Vertraulichkeit von Preismodellen ist unerlässlich, wenn wir weiterhin innovative Medikamente anbieten wollen», sagte Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider im Parlament.
«Ohne diese Vertraulichkeit könnten die Preise höher ausfallen, was die Prämien stark belasten würde.» Es bestehe auch die Gefahr, dass Unternehmen neue Behandlungen in der Schweiz gar nicht oder nur verzögert anbieten.
Die Regierung schätzt, dass die Anwendung von Mengenrabatten zu Einsparungen von rund 400 Millionen Franken führt. Eine 2017 durchgeführte UmfrageExterner Link in 11 Ländern mit Preismodellen ergab, dass die Rabatte für neue Arzneimittel zwischen 20% und 29% liegen.
Warum ist der Vorschlag so kontrovers?
Die Rechts- und Medizinexpertin Kerstin Noëlle Vokinger von der Universität Zürich argumentiert, dass Preismodelle oder Erstattungsverträge in bestimmten Situationen unproblematisch seien, dass aber die zunehmende Geheimhaltung bedenklich sei.
Auch in Deutschland wird diskutiert, ob vertrauliche Rabatte Teil des Gesundheitsgesetzes werden sollen.
«Wir befinden uns in einer Art Gefangenendilemma», sagte Vokinger Anfang dieses Jahres gegenüber SWI swissinfo.ch. «Wenn ein Land nur an sich denkt, weil es glaubt, durch Geheimhaltung einen tieferen Preis zu erzielen, dann funktioniert das ganze System nicht mehr, weil dann auch die anderen Länder die Motivation verlieren, transparent zu sein.»
Die Schweiz hat eines der transparentesten Preissysteme der Welt. Sobald die Preise zwischen Gesundheitsbehörden und Arzneimittelherstellern vereinbart sind, werden sie in der Spezialitätenliste veröffentlicht.
So kann sich jedes Land bei den Verhandlungen mit den Arzneimittelherstellern daran orientieren. Auch die Schweiz orientiert sich bei ihren eigenen Verhandlungen an den Preisen einer Referenzgruppe von Ländern.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat dringend von vertraulichen Rabatten abgeraten und davor gewarnt, dass diese zu einer Verzerrung der Medikamentenpreise führen können.
Die Schweiz hat sich 2019 einer Resolution der WHO angeschlossen, welche die Länder auffordert, Informationen über Nettopreise auszutauschen und einen besseren Datenaustausch zu unterstützen.
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Was ist ein fairer Preis für ein Medikament?
Die zunehmende Geheimhaltung steht dem entgegen. Sie bringe die Regierungen in eine schwache Verhandlungsposition gegenüber den Pharmaunternehmen, sagte Patrick Durisch, Leiter Gesundheitspolitik bei der Schweizer NGO Public Eye.
«Wir brauchen mehr Transparenz, nicht weniger. Die Pharmaindustrie gewinnt mit geheimen Rabatten, indem sie die Listenpreise für neue patentierte Medikamente überall hoch hält», schrieb Durisch in einer E-Mail.
Laut einer von Vokinger geleiteten Studie stieg die Zahl der rabattierten Medikamente in der Schweiz von einem im Jahr 2012 auf 51 im Oktober 2020. Bei mindestens 14 davon waren weder die Höhe des Rabatts noch der an die Pharmahersteller bezahlte Preis öffentlich zugänglich.
Ohne Transparenz ist es schwierig zu beurteilen, ob das Bundesamt für Gesundheit wirklich ein gutes Geschäft macht. Dies bestätigte auch die Schweizer Parlamentarierin Flavia Wasserfallen von der Sozialdemokratischen Partei während der Debatte im Parlament.
«Letztlich bleibt es eher unklar und intransparent, ob das ausgewiesene Einsparpotenzial tatsächlich eintritt», sagte sie.
Eine im Dezember veröffentlichte BeobachtungsstudieExterner Link zu Managed-Entry-Verträgen in Italien, einem der ersten Länder, das sie eingeführt hat, fand kaum Belege dafür, dass solche Modelle zu niedrigeren Arzneimittelausgaben führen.
Ein Hauptgrund dafür ist laut Vokinger, dass die Pharmaunternehmen oft mit höheren Preisen in die Verhandlungen gehen, als sie es bei transparenten Preisen tun würden. Zudem zögen sich die Verhandlungen in der Regel in die Länge und verzögerten den Markteintritt neuer Medikamente.
Der Eidgenössiche Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte hat sich bereits gegen die Einschränkung der Transparenz ausgesprochen, da sie dem Öffentlichkeitsprinzip (dem öffentlichen Zugang zu amtlichen Dokumenten) widerspreche.
Letztlich, so Vokinger, gehe es um eine Frage der Rechenschaftspflicht. «Die Gesellschaft und die Patienten haben ein Recht zu wissen, was eine Behandlung kostet.»
Editiert von Balz Rigendinger/ts, aus dem Englischen übertragen von Michael Heger
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