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Wie Japan Big Pharma vergrault hat und nun zurückgewinnen will

Eine Apotheke
Nach Angaben des japanischen Gesundheitsministeriums vom März 2023 haben 143 in Europa oder den USA bereits zugelassene Arzneimittel in Japan noch kein grünes Licht erhalten. Afp Or Licensors

Japan ist der drittgrösste Pharmamarkt der Welt, wird von den Arzneimittelherstellern aber zunehmend übersehen. Dies nachdem strenge Preiskontrollen die Einführung neuer Medikamente behindert und die Innovation erstickt haben. Jetzt schlägt die Regierung zurück.

Japan hat ein Arzneimittelproblem. Früher ein wichtiger Entwicklungsstandort für neue und innovative Arzneimittel, ist das Land hinter seine Konkurrenten in den USA, Europa und sogar China zurückgefallen, das sich zu einem pharmazeutischen Kraftzentrum entwickelt hat.

Eine jahrzehntelange Politik zur Senkung der Arzneimittelpreise in Anbetracht der steigenden Gesundheitskosten hat auch ausländische Pharmakonzerne davon abgehalten, ihre Medikamente im Land auf den Markt zu bringen.

Die «Attraktivität des inländischen Pharmamarktes nimmt für in- und ausländische Pharmaunternehmen ab», schreibt Hideki Sato, Leiter der Medienarbeit bei Chugai Pharmaceutical, auf Anfrage.

Chugai, ein japanischer Arzneimittelentwickler und -hersteller, der von der schweizerischen Roche kontrolliert wird, war im vergangenen Jahr der drittgrösste Verkäufer von verschreibungspflichtigen Medikamenten in Japan.

Vas Narasimhan, CEO von Novartis in der Schweiz, sagte im Januar gegenüber der japanischen Nachrichtenagentur NikkeiExterner Link, dass Arzneimittelverluste (Nichtverfügbarkeit von Arzneimitteln, weil sie nicht auf den Markt kommen oder zurückgezogen werden) und Arzneimittelverzögerungen (Verzögerungen bei der Verfügbarkeit von Arzneimitteln) zu ernsten Problemen im Land geworden seien.

Regierung lanciert Reformen

Im vergangenen Jahr hat die japanische Regierung eine Welle von Reformen eingeleitet, um ausländische Arzneimittelhersteller anzuziehen. Dies vor dem Hintergrund der Befürchtung, dass Patient:innen keinen Zugang zu neuen Arzneimitteln mehr haben und das Land in der Arzneimittelforschung zurückfällt.

Die Strategie machte am 30. Juli einen grossen Schritt vorwärts, als Premierminister Fumio Kishida eine Roadmap ankündigteExterner Link, um Japan zu einem «Land der Arzneimittelentdeckung» zu machen und die Versorgung mit den neuesten Arzneimitteln sicherzustellen. Gleichzeitig betonte er, dies sei eine der «wichtigsten Massnahmen» der Regierung.

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«Einige japanische Patienten haben keine andere Wahl, als entweder für den Import von Medikamenten zu zahlen oder als letzten Ausweg ins Ausland zu reisen», sagte Kishida am 30. Juli auf dem Gate Opening Summit on Innovative Drug Discovery in Tokio.

Es handelt sich um ein Treffen, an dem Regierungsbeamt:innen, Expert:innen und Abgesandte grosser Pharmaunternehmen, darunter auch von Novartis, teilnahmen.

«Wir wollen nicht, dass die Patienten sich so fühlen, und wir wollen auch ein Ort sein, wo die Arzneimittelforschung nicht nur den Patienten in Japan, sondern in der ganzen Welt hilft.»

Nach Angaben des japanischen Gesundheitsministeriums vom März 2023 haben 143 in Europa oder den USA bereits zugelassene Arzneimittel in Japan noch kein grünes Licht erhalten.

Von diesen Medikamenten gibt es für 86 bislang keine Pläne, eine Zulassung in Japan überhaupt zu beantragen.

Die neue Roadmap sieht Massnahmen vor, die Japan zu einem attraktiven Land für Pharmaunternehmen machen sollen. So sollen in den nächsten zwei Jahren klinische Studien zu nicht verfügbaren Medikamenten gestartet und bis 2028 mehr als zehn Start-ups im Bereich der Medikamentenentwicklung gegründet werden, die eine umfangreiche finanzielle Unterstützung erhalten.

Die Massnahmen knüpfen an weitere Reformen an, die im April in Kraft getreten sind, darunter ein Preisaufschlag Externer Linkvon 5-10 % zur Beschleunigung der Einführung neuer Medikamente.

«Es wird erwartet, dass sich dies positiv auf die Pharmaunternehmen auswirken wird», sagte Sato von Chugai Pharmaceutical. Zu den weiteren Reformen gehört die Abschaffung der Verpflichtung zur Durchführung von klinischen Studien der Phase 1 in Japan.

Steigende Kosten im Gesundheitswesen

Die Wurzeln der heutigen Krise im japanischen Pharmasektor liegen in der Überarbeitung des Gesundheitssystems, die um 2011 begann. Damals führten die alternde Bevölkerung des Landes und die höheren Arzneimittelpreise zu einem sprunghaften Anstieg der Ausgaben und veranlassten die Regierung, nach Wegen zur Kostensenkung zu suchen.

Jahrzehntelang war Japan, gemessen am Umsatz, der zweitgrösste Pharmamarkt nach den USA.

Obwohl die japanische Arzneimittelbehörde von den Arzneimittelherstellern die Durchführung von klinischen Studien der Phase 1 in Japan verlangte, um die Zulassung zu erhalten, lohnte sich das Geschäft, die hohen Preise machten die Kosten wieder wett.

Eine Studie Externer Linkdes britischen Office of Health Economics aus dem Jahr 1982 ergab, dass die Arzneimittelpreise in Japan (für einen vergleichbaren Produktkorb) 17% höher waren als in der Schweiz und in Westdeutschland, über 40% höher als im Vereinigten Königreich und über 60% höher als in Frankreich oder Italien. Das Land war auch schnell bei der Zulassung und dem Entscheid über die Kostenübernahme von Arzneimitteln.

Dank massiver Investitionen in Forschung und Entwicklung wurde Japan auch zu einem wichtigen Entwickler neuer Medikamente. Etwa 16% der wichtigsten neuen Medikamente, die zwischen 1980 und 1984 international eingeführt wurden, stammten aus Japan, ein Anteil, der über dem von Deutschland (15%) und der Schweiz (13%) lag.

Ausländische Arzneimittelhersteller suchten aktiv nach japanischen Innovationen von Firmen wie Takeda, Esai und Chugai.

Doch die alternde Bevölkerung Japans setzte das nationale Krankenversicherungssystem zunehmend unter Druck.

Nach Angaben der Weltbank beliefen sich die Gesundheitsausgaben des Landes im Jahr 2000 auf 7% des BIP und werden bis 2020 auf fast 11% ansteigen.

Dies entspricht Externer Linkzwar der Entwicklung anderer OECD-Länder, doch wird in Japan ein wesentlich grösserer Anteil der Ausgaben (84%) öffentlich finanziert als im OECD-Durchschnitt (65%).

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Im Interesse gesunder Staatsausgaben begann die Regierung, die Hersteller zu Preissenkungen zu zwingen. Seit 2015 gab es mehr als 50 Änderungen an der Preisgestaltung für Medikamente, sagteExterner Link ein Vertreter der Pharmaindustrie 2022 gegenüber Reuters.

Andrew Chen, ein Berater, der ein Jahrzehnt lang in Japan gelebt hat und jetzt in Hongkong bei der Firma Health Advances arbeitet, sagt, dass die Arzneimittelpreise in Japan aktuell in vielen Fällen etwa halb so hoch sind wie in den USA.

Die Regierung hat nicht nur die Preise für Arzneimittel gesenkt, sondern auch strenge Kriterien für innovative Arzneimittel festgelegt, die eine beschleunigte Zulassung erhalten.

Sinkende Neuzulassungen

Diese Massnahmen haben ausländische Pharmakonzerne davon abgehalten, die Zulassung neuer Medikamente zu beantragen, und den Forschungseifer gedämpft.

Im Jahr 2023 wurden in Japan nur 20 als «neuartig» eingestufte Arzneimittel auf den Markt gebracht, die niedrigste Zahl seit 2014 und weniger als halb so viel wie im selben Zeitraum in den USA.

«Wir beobachten, dass Unternehmen ihre Produkte in Japan eher später als früher auf den Markt bringen. In der Vergangenheit war Japan einer der ersten Märkte für die Markteinführung, aber jetzt sehen wir, dass Unternehmen, insbesondere für Medikamente gegen seltene Krankheiten, anderen Märkten den Vorzug geben», sagte Chen.

Von 1995 bis 2018 ist der Anteil Japans an der Wertschöpfung der weltweiten Pharmaindustrie von 18,5% auf 5,5% gesunken, wie aus einem 2022 veröffentlichten Papier Externer Linkdes Center for Life Sciences Innovation hervorgeht. Das Zentrum ist ein Teil der Information Technology and Innovation Foundation, einer in den USA ansässigen Denkfabrik für Wissenschafts- und Technologiepolitik.

Das Papier führt den Rückgang zum Teil auf die Preisregelung zurück, welche die potenziellen Gewinne begrenzt.

Es stellt aber auch fest, dass Japans biopharmazeutische Wettbewerbsfähigkeit durch stockende staatliche Investitionen in die wissenschaftliche Grundlagenforschung, schwache Beziehungen zwischen Industrie und Universitäten, ein sich nur langsam entwickelndes Regulierungssystem und Herausforderungen bei der Internationalisierung beeinträchtigt wurde.

In der Zwischenzeit hat sich China zu einem bedeutenden neuen und schnell wachsenden Markt und zu einem noch wichtigeren Innovationszentrum entwickelt, was zu noch mehr Wettbewerb führt.

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Der Anteil japanischer Unternehmen an den ersten klinischen Studien ging von 11% im Jahr 2013 auf 4% im Jahr 2023 zurück. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil Chinas von 3% auf 28%, wie aus einem IQVIA-BerichtExterner Link hervorgeht. China hat ausserdem Japan als zweitgrössten Pharmamarkt überholt.

Der Weg zur Erneuerung

«Der Hauptgrund, warum die Entwicklung in Japan stagniert, ist, dass der japanische Markt nicht attraktiv ist», sagt ein Vorstandsmitglied eines japanischen Pharmaunternehmens, das nicht genannt werden möchte gegenüber SWI swissinfo.ch. «Profitgierige Unternehmen verlieren zunehmend den Anreiz, in Japan neue Medikamente zu entwickeln.»

Die Beantragung der Zulassung stellt für kleine Biotechs oder Start-ups, die bei den Medikamententechnologien an vorderster Front stehen, viele von ihnen aus den USA, eine grosse Belastung dar.

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Einige Pharmakonzerne sagen, dass sie sich angesichts der sich beschleunigenden Reformen weiterhin in dem Land engagieren.

«Japan ist eine unserer vier vorrangigen Regionen, in denen wir schon innovative Behandlungsoptionen einführen konnten», erklärt ein Sprecher von Novartis auf Anfrage.

«Japan ist nach wie vor ein grosser und attraktiver Markt mit einem hohen wissenschaftlichen Niveau und billigen Arbeitskräften, vor allem angesichts der gegenwärtig so schwachen Währung», sagt Ryo Hanamura, Partner bei der Unternehmensberatungsfirma Arthur Little in Japan.

Editiert von Nerys Avery/vm/ts, aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger

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