Einstein: Die Relativität der touristischen Vermarktung
Beide Städte haben ein Münster, in beiden Städten lebte Albert Einstein, häufig als "erster Popstar der Physik" bezeichnet. Während das süddeutsche Ulm dieses Erbe noch etwas stiefmütterlich bewirtschaftet, geht die Einstein-Manie in der Schweizer Hauptstadt Bern einem Nachkommen des Physikgenies viel zu weit.
Der Ulmer StadtführerExterner Link Karl Höb staunt: «Könnt Ihr durch Wände gehen?», fragt er zur Begrüssung. Wobei der Begriff Wand hier relativ gemeint ist: Die Mauern des Geburtshauses von Albert Einstein nahe des Bahnhofs der süddeutschen Stadt existieren nur noch symbolisch als Pflastersteine am Boden. Das Haus wurde im II. Weltkrieg vollständig zerstört, in der Fussgängerzone nachgebildet ist nur noch dessen Grundriss.
Höb empfängt mich und Dirk Homburg, Leiter Kommunikation von Ulm/Neu-Ulm TouristikExterner Link, innerhalb jenes Teils des «Hauses», der gegenwärtig noch zugänglich ist. In unserem Rücken steht eine grosse Bauplane, die für das neue Stadtquartier Sedelhöfe wirbt, das hier im Bau ist. Werden die Reste des Geburtshauses auch noch dem Boden gleichgemacht?
«Im Zuge des SedelhofprojektesExterner Link ist beabsichtigt, eine Form des Gedenkens beizubehalten / zu errichten», schreibt die Stadt Ulm auf Anfrage. Karl Höb seinerseits will sich «vehementest» für eine gute Lösung einsetzen, wie er betont.
Wenige Erinnerungen
Wer Einstein in UlmExterner Link finden will, muss danach suchenExterner Link oder eine Führung buchen. Allerdings gibt es pro Jahr lediglich eine Handvoll Führungen speziell zu diesem Thema, wie Homburg sagt. Die meisten der Touristen kämen wegen des Münsters, mit 161 Metern der höchste Kirchturm der Welt, oder wegen des Löwenmenschen, der weltweit ältesten Tierplastik. 2014 verzeichnete Ulm/Neu-Ulm 754’348 Logiernächte.
Einstein und Ulm
Albert Einstein wurde am 14. März 1879 in Ulm geboren und lebte dort bis zum Umzug nach München mit 15 Monaten.
«Die Stadt der Geburt hängt dem Leben als etwas ebenso Einzigartiges an wie die Herkunft von der leiblichen Mutter. Auch der Geburtsstadt verdanken wir einen Teil unseres Wesens. So gedenke ich Ulm in Dankbarkeit, da es edle künstlerische Tradition mit schlichter und gesunder Wesensart verbindet», schrieb er an die Ulmer Abendpost zu seinem 50. Geburtstag am 18. März 1929.
«Das Problem oder die Herausforderung hier ist, dass es zu Einstein nicht so arg viel zu sehenExterner Link gibt, was noch erhalten ist», sagt Homburg. Zwar steht neben dem Grundriss des Geburtshauses ein Denkmal des Schweizer Architekten Max Bill, doch das Einstein-Fenster im Münster ist etwas versteckt, das Haus zum Engländer, wo Einsteins Vater Bettfedern verkaufte, nicht zugänglich, und der Einstein-Brunnen bei der Kaserne liegt für viele Touristen zu abgelegen. Laut Homburg will man in Zukunft Einstein verstärkt vermarkten.
Höb, der seine Führungen als «Karl Keinstein»Externer Link multimedial durchführt, holt das Äusserste aus den wenigen Standorten heraus. Seine Aktentasche ist gefüllt mit Bildern und Tondokumenten, aus der Jackentasche zieht er alle möglichen Zitate hervor.
Er setzte auch durch, dass im Stadtarchiv eine zusätzliche Vitrine zu Einstein gezeigt wird. «Viele wissen gar nicht, dass Einstein hier geboren wurde.» Die ersten 15 Monate im Leben – die Einstein in Ulm verbrachte – seien zentral: «Die Synapsen im Gehirn, die Netzwerke, deren Basis ist: Ulm.»
Beliebter Originalschauplatz
Länger, etwa sieben Jahre, lebte Einstein in Bern, wo er 1905 neben seiner Arbeit die Spezielle Relativitätstheorie entwickelte. Das Haus an der Kramgasse 49, wo er einige Zeit wohnte, ist heute ein Museum.
Einstein und Bern
Einstein wuchs in München auf. 1895 kam er mit 16 Jahren in die Schweiz.
Von 1902 bis 1909 lebte er in Bern, wo er auf dem Patentamt arbeitete.
1905 gilt als sein «Annus mirabilis»: Er überraschte die Fachwelt mit fünf bahnbrechenden Arbeiten, darunter die Spezielle Relativitätstheorie.
1914 zog er von Zürich nach Berlin, wo er im Jahr darauf die Allgemeine Relativitätstheorie veröffentlichte.
Bei unserem Besuch sind im Moment keine asiatischen Touristen im Haus. Das sei eine grosse Ausnahme, sagt Jürg Rub, Leiter des Einstein-HausesExterner Link. «Es gibt Gäste, die speziell wegen Einstein nach Bern kommen, um dessen Originalwohnung zu besichtigen», betont er. Einstein sei ein «Publikumsmagnet»: Zwischen 95 und 97% der Besuchenden stammten aus dem Ausland.
In der ehemaligen Wohnung auf 55 Quadratmetern im 2. Stock schauen sich gerade Montse aus Spanien und Jon aus den USA um. Sie seien per Zufall auf das Einstein-Haus gestossen, sagt Jon. «Mir gefällt, dass man Einstein als echte Person kennenlernen kann», sagt Montse. «Ich fragte mich, als ich die Bilder von ihm als Fünfjähriger sah: Wer hätte ihm sagen können, dass er 30, 40 Jahre später das sein würde, was er wurde?», fragt sie. Auch Emma aus Grossbritannien findet es «toll, etwas über Einstein zu erfahren».
Immer mehr Touristen besuchen das Haus in der Berner Altstadt, die seit 1983 zum Unesco-Weltkulturerbe zählt: 2014 verzeichnete Bern insgesamt 718’575 Logiernächte. 46’191 Personen besuchten das Einsteinhaus, 21’799 das Einstein MuseumExterner Link im Bernischen Historischen Museum.
Alleinstellungs-Merkmal
Mehr
Mehr Verkäufe dank Einstein?
Auf Google Maps ist das Historische Museum als Einstein Museum eingetragen. «Das Einstein-Museum ist für uns ein Alleinstellungs-Merkmal», betont Strasky. «Juristisch gehört es ganz klar zum Historischen Museum. Für die Promotion ist es aber wichtig, dass dieser Name auch in den Suchmaschinen gefunden wird.»
Dass die viel kleinere Wohnung Einsteins doppelt so viele Touristen anziehen kann, sei kein Zufall, sagt Jürg Stettler, Touristiker an der Hochschule LuzernExterner Link. «Der Besuch von Originalschauplätzen von Filmen oder Persönlichkeiten ist sehr beliebt», betont er.
Zugpferd
Bern setzt bei der touristischen Vermarktung relativ stark auf den Namen Einstein. «Aus unserer Sicht haben wir mit ihm das grosse Los gezogen», sagt Nicole Schaffner, PR-Verantwortliche von Bern TourismusExterner Link. «Es freut uns, dass Einstein die Stadt so liebte.»
Manche Touristen entschieden sich bewusst wegen Einstein für einen Besuch Berns, ist sie überzeugt. Der Name sei ein touristisches Zugpferd. «Dies zeigen die guten Besucherzahlen in Einstein-Haus und Einstein Museum.» Grossveranstaltungen wie vor zehn Jahren allerdings gibt es dieses Jahr in Bern keine.
Allgemeine Relativitätstheorie
Am 25. November 1915 stellte Einstein seine Allgemeine Relativitätstheorie in der Preussischen Akademie der Wissenschaften in Berlin vor. Sie gilt als ein Jahrhundertwerk und seine grösste Glanzleistung.
Seit Einstein wissen wir, dass Zeit, Raum und Masse keine Naturkonstanten sind. Die Allgemeine Relativitätstheorie konnte das Geheimnis der Schwerkraft lüften und brachte die Welt vorwärts.
So kann etwa die Genauigkeit des Global Positioning System (GPS) nur dank der Erkenntnisse der Allgemeinen Relativitätstheorie erreicht werden.
Was Einstein später mit der Entwicklung der US-Atombombe zu tun hatte, bleibt bis heute ein Thema für Spekulationen.
«Potenzial»
Die Touristiker wollen Einstein in Zukunft «noch mehr bespielen», wie Schaffner erklärt. «Unser Wunsch wäre sicherlich, dass wir hier noch mehr Angebote hätten.» Schliesslich sei Einstein «eine Marke, die weltweit bekannt und positiv belegt ist». «Und wenn wir schon so einen berühmten Fan hatten, warum sollten wir das nicht vermarkten?»
Touristik-Professor Stettler meint, Bern habe mit Einstein ein «Alleinstellungs-Merkmal», das nicht direkt kopiert werden könne. Einstein verfüge über das Potenzial, ein breites Publikum anzusprechen, weil man das Thema inszenieren und damit Erlebnisse vermitteln könne. Ein touristischer Glücksfall: «Destinationen haben sonst eher das Problem, dass sie sehr breit, sehr generell und sehr austauschbar positioniert sind.»
«Groteske» Vermarktung
Mühe mit der Vermarktung des Namens Einstein bekundet Charly Einstein (44), ein Urenkel von Albert, der seit seiner Kindheit in Bern lebt. Zum Gespräch treffen wir uns auf seinen Wunsch nicht im Einstein Kaffee im Parterre des Einstein-Hauses, sondern auf der Münsterplattform.
Dass Bern derart stark auf Einstein als Marke setzt, findet er «etwas an den Haaren herbeigezogen. Das Thema wird übermässig ausgeschlachtet. Ich denke, Bern hat beispielsweise mit den Shoppingmöglichkeiten in seinen Lauben (Arkaden) ganz andere Stärken, auf die es sich zurückbesinnen könnte.»
Er frage sich, welchen Einfluss die Stadt Bern auf die Entwicklung der Speziellen Relativitätstheorie 1905 gehabt habe. «Ich bin überzeugt, dass der Wohnort dabei einen verschwindend kleinen Einfluss hatte. Deshalb empfinde ich Stadtmarketing basierend auf ‹Einstein› grotesk», meint Charly Einstein.
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