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Das wilde Tal der hängenden Gärten

Unter einem Felsblock am Fuss eines Steilhangs erbautes Steinhaus mit Wald im Hintergrund
Ritorto im Valle Bavona. Keystone / Francesca Agosta

Dem Bavonatal, eines der tiefsten und wildesten Täler der Schweizer Alpen, wird eine besondere Ehre zuteil: Es wurde als Sujet des "Schoggitalers" 2020 auserkoren. Seine Artenvielfalt und die Gemüsegärten, auf grossen Felsbrocken angebaut, und die ländliche Landschaft sind in diesem Jahr Symbol eines zu schützenden Erbes.

Er ist eine Initiative des Schweizer Heimatschutzes und von Pro Natura: der beliebte Goldtaler aus Schweizer Schokolade, im Volksmund «Schoggitaler» genannt.

Seit 1946 wurden mehr als 40 Millionen Stück verkauft. Der Erlös wird für die Erhaltung natürlicher Lebensräume, Landschaften und historischer Gebäude, Tier- oder Pflanzenarten eingesetzt.

Schokolade in Goldfolie, auf der ein Tal und ein Fluss dargestellt sind
Der «Schoggitaler» 2020 (Vorderseite). Schoggitaler

Das BavonatalExterner Link (Valle oder Val Bavona) im Südschweizer Kanton Tessin ist seit 1983 im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung aufgeführt. Es wird nur im Sommer bewohnt. Imposante Felsen überragen einen schmalen Talboden glazialen Ursprungs. Dieser macht nur ein Zehntel des Territoriums im Tal aus, und das Kulturland lediglich 1,5%. Im Gebiet gibt es zwar Wasserkraftwerke, aber die meisten Häuser sind nicht an das Stromnetz angeschlossen.

Der Verkauf des Talers wird wie jedes Jahr mehrere Zehntausend Franken einbringen. Die beiden Organisationen wollen diese namentlich für die Wiederherstellung der für dieses Tal berühmten hängenden GärtenExterner Link einsetzen.

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Das Bavonatal ist ein Seitental des Maggiatals im Kanton Tessin

«Bis 1500 war das Tal ständig bewohnt», sagt Rachele Gadea Martini, Koordinatorin der Fondazione Valle Bavona (Stiftung Bavonatal). «Nach Erdrutschen und Überschwemmungen, die eine unglaubliche Menge an felsigem Material in den Talboden brachten und Landwirtschaftsland überdeckten, begannen die Menschen, das Tal zu verlassen. Sie fühlten sich nicht mehr sicher. Sie blieben aber nur im Winter weg, vielleicht für einen Monat oder zwei. Dann kehrten sie mit den Schafherden zurück.»

Um in der Zwischenzeit Ackerland für Roggen, Hirse, Kartoffeln, Zwiebeln und Hanf (für Fasern) zu gewinnen, terrassierten die Bewohner Hänge und legten zwischen den Felsblöcken und sogar auf diesen Felder an: die so genannten hängenden Gärten.

Felsbrocken am Rand eines Waldes mit Grad darauf und Wiese darunter und einer steinernen Treppe, um hinaufzusteigen.
Einige hängende Gärten sind wenige Quadratmeter gross, andere viel grösser. Fondazione Valle Bavona

Im Tal gibt es «etwa 200 von ihnen, natürlich von unterschiedlicher Grösse. Es beginnt mit einem winzigen Feld von einem Quadratmeter oder etwas mehr, bis hin zu Felsblöcken mit einer wirklich beeindruckenden Oberfläche. Obwohl es nicht das einzige Tal ist, in dem solche vorkommen, ist es fast mit Sicherheit das einzige in den Alpen, in dem es eine so hohe Dichte davon gibt».

Bedeutet ihre Wiederherstellung, sie auch wieder zu kultivieren? «Sie zu kultivieren, macht Sinn, wenn es vor Ort Menschen gibt, die sich um das Feld oder den Garten kümmern können. Sie zu retten, bedeutet heute vor allem, sie vom vorrückenden Wald zu befreien und in die gröbere Vegetation wie Sträucher und Brombeeren einzugreifen. Zu einem späteren Zeitpunkt ist es notwendig, den Zustand der Geländer und Treppen zu bewerten, falls solche vorhanden sind», sagt Gadea Martini.

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Die Treppen, die zu den Wiesen auf den Felsbrocken führen, sollten mit Vorsicht begangen werden. Regelrecht schwindelerregend sind hingegen diejenigen, die hoch zu den Bergweiden führen.

«Die sind tatsächlich beeindruckend. Hier kletterten wir früher mit dem Vieh auf in den Fels gegrabenen Stufen, denn an den Seiten des Talbodens gibt es diese praktisch senkrechten Wände, die 800 Meter hoch sind. Um diesen Höhenunterschied zu überwinden, reicht ein einfacher Weg nicht aus.»

Aber die hartnäckigen «Terrieri» von einst – die Einwohnerinnen und Einwohner haben ihren Namen von «Terre», einem Wort, das noch heute die 12 Dorfkerne des Bavonatals bezeichnet – verwandelten die Hindernisse in Ressourcen. «Sie benutzten die Felsblöcke, um Weinkeller einzubauen oder daran einen Hof zu errichten, als Lagerräume oder für die Tiere. Oder sogar, um dort einen Webstuhl oder die Schmiede einzurichten.»

Die Kulturen überlebten bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Heute sind nur noch einige Gärten übriggeblieben.

Der letzte Meilenstein in der Geschichte des Tals war 1955: Nach der Eröffnung der Strasse und der Baustellen der Wasserkraftwerke wurden viele Häuser im Tal nicht mehr als Hauptwohnsitz benutzt. Die Besitzer zogen in die damals noch eigenständigen Gemeinden Cavergno und Bignasco (die beiden sind heute fusioniert mit Cevio).

Biodiversität

Das Bavonatal wurde auch wegen seines Beitrags zur Biodiversität der Schweiz als Taler-Thema gewählt. Die rund 2500 Arten, die im Tal untersucht wurden, seien erst ein Teil von dem, was dort zu finden sei, präzisiert Mirko Zanini, Biologe des Centro Natura Vallemaggia. Welche davon fallen auf?

Nahaufnahme von kleinen Blumen am Fuss eines Felsblocks
Saponaria lutea. Ghislain 118 via wikimedia.org

«Unter dem Gesichtspunkt des Naturschutzes denke ich besonders an eine Blume, die Saponaria lutea, die nur in sehr wenigen Gebieten einer abgegrenzten Region des Alpenbogens vorkommt. Im Bavonatal hat es viele davon», sagt er. Ebenfalls zu sehen sind Alpentiere wie «das Birkhuhn, das Alpenschneehuhn und das Haselhuhn, die im oberen Teil des Waldes leben und wertvolle Arten sind, die auch deshalb erhalten werden müssen, weil sie unter der Klimaerwärmung der nächsten Jahrzehnte leiden werden».

In der Talsohle, den Bächen entlang, können der Eisvogel, der kleine Flussuferläufer und die Wasseramsel beobachtet werden, «alles Arten von extrem empfindlichen Vögeln, die nur dort leben, wo die Natur noch im Gleichgewicht ist», sagt Zanini.

Und darin liegt das Geheimnis des Bavonatals: seine Naturbelassenheit. «Es gibt keine übertriebene landwirtschaftliche Kultivierung. Die Wasserläufe sind nicht kanalisiert. Die Ausbeutung der Wasserkraft hat die mit dem Fluss verbundenen natürlichen Umgebungen nicht vollständig beeinträchtigt, so dass die Aue des Flusses Bavona immer noch von nationaler Bedeutung sind», sagt Zanini.

Die extensive Landbewirtschaftung ermöglicht die Erhaltung von Trockenwiesen (oder Magerwiesen), die in der Schweiz selten geworden sind. «Sie sind extrem reich an Blumenvielfalt. Sie zeichnen sich durch einen nährstoffarmen Boden aus und beheimaten eine Vielzahl von Arten, die diesem Mangel standhalten können. Eine Düngung hingegen würde nur vier oder fünf Arten begünstigen – zum Nachteil aller anderen.»

«Wenn es so viele Blumen hat», fährt Zanini fort, «haben wir eine grosse Artenvielfalt an Tieren: Spinnen, Heuschrecken, Schmetterlinge». Im Bavonatal hat das Centro Natura Vallemaggia fast hundert Schmetterlingsarten gezählt.

Unterdessen unterstützt die Stiftung Bavonatal jene, die sich verpflichten, nur ein- oder zweimal im Jahr und spät zu mähen, um den Lebenszyklus von Insekten und Blumen zu ermöglichen. Das bedeutet: «Die Samen können reifen, und die Schmetterlinge werden erwachsen», sagt Zanini.

Dorf mit Steinhäusern, die neben einem riesigen Felsblock am Fuss eines bewaldeten Hangs gebaut wurden; davor Wiesen
Das Dörfchen Sabbione. Keystone/Francesca Agosta

Auch hier ist es notwendig, die Ausbreitung des Waldes einzudämmen. Doch warum lässt man der Natur nicht einfach ihren freien Lauf? «Es gibt natürliche Umgebungen, in denen alles zu Wald wird, wenn wir nicht aktiv eingreifen. Wir würden die Vielfalt der vorhandenen Lebensräume vermindern und die Tier- und Pflanzenarten verlieren, die von offenen Umgebungen abhängig sind», antwortet der Biologe.

«Wenn es uns andererseits gelingt, ein Gleichgewicht zwischen natürlich heranwachsenden Wäldern [die Arten beherbergen, die nicht in bewirtschafteten Wäldern leben können] und extensiven landwirtschaftlichen Flächen herzustellen, haben wir ein Mosaik von Lebensräumen und eine grössere biologische Vielfalt.»

In der Zwischenzeit fördert die Stiftung Bavonatal Aktivitäten und Aufenthalte im Tal, die Unterricht, Freizeit und Freiwilligenarbeit miteinander verbinden («Aktivferien»). Die Restaurierung eines Hauses wird ab 2021 die Unterbringung von Gruppen ermöglichen.

«Wir haben jedes Jahr Gruppen von Freiwilligen unterschiedlichen Alters», sagt Stiftungsvertreterin Gadea Martini. «Das reicht von jungen Lehrlingen über ältere Menschen aus der Innerschweiz bis hin zu den Teilnehmenden an ‹Workcamps›. Sie helfen uns bei der Instandhaltung des Territoriums, aber gleichzeitig geben wir ihnen Erfahrungen in einer einzigartigen Landschaft und mit alten Praktiken mit.» Neben dem Mähen von Wiesen und dem Säubern von Wäldern sind Freiwillige auch für die Instandhaltung von Wegen und Strässchen zuständig.

Die Stiftung hofft nun, dass der Goldtaler mehr Besuchende ins Tal bringen wird, es sich dabei aber um Menschen handelt, «die über eine gewisse Sensibilität verfügen und sich gerne zu Fuss fortbewegen. Ein Publikum, das sich des Werts dieser traditionellen ländlichen Landschaft bewusst ist und weiss, was es braucht, um diese zu erhalten», so Gadea Martini.

Besorgniserregend ist eher der motorisierte «Hit-and-Run-Tourismus», der Spuren und Abfall hinterlässt. Seit letztem Jahr schickt die Stiftung Freiwillige durch das Tal, um mit solchen Besuchern ein paar Worte zu wechseln und ihnen die Schönheit dieses Ortes bewusst zu machen, der das Ergebnis einer jahrhundertelangen Arbeit in Symbiose mit der Natur ist.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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