Der politische Stillstand zwischen der EU und der Schweiz blockiert die Kernfusionsforschung
Schweizer Forschende haben eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet der Kernfusionsenergie und sind an wichtigen Durchbrüchen in Europa beteiligt. Doch die derzeitigen politischen Blockaden zwischen der Schweiz und der EU beeinträchtigt die Schweizer Beteiligung an internationalen Projekten, warnt der Leiter des Swiss Plasma Center der EPFL.
An der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) führen Forschungsteams fast täglich Experimente mit Plasma – einem überhitzten Gas – in einer Donut-förmigen Tokamak-Maschine durch. Sie erforschen damit die Kernfusion – den Energieprozess, der die Sonne und andere Sterne zum Strahlen bringt.
«Wir führen pro Tag etwa 40 Experimente durch – 40 Plasmaschüsse – in der Regel an vier Tagen pro Woche», erklärt Ambrogio Fasoli, Direktor des Swiss Plasma Center, in dem der Tokamak untergebracht ist.
Das EPFL-Zentrum ist eines der weltweit führenden Fusionsforschungslabors. Es ist an der Entwicklung der Fusionsenergie und am Erfolg von ITER, dem internationalen Forschungsprojekt in Südfrankreich zum Bau des weltweit grössten Kernfusionsreaktors, beteiligt.
Das Schweizer Zentrum ist darauf spezialisiert, Plasmen zu analysieren und Methoden zu deren Erhitzung und Aufbewahrung zu entwickeln. Die Forschenden haben eng mit ITER zusammengearbeitet und auch direkt an der Konzeption des Mikrowellenheizsystems für das Megaprojekt mitgewirkt.
Das Swiss Plasma Center (SPC) an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) ist eines der weltweit führenden Fusionsforschungslabors. Die EPFL ist Mitglied von EUROfusionExterner Link, einem Zusammenschluss von 30 Fusionsforschungseinrichtungen und Universitäten aus 25 Mitgliedstaaten der EU sowie dem Vereinigten Königreich, der Schweiz und der Ukraine. Gemeinsam haben die Wissenschaftler:innen ein Forschungsprogramm aufgestellt, das sich an der europäischen RoadmapExterner Link zur Fusionsenergie orientiert.
SPC-Direktor Ambrogio Fasoli sagt: «Das Swiss Plasma Center hat das Ziel, ITER zum Erfolg zu führen, die wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen für DEMO [ein Demonstrationskraftwerk, das Nachfolgeprojekt von ITER] zu entwickeln, die nächsten Generationen von Fusionswissenschaftlern und -ingenieuren auszubilden und Plasma- und Fusionsnebenprodukte für Industrie und Gesellschaft zu nutzen. Mit ITER werden wir die wissenschaftliche und technologische Machbarkeit der Fusion demonstrieren, während DEMO beweisen wird, dass die Fusionsenergie kommerziell genutzt werden kann.»
Das SPC hat etwa 120 Mitarbeitende und mehr als 40 Doktorierende in sechs Forschungsbereichen: Plasmatheorie, grundlegende Plasmaphysik, TCV-Tokamak-Physik, internationale Zusammenarbeit, Supraleitfähigkeit für die Fusion und Plasmaanwendungen.
Der TCV-Tokamak auf dem Campus der EPFL ist eine der wichtigsten Fusionsforschungsanlagen der Welt. Er wird im Rahmen von EUROfusion und für nationale Wissenschaftsprogramme betrieben. Wissenschaftler:innen aus der ganzen Welt reisen an die EPFL, um Experimente mit dem Tokamak durchzuführen.
Die Kernfusion beruht auf dem Prinzip, dass Energie durch das Verschmelzen von Atomkernen freigesetzt werden kann. In den aktuell genutzten Kernkraftwerken wird die Energie dagegen durch die Spaltung der Atomkerne gewonnen.
Die enormen Gravitationskräfte, die von Sternen erzeugt werden, können auf der Erde nicht kopiert werden, weshalb viel höhere Temperaturen – über 100 Millionen Grad Celsius – erforderlich sind, um den Wasserstoff in dem in Tokamaks erzeugten Plasma zusammenzubringen.
Es gibt keine Materialien, die dem direkten Kontakt mit einer solchen Hitze standhalten können. Um die Fusion im Labor zu erreichen, haben die Wissenschaftler:innen eine Lösung gefunden, bei der das Plasma in einem donutförmigen Magnetfeld in einem Tokamak gehalten wird, wo sie Experimente durchführen können.
Im Gegensatz zur Verbrennung fossiler Brennstoffe oder der Kernspaltung bietet die Fusion die Aussicht auf reichlich Energie ohne Umweltverschmutzung, radioaktive Abfälle oder Treibhausgase. Diese wird jedoch, wenn sie erfolgreich ist, nicht vor der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zur Verfügung stehen.
«Wichtiger Schritt»
Im Februar vermeldeten europäische Wissenschaftler:innen einen Durchbruch bei der Suche nach Kernfusionsenergie: Ein Experiment im Joint European Torus (JET)Externer Link Labor in Culham, England, stellte einen Rekord für die erzeugte Fusionsenergie (59 Megajoule für fünf Sekunden) auf und hat damit den bisherigen Bestwert mehr als verdoppelt. Der bisherige Rekord von JET lag bei 22 Megajoule für weniger als eine Sekunde, aufgestellt 1997.
«Wir sollten uns nicht zu sehr über die tatsächliche Anzahl Megajoule an Wärmeenergie sorgen», sagt Fasoli, der zusammen mit anderen EPFL-Forschenden eng an diesem Projekt gearbeitet hat. Der Energiegewinn des jüngsten JET-Experiments war gering: Er reichte schätzungsweise aus, um Wasser in 60 Teekannen zum Kochen zu bringen.
Fasoli zufolge stellt das Experiment jedoch einen «sehr wichtigen Schritt» dar, der die Designentscheidungen für ITER validiert.
ITER – «wir machen es wirklich»
Die Bauarbeiten auf dem Gelände des ITER-Megaprojekts in Saint-Paul-lès-Durance in Südfrankreich sind zu etwa 80% abgeschlossen.
«Wir sind mit diesem Projekt weit über den Punkt hinaus, an dem es kein Zurück mehr gibt. Wir haben es wirklich geschafft», sagt der EPFL-Direktor.
Offiziell ist der Start von ITER für das Jahr 2025 geplant. Aufgrund der Covid-Pandemie ist jedoch mit weiteren Verzögerungen zu rechnen, die mit der komplizierten Montage der Komponenten zusammenhängen.
«Ich rechne damit, dass der Starttermin für das erste Plasma um eineinhalb Jahre nach hinten verschoben wird. Aber das erste Plasma bedeutet nicht die ersten wirklich grossen Experimente. Diese sehen wir für 2035 vor», sagt Fasoli.
Die Wissenschaftler:innen arbeiten seit Jahrzehnten an der Entwicklung der Fusionsenergie. ITER wird sich zwar auf die Wissenschaft konzentrieren und die Machbarkeit der Technologie demonstrieren, aber keinen Strom erzeugen – das wird erst geschehen, wenn ein Demonstrationsreaktor gebaut ist. Nach Ansicht der Forschenden könnte dieser ungefähr im Jahr 2050 zur Verfügung stehen. Wenn er sich als einsatzfähig erweist, könnte eine erste Generation von Fusionsreaktoren in den 2060er oder 2070er Jahren auf den Markt kommen.
Schweizer Beteiligung blockiert
Die Schweiz und insbesondere die EPFL sind wichtige Akteure auf dem Gebiet der Kernfusion. Der Alpenstaat arbeitet seit 1979 eng mit der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) im Bereich der Kernfusion zusammen und ist als Mitglied der EU-Beschaffungsstelle «Fusion for Energy» indirekt am Bau von ITER beteiligt. Seit 2014 ist die EPFL auch Mitglied von EUROfusion, einer Gruppe von 30 Fusionsforschungseinrichtungen und Universitäten aus 25 europäischen Ländern, die sich für den Erfolg von ITER einsetzen.
Seit 1979 arbeitet die Schweiz auf dem Gebiet der Kernfusion eng mit der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) zusammen. Sie hat sich entschieden, ab 2007 indirekt an ITER teilzunehmen, und zwar als Mitglied von «Fusion for Energy», dem EU-Gremium, das die Beiträge überwacht, und nicht als direktes Mitglied der ITER-Organisation. Die Schweiz hat sich aktiv an der Leitung des EU-Gremiums und damit auch an der Leitung des ITER-Projekts beteiligt. Zwischen 2007 und 2020 hat die Schweiz zu diesem Zweck 274,5 Mio. CHF an die EU gezahlt.
Da die Fortsetzung der Beteiligung an «Fusion for Energy» im Zeitraum 2021-2027 mit den Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über die Assoziierung der Schweiz an das Forschungsförderungsprogramm Horizon Europe, die europäischen digitalen Initiativen und das Euratom-Programm 2021-2025 verbunden ist, ist die Schweizer Beteiligung an ITER derzeit ausgesetzt. Schweizer Unternehmen und Forschungsinstitutionen können sich nur an den Ausschreibungen von «Fusion for Energy» und der ITER-Organisation beteiligen, wenn die erforderlichen Kompetenzen in den Mitgliedsländern dieser Organisationen nicht vorhanden sind.
(QuelleExterner Link: Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI))
«Als Teil von EUROFusion und Euratom waren wir in vollem Umfang an ITER beteiligt. Das bedeutete, dass wir von Euratom im ITER-Rat vertreten wurden, an den Aktivitäten der EU-Beschaffungsagentur für ITER in Barcelona, genannt ‹Fusion for Energy›, teilnahmen und uns um die Beschaffung von ITER-Komponenten bewerben konnten, sowohl als Forschende als auch – noch wichtiger – als Industrie. Dies ist nun nicht mehr möglich», erklärt Fasoli und verweist auf die unmittelbaren Folgen des versenkten Rahmenabkommens zwischen der EU und der Schweiz im vergangenen Mai.
Die Situation ist nach wie vor festgefahren, und die Schweizer Beteiligung an ITER und «Fusion for Energy» wurde als direkte Folge der angespannten Beziehungen ausgesetzt.
Nachdem die Schweiz die Gespräche abgebrochen hatte, stufte die EU die Beteiligung der Schweiz am 100-Milliarden-Euro-Forschungsförderungsprogramm Horizon Europe zurück und schränkte den Zugang zu Stipendien und wissenschaftlichen Projekten ein, auch im Bereich der Fusionsenergie.
«Die ITER-Verträge, die wir vorher hatten, und die eigentlich ziemlich zahlreich waren, werden weitergeführt. Aber wir können keine neuen Verträge unterzeichnen. Seit Januar sind wir aus dem Verwaltungsrat von ‹Fusion for Energy›, dem ich persönlich angehörte, ausgeschlossen.», sagt Fasoli.
Die jüngsten politischen Veränderungen bedeuten, dass die Schweiz nicht mehr Teil des Euratom-Vertrags ist, der den Zugang zu EUROfusion regelt. Kurzfristig wurde eine Lösung gefunden, die es den Forschenden ermöglicht, weiterhin an europäischen Fusionsprojekten teilzunehmen. Das Schweizerische Plasmazentrum hat nun über das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Deutschland eine assoziierte Mitgliedschaft bei EUROfusion.
Auswirkungen auf die Industrie
Für die Schweizer Industrie ist die Situation jedoch noch schlimmer, sagt Fasoli. Für den Zeitraum von 2007 bis 2019 hat die Schweizer Beteiligung an ITER zu Aufträgen in Höhe von 190 Millionen Franken für Schweizer Unternehmen geführt, die Hightech-Komponenten liefern.
«Bei einigen Projekten sind wir jetzt stillgelegt. Wir können keine Aufträge erhalten. Wir arbeiten immer noch an den wissenschaftlichen Projekten, in den eher informellen Kooperationen, und alles, was wir tun, hat in gewisser Weise mit ITER zu tun. Aber wir können wirklich nicht direkt teilnehmen. Wir können keine Leute zu ITER schicken», erklärt er.
«Das ITER-Personal ist sehr hilfsbereit. Sie sind sogar bereit, ein oder zwei Augen zuzudrücken und uns an einigen Sitzungen usw. teilnehmen zu lassen. Sie wissen, dass wir spezielles Know-how haben. Aber irgendwann wird man ihnen sagen, dass sie nicht mehr mit den Schweizern zusammenarbeiten sollen.»
ITER wurde während des Kalten Krieges von den US-amerikanischen und russischen Staatsoberhäuptern Ronald Reagan und Michail Gorbatschow gemeinsam konzipiert und vorangetrieben. Russland gehört neben China, der EU, Indien, Japan, Korea und den USA zu den sieben Gründern des auf 35 Jahre angelegten Projekts, mit dem die Machbarkeit der Kernfusion als grosstechnische, kohlenstofffreie Energiequelle nachgewiesen werden soll.
ITER-Sprecher Laban Coblentz sagte, das Projekt sei «ein bewusster Versuch von Ländern mit unterschiedlichen Ideologien, etwas gemeinsam zu bauen.»
Russland hat einen aktiven Beitrag zu ITER geleistet. So ist es beispielsweise ein wichtiger Lieferant des supraleitenden Niob-Zinn-Materials für die ITER-Magnete und stellt wichtige Komponenten wie Gyrotrons her.
Die Ukraine wiederum ist Teil von EUROfusion. Ihr Institut in Charkiw hat Berichten zufolge während des russischen Einmarsches in die Ukraine Schäden erlitten.
Der gegenwärtige Stillstand habe keine negativen Folgen für die Studierenden, betont der Direktor. Aber es sei wichtig, dass die Schweiz an der Kernfusionsforschung und -entwicklung in Europa teilnehmen kann, da sie sonst «wahrscheinlich für Leute aus dem Ausland weniger attraktiv wird.»
Wenn der Stillstand anhält, sei das eine Katastrophe für die Schweiz, ihre Kernfusionsforschenden und die Schweizer Industrie, fügt er hinzu.
«Es ist nicht nur eine Frage des Geldes. Es geht auch darum, nicht zu den Bemühungen beitragen zu können, an denen die ganze Welt beteiligt ist», sagt der EPFL-Direktor.
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