Guten Appetit! Teile dieser Wohnung können Sie essen
Eine moderne Wohnung dient in der Region Zürich zur Erforschung von neuartigen Materialien und Technologien, um in Zukunft ressourcenschonender zu bauen. Zentral an der Bauweise ist der Kreislaufgedanke. Nach ein paar Jahren soll die Wohnung komplett zurückgebaut und alle Materialen weiterverwendet werden.
Es ist wohl das verrückteste Haus der Schweiz, das «NEST» in Dübendorf. Darin hat die Eidgenössische Materialprüfungs- und ForschungsanstaltExterner Link (Empa) einige Büros und verschiedene Forschungsprojekte untergebracht. Mit Filzüberziehern an den Schuhen betreten wir eine topmodern eingerichtete Wohnung, eine so genannte Unit. Das erste, was auffällt, ist ein angenehmer Geruch nach mit natürlichen Ölen behandeltem Holz.
Die Wohnung im dritten Stock wird «UMAR»Externer Link genannt. «UMAR» steht für «Urban Mining and Recycling». Im Mai sollen zwei Studierende einziehen. «Wir haben hier eine reale Umgebung. Das sind keine Ausstellungen, keine Labors», sagt Enrico Marchesi, Innovation Manager im «NEST».
Dass bald Studierende in dieser Dreizimmerwohnung leben werden, sei perfekt. «In einem vermieteten oder verkauften Gebäude geht das nicht», betont Marchesi. «Das gibt natürlich Feedback, das kreiert Effekte, die sie im Labor nicht nachstellen können. Wir erwarten von diesen Menschen, sich natürlich zu verhalten, hier zu wohnen, das zu benutzen, als Studenten vielleicht auch einmal eine Party zu schmeissen.»
Doch was genau versteht man unter Urban Mining? Heute stehe man vor dem Problem, dass beim Hausbau sehr viele Materialien und viele Klebstoffe benutzt würden, sagt Marchesi. Gleichzeitig aber stünden immer weniger natürliche Ressourcen zur Verfügung.
Bei diesem weltweit einzigartigen Projekt gehe es prinzipiell darum, zu versuchen, am Ende der Nutzungsdauer eines Gebäudes, oder im konkreten Fall einer Wohnung, die Materialien wirtschaftlich effizient wieder sortenrein zu entnehmen und diese wiederzuverwenden. «Also hin zu einer geschlossenen Materialwirtschaft, zu geschlossenen Kreisläufen – und weg von einer Einbahnstrasse.»
Am Anfang war ein Buch
Urban Mining und Recycling bedeutet also, dass «alle zur Herstellung eines Gebäudes benötigten Ressourcen vollständig wiederverwendbar, wiederverwertbar oder kompostierbar sein müssen», wie die Empa auf ihrer Website schreibt.
Für Marchesi ist Urban Mining in der Baubranche schlicht die Zukunft. «Uns bleibt nichts anderes übrig», sagt er. «Unsere Ressourcen werden knapper. Es gibt Materialien, die reichen schlicht und einfach nicht für immer. Wir brauchen beispielsweise sehr viel Sand zum Bauen. Die wenigsten wissen, dass Bausand nach Wasser die weltweit knappste Ressource ist. Es gibt Sand-Mafias. Da werden Millionen umgesetzt, Menschen ausgebeutet, um an den Sand zu kommen.»
Auf die Idee kamen die Verantwortlichen der Empa durch das Buch von Dirk HebelExterner Link und Felix HeiselExterner Link, «Building from Waste» (Bauen mit Abfall). Gegen die Bezeichnung «Abfall-Wohnung» allerdings wehrt sich Marchesi vehement. «In der Wahrnehmung ist es eine sehr hochwertige Wohnumgebung, die unbedenklich ist bezüglich Gefahrenstoffen.»
Werner SobekExterner Link, Architekt und Professor am Institut für Leichtbau der Universität Stuttgart, konzipierte die Wohnung zusammen mit Felix Heisel und Dirk Hebel, der früher an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) tätig war und heute Professor für nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für TechnologieExterner Link (KIT) ist. Dieses Institut und Sobeks eigene Unternehmensgruppe sind denn auch die wichtigsten Partner des Projekts. Doch auch andere namhafte Partnerfirmen aus der Baubranche sind daran beteiligt.
Realistisch?
Eine solche Wohnung sei schon heute realisierbar, betont Marchesi. «Die Materialien, die hier verwendet werden, sind alle auf dem Markt.» Und preislich bewege man sich «nicht irgendwo in den Sternen». Einige Materialien seien über die gesamte Lebensdauer gerechnet sogar günstiger. Die Modellwohnung, wie sie heute gebaut und eingerichtet ist, sei also bereits marktreif, so Marchesi.
Wer in der Wohnung herumgeht, erkennt als Laie die nachhaltige Bauweise nicht überall auf den ersten Blick. Als Beispiele nennt der Innovation Manager mineralischen Bauschutt, der als Backsteinwand ein zweites Leben beginnt. Oder wärmedämmende Unterputz-Platten aus Pilzen, die in den Wänden verbaut sind. Sie sind vollständig kompostierbar. Aber nicht nur: «Man kann sie sogar essen, sie sind unbedenklich für Allergiker und haben eine sehr gute Dämmwirkung.»
Weitere Beispiele beschreibt Enrico Marchesi im Video:
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Urban Mining oder das zweite Leben für Baumaterial
Verzicht auf Klebeverbindungen
Sehr wichtig bei dieser Bauweise, bei der alles wieder trennbar sein soll: keine Klebeverbindungen. Alles muss entweder verschraubt, verschränkt oder geklemmt werden. Denn sobald geklebte Elemente auseinandergenommen werden müssten, steige der Aufwand beträchtlich.
In dieser Unit sei es weitestgehend möglich, diese sortenrein wieder zu zerlegen. «Und das ist wichtig: Mit einem vertretbaren Aufwand. Einfach gesagt, kann diese Unit von zwei Personen mit einem Akkuschrauber komplett sortenrein zerlegt werden», betont Marchesi.
Schliesslich soll die Unit «UMAR» in fünf bis sieben Jahren vollständig zurückgebaut werden. Darauf freut sich der Innovation Manager bereits. Besonders spannend werde die Auswertung, wie gut oder schlecht die einzelnen Elemente funktioniert hätten. Und schliesslich sei diese Wohnung «ein Paradebeispiel für die temporäre Nutzung der einzelnen Units im ‹NEST'», dem verrücktesten Haus der Schweiz.
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