Endlose Verfahren blockieren Windkraft in der Schweiz
Seit zehn Jahren scheint die Windenergie in der Schweiz in einer Flaute zu stecken. Ihre Kritiker setzen alle möglichen Mittel ein, um Projekte zu blockieren. Ende September kommt die Zukunft dieser Energiequelle an einer lokalen Abstimmung auf den Prüfstand.
In der Schweiz gibt es keine grossen, leeren und flachen Territorien. Ganz im Gegensatz zum Beispiel zu Deutschland. Im grossen Nachbarland im Norden hat die Windenergie bereits einen Anteil von 20% am Energiemix.
Die Schweizer Landschaft ist hügelig und steil. Sie eigne sich deshalb kaum für die Installation von Windturbinen, ist häufig besonders von Gegnern der Windkraft zu hören. Das Beispiel eines anderen Nachbarn, Österreich, würde jedoch das Gegenteil beweisen: Mit einer Geografie, die nicht sehr verschieden von jener der Schweiz ist, produziert das Alpenland bereits 60 Mal mehr Windenergie als hierzulande.
Die rund 40 in der Schweiz in Betrieb befindlichen Windturbinen produzierten im vergangenen Jahr rund 146 Millionen Kilowattstunden (kWh). Das reicht für etwas mehr als 36’000 Haushalte und entspricht 0,2% des gesamten Stromverbrauchs des Landes. Der Windenergie-Verband Suisse Eole, der diese Zahlen veröffentlicht hat, rechnet bis 2050 mit einem Stromanteil aus Windkraft von 10%.
Beschleunigte Verfahren
Sind diese Ambitionen wirklich realistisch? «Die Schweizer Bevölkerung ist generell für die Windenergie. 19 von 22 Abstimmungen über solche Projekte sind bisher positiv ausgefallen», sagt Lionel Perret, Direktor von Suisse Eole.
Die Kritiker seien jedoch hartnäckig: «Fünf Projekte sind noch hängig vor Bundesgericht, dem höchsten Gericht des Landes. Und zehn weitere warten auf einen Entscheid der zuständigen kantonalen Behörden. Wenn diese Standorte akzeptiert würden, wären wir schon weiter. Wir erwarten, dass die Rechtsprechung in Zukunft bestimmte Einwände, besonders von einzelnen Gegnern, ausschliessen wird», so Perret.
«Wir erwarten, dass die Rechtsprechung in Zukunft bestimmte Einwände, besonders von einzelnen Gegnern, ausschliessen wird.»
Lionel Perret, Direktor Suisse Eole
Die Eidgenossenschaft hat so genannte «Windpotenzial-Zonen» definiert, ohne jedoch lokale und regionale Besonderheiten wirklich zu berücksichtigen. Für die Bestätigung dieser Standorte sind in erster Linie die Kantone zuständig.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass Windparks mit einer Produktion von 20 Gigawattstunden oder mehr pro Jahr als «von nationalem Interesse» gelten. Das Bundesamt für Energie (BFE) hat sogar eine Internet-Hotline eingerichtet, bei der Bürgerinnen und Bürger alle Fragen zur Windenergie stellen können.
Leistung nimmt zu
Es muss jedoch festgehalten werden, dass die Energieproduktion aus Windkraft derzeit hinterherhinkt. Im vergangenen Juni sprach Suisse Eole in ihrer jüngsten Analyse der Situation von einer Stagnation seit mehr als zehn Jahren. «Die Projekte haben Mühe, in der Planung oder vor Gericht voranzukommen», resümiert der Verband.
Dies ist zum Beispiel der Fall beim Windpark Mollendruz (12 Windturbinen auf den Bergrücken des Waadtländer Juras). Das Projekt wurde 2009 gestartet. Angesichts verschiedener Einsprachen durch Natur- und Artenschützer wird das Schicksal des Geländes eines Tages vor Bundesgericht besiegelt werden.
Langsame Verfahren machen es für die Eidgenossenschaft schwierig, ihre Ziele zu erreichen. Dies umso mehr, als einheimische Windenergie-Entwickler nun die Schweiz verlassen, um ihre Dienste stattdessen im Ausland anzubieten.
Diese verschiedenen Verzögerungen verhindern jedoch nicht, dass die Turbinen unterdessen wesentlich effizienter geworden sind. Dank technischer Entwicklungen erreichen sie heute eine höhere Produktivität: «Sie sind zwei- bis dreimal effizienter als vor zehn Jahren», sagt Perret.
Ganz zu schweigen von einem besseren Wissen über die Windverhältnisse in grosser Höhe. Seiner Meinung nach wäre es daher von entscheidender Bedeutung, die Verfahren zu beschleunigen, um Projekte zu verwirklichen, die in einigen Fällen bereits seit etwa zwanzig Jahren geplant sind.
Unkoordinierte Opposition
Die Region Berner Jura – wo zwischen dem Mont-Soleil und dem Mont-Crosin bereits 16 Turbinen auf Hochtouren laufen – ist sicherlich bereits ein Vorbild. So sehr, dass dort seit diesem Sommer Führungen für Interessierte durchgeführt werden.
Der Jurabogen bleibt eines der bevorzugten Gebiete der Behörden für die Entwicklung dieser grünen Energie. Auch das Bundesgericht hält dessen Geografie für geeignet. Und im Rhonetal, im Luzerner Entlebuch oder auf dem Gütsch ob Andermatt (Kanton Uri) sind weitere Standorte entstanden.
Und am Gotthard sind die laufenden Arbeiten zum Bau eines Windparks mit fünf Turbinen bereits weit fortgeschritten. Bisher wurden drei Turbinen installiert. Dieser neue Park soll bereits im November mit der Produktion grüner Energie beginnen, um den Bedarf von etwa 5000 Haushalten zu decken.
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Entscheidende Abstimmung am 27. September
Eine Weichenstellung wird bald vorgenommen: Am 27. September stimmen die 1200 Einwohnerinnen und Einwohner der Gemeinde Sonvilier (Kanton Bern), zwischen den Städten St-Imier und La Chaux-de-Fonds gelegen, über den Standort eines Windparks mit zehn Windturbinen ab. Das Projekt Quatre-Bornes in der Region Val-de-Ruz sieht sieben Turbinen auf Berner Gebiet und drei auf Neuenburger Boden vor.
Das Projekt, das vor fünfzehn Jahren begann, überzeugt aber nicht alle. Vor der Abstimmung wurden mehrere Einsprachen eingereicht. Sie kamen von der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz, vom Schweizer Kulturerbe (Sektion Neuenburg) oder von der etwa zehn Kilometer entfernten Stadt La Chaux-de-Fonds. Offenbar könnten die Turbinenschaufeln von den höher gelegenen Quartieren der Stadt aus zu sehen sein.
Zudem sprachen 300 Privatpersonen ebenfalls dagegen ein, darunter der ehemalige Neuenburger Ski-Alpin-Champion Didier Cuche. Der in der Region Geborene befürchtet durch die 200 Meter hohen Windkraftanlagen vor allem Lärmbelästigungen sowie eine Beeinträchtigung des Naturparks Chasseral.
Viele Bedenken
Die Gegner dieses Projekts werfen der Windenergie vor, sie absorbiere riesige Summen an Geldern für Studien und vergeude damit staatliche Subventionen, verschandele die Landschaft, verursache Lärm und verringere den Marktwert der umliegenden Landwirtschaftsbetriebe. La Chaux-de-Fonds befürchtet auch eine Verschlechterung seines Standorts: Die Stadt ist seit 2009 von der Unesco klassifiziert.
«Eine Katastrophe für die Region», sagten die Gegner einen Monat vor der Abstimmung. Sie regten sich auf über die geplante Umwandlung eines ländlichen Standorts in eine Industriezone. Sie befürchten, dass bis 2050 insgesamt 300 Windkraftanlagen auf den Bergrücken des Juras stehen werden, deren Rentabilität in ihren Augen als gering eingeschätzt wird.
«Visionäre»
Um diesen Park zu unterstützen und seine Gegner zum Schweigen zu bringen, formierte sich ein Bürgerkomitee namens «Ja zur Windenergie». Die Befürworter argumentieren, die Idee sei zuerst in den Köpfen der Pionierbauern der Region – «Visionäre» – entstanden, lange bevor die Eidgenossenschaft selbst die Grundzüge ihrer eigenen Energiestrategie 2050 entworfen habe.
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Dieses Komitee zeigt sich auch empört darüber, dass die Mehrheit der Gegnerinnen und Gegner nicht direkt aus dem Dorf stammt. Schliesslich erinnert das Komitee daran, eine erste Konsultativabstimmung im Jahr 2015 habe gezeigt, dass drei von vier Einwohnerinnen und Einwohner der Gemeinde dieses Projekt unterstützt hätten.
Ein Teil des Kapitals der Betreibergesellschaft des Parks im Umfang von einer Million Schweizer Franken soll für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Jeder natürlichen oder juristischen Person können Anteile von 1000 Franken zugeteilt werden. So soll sich die Bevölkerung an der Zukunft des Parks beteiligen können und in der Lage sein, dessen Schicksal im Auge zu behalten.
Die Rotorblätter würden zu 75%, also für ein Drittel der Zeit, mit voller Leistung laufen, um Häuser im Winter zu beheizen. Dies entspräche einer Produktion von 68 Millionen kWh und würde den Stromverbrauch des Dorfs Sonvilier und zudem etwa 80% des Bedarfs des Val-de-Ruz (17’000 Einwohnerinnen und Einwohner) decken.
Verlorene Zeit
Wie gedenkt der Verband Suisse Eole die verlorene Zeit aufzuholen? Schliesslich verfolgt er das Ziel, bis 2050 rund 600 GWh zu produzieren. Zudem prognostiziert die Internationale Energieagentur, dass die Windkraft bis 2027 die führende Energiequelle auf dem europäischen Kontinent werden könnte.
Suisse-Eole-Präsident Perret ist zuversichtlich, dass ein Kanton wie Neuenburg mit fünf Standorten bis 2050 bis zu einem Drittel seiner Energie aus Windkraft erzeugen kann. «Diese Energie hat sowohl im Jahr 2019 als auch in den ersten Monaten des Jahres 2020 sehr gut funktioniert», sagt er. Das seien trotz des Gegenwinds gute Nachrichten, freut er sich.
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