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Europas Hirnprojekt «wieder auf Kurs»

Laut Henry Markram, Ko-Direktor des Human Brain Project, arbeitet der Vorstand daran, "die wissenschaftlichen Bedenken zu isolieren", die von Neurowissenschaftlern geäussert wurden. Keystone

Ein Jahr nach dem Start des Human Brain Project (HBP) – einem Flaggschiff-Projekt der Europäischen Kommission zur Abbildung des menschlichen Gehirns – sprechen Befürworter von "bemerkenswerten" Resultaten und erklären, das Projekt sei nach einem Streit unter Neurowissenschaftlern wieder auf Kurs.

In einer Ansprache an seine «Truppe» gab ein abgekämpft wirkender Henry Markram, einer der charismatischen Leiter des Human Brain ProjectsExterner Link, kürzlich an der Universität Heidelberg eine lebhafte Schilderung der Arbeit der letzten 12 Monate.

«Der Fortschritt war ziemlich bemerkenswert», sagte Markram, Neurowissenschaftler an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL), die das Projekt koordiniert. «Der Plan, den wir am ersten Tag anpeilten, wurde bemerkenswert gut eingehalten. Einige [Unterprojekte] haben sogar Hürden geschafft, die wir nicht in den ersten zwei bis drei Jahren erwartet hatten.»

Rund 400 HBP-Mitarbeitende waren Ende September in die deutsche Universitätsstadt gepilgert, um Markram zuzuhören, ihre ersten Ergebnisse zu präsentieren und künftige Herausforderungen der weltweiten gemeinschaftlichen Hirnforschung zu diskutieren. Das 1,1 Milliarden Euro (1,3 Mrd. Fr.) schwere Projekt ist auf 112 Partner in 24 Ländern angewachsen, die meisten aus Europa. Aber auch aus Kanada, China, Israel, Japan und den USA sind Forschende dabei.

Laut Markram wurden 90 Prozent der Erstjahres-Ziele der 13 Unterprojekte erreicht. Darunter die Schaffung eines biologisch realistischen 3D-Modells eines Rattenhirns, die Einweihung des European Institute for Theoretical NeuroscienceExterner Link in Paris und ein 3D-Referenzatlas des Hirns, der eine 50 Mal höhere Auflösung besitzt als bisherige solche Atlanten.

Zudem konnten HBP-Forscher auf vier Supercomputern – darunter jenem des Swiss National Supercomputing CentreExterner Link in Lugano – grossangelegte Simulationen beginnen und vom Hirn inspirierte neuromorphe Chips testen, die heutigen Hochleistungscomputern Konkurrenz machen sollen.

«Wir haben auch ein Hirnrennen ausgelöst», bemerkte Markram. Gehirn-Initiativen entstehen gegenwärtig in den USA, China, Japan and Australien. Im September kündeten die amerikanischen National Institutes of Health an, 58 Forschungsgruppen, die bei Präsident Obamas BRAIN-InitiativeExterner Link beteiligt sind, würden mit 46 Mio. US-Dollar unterstützt. Ziel der Initiative ist die Entwicklung neuer Technologien zum besseren Verständnis des Gehirns. Die Initiative hofft in den nächsten 12 Jahren auf Forschungsgelder im Umfang von total 4,5 Milliarden US-Dollar.

«Die USA hegten Pläne während vielen Jahren, doch ich denke, sie brauchten einen kleinen Rippenstoss», so HBP-Ko-Direktor Markram. «Es wird nicht eine einzelne Person sein, die das Hirn verstehen wird. Es werden wir alle sein – der gesamte Planet.»

Die finanziellen Kopfschmerzen nach dem Rausschmiss der Schweiz aus dem europäischen Forschungsprogramm Horizon 2020 aufgrund des Anti-Einwanderungs-Votums vom 9. Februar 2014 seien nun gelöst, ergänzte er.

Im September einigten sich die Schweiz und die Europäische Union, Schweizer Forschenden wieder Zugang zum ersten Pfeiler von Horizon 2020 als dazugehörige und gleichberechtigte Partner zu gewähren. Dieses Programm namens «Excellent ScienceExterner Link» soll die europäische Forschung vorwärts bringen. Der Entscheid bedeutet, dass wieder direkte Fördergelder aus der EU fliessen werden, aus einem Topf von fast 25 Mrd. Euro.

«Die Abstimmung in der Schweiz war eine Art Bumerang», sagte Markram. «Doch die meisterhafte Politik von Europäischer Kommission und Schweizer Regierung konnte das Problem für die [sieben europäischen] Flaggschiffe und die Stipendien des Europäischen Forschungsrats lösen.»

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Ideenschlacht

Trotzdem wurde die begeisterte Jahresrückschau des HBP überschattet durch den anhaltenden Streit innerhalb der Neurowissenschaft. Am 7. Juli hatte eine Gruppe von Wissenschaftlern einen offenen Brief an die Europäische KommissionExterner Link geschickt mit der Bitte, die technischen Ziele des HBP und die Aufsicht darüber zu überdenken. Über 700 Forscher unterschrieben das Begehren.

Die «dissidente» Gruppe ist der Meinung, das Projekt leide unter einem undurchsichtigen Management und Zielen, die unter Neurowissenschaftlern nicht breit geteilt würden. Sie versprachen, dass sie sich nicht um HBP-Partnerprojekte bewerben würden, die pro Jahr 50 Millionen Euro erhalten. Diese werden hauptsächlich durch Förderstellen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union bestritten. Die andere Hälfte der Finanzierung stammt von der Europäischen Kommission.

Der Kern des Problems sind laut Kritikern die Pläne der HBP-Geschäftsleitung, den Anteil der experimentellen und kognitiven Forschung im Projekt zu reduzieren.

«Die Krise ist grösstenteils das Resultat von Mehrdeutigkeiten, was den Platz der Neurowissenschaft im HBP betrifft», schrieben Yves Frégnac, Forschungsdirektor am Pariser Centre National de la Recherche Scientifique und Gilles Laurent, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt, in der September-Ausgabe des Forschungsmagazins «Nature»Externer Link.

«Von Beginn weg gaben Neurowissenschaftler zu bedenken, dass grossangelegte Simulationen wenig Sinn machen, wenn sie nicht mit Daten belegt sind und genutzt werden können, um präzise Hypothesen zu testen. Das Projekt wird zu einem teuren Datenbank-Management-Projekt auf der Jagd nach neuen Computing-Architekturen.»

Europäische Kommission verteidigt sich

Die Europäische Kommission steht klar hinter dem Projekt und dessen Team, hat aber einige Änderungen umrissen, die sie gerne umgesetzt sehen würde. In der letzten Evaluierung der HBP-Partnerschafts-RahmenvereinbarungExterner Link – die nötig ist, um an die Fördergelder von Horizon 2020 zu kommen – empfehlen Experten der Europäischen Kommission, die kognitive Neurowissenschaft gemäss dem ursprünglichen Projektantrag wieder zu integrieren, die Verwaltungsstrukturen des HBP zu revidieren und Transparenz wie auch Kommunikation zu verbessern.

«Ich denke, wir sind jetzt wieder auf Kurs. Die Europäische Kommission hat sich vollständig verpflichtet, das Projekt zu unterstützen», sagte Thierry Van der Pyl, Direktor «Exzellenz in der Wissenschaft» der Europäischen Kommission. «Wir nehmen die Bedenken des offenen Briefes ernst, sind aber ziemlich zuversichtlich, dass Lösungen gefunden werden können, um das Projekt integrativ statt ausschliessend auszugestalten.»

Markram betonte in Heidelberg, dass der Vorstand daran arbeite, «die wissenschaftlichen Bedenken zu isolieren». Seine Botschaft war versöhnlich: «Debatten und Meinungsverschieden sind ein Zeichen des Wandels und sehr wichtig. Wir müssen sie annehmen und eng mit unseren Kollegen zusammenarbeiten, die andere Ansichten haben.»

Kompromissbereit

Als Antwort hat der Vorstand des HBP einen Mediator eingesetzt – Wolfgang Marquardt, Vorstandsvorsitzender im deutschen Forschungszentrum JülichExterner Link. Er soll die Verwaltungs-Strukturen des Projekts prüfen und einen «neu ausbalancierten wissenschaftlichen Fokus» einführen. Bis Ende 2014 soll er einen Bericht verfassen.

Während sie abwarten, wie es weitergeht, bezeichnen die Unterzeichner des offenen Briefes die Berufung Marquardts als Schritt in die richtige Richtung.

«Wir sind sehr erfreut mit der Art und Weise, wie die Europäische Kommission auf unsere Bedenken reagiert und einen Mediator eingesetzt hat», sagte Alexandre Pouget, Neurowissenschaftler an der Universität Genf. «Herr Marquardt scheint sehr gewillt, die Situation zu analysieren und Lösungen vorzuschlagen.»

Das Hirn in Zahlen

– Durchschnittliches Gewicht: 1,36 kg

– 85% des Gehirns macht das Grosshirn aus, der vordere Teil des Gehirns, bestehend aus zwei Halbkugeln, die durch ein dickes Faserband verbunden sind. Diesem Teil werden intellektuelle Funktionen, Emotionen und Persönlichkeit zugeschrieben

– Das Hirn besteht zu 75% aus Wasser

– 40% des Gehirns sind Zellfortsätze von Nervenzellen, die Impulse weiterleiten (Dendriten und Axone), 60% sind Hirnzellen (Neuronen)

– Im Hirn befinden sich etwa 100 Milliarden Neuronen

– Pro Neuron gibt es zwischen 1000 und 10’000 Synapsen (Neuronen-Verbindungen)

– Das Hirn hört mit etwa 18 Jahren auf zu wachsen

– Es braucht je 20% des Bluts und des Sauerstoffs, um zu funktionieren

– Im Hirn befinden sich Blutgefässe mit einer Gesamtlänge von etwa 160’000 km

(Quelle: http://www.nursingassistantcentral.com)

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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