FuturICT – Soziologie als exakte Wissenschaft
FuturICT ist eines von drei Projekten aus der Schweiz, die am Wettbewerb um einen Förderbeitrag von einer Milliarde Euro teilnehmen. Die ETH Zürich arbeitet an einer Zukunftsvision, welche die Soziologie und die Informationstechnologien vereinen soll.
In Budapest nominierte Anfang Mai die Europäische Kommission sechs Dossiers als «Flagships». FuturICT ist das einzige, das aus dem Gebiet der Humanwissenschaften stammt. Der Name ist ein Wortspiel, ein Zusammenschluss des Wortes Future und dem Kürzel ICT, das im Englischen die Informations- und Kommunikationstechnologien bezeichnet.
Diese Technologien, die Unmengen von Daten anhäufen und aufbereiten, bieten den Soziologen nicht bloss Rohmaterial für einen einfachen Diskurs, sondern liefern vielmehr die Grundlage für eine Wissenschaft, die mit absoluter Präzision das Studienobjekt beschreiben und sogar seine Entwicklung voraussagen kann. Das war die Grundidee.
In der Beschreibung des Projektes äussern sich die Autoren zuweilen schwärmerisch. FuturICT, im Untertitel als «knowledge accelerator» (Wissensbeschleuniger) bezeichnet, wird mit dem Apollo-Programm verglichen. Nur wird diesmal nicht der Mond, sondern die Erde erforscht.
Eine neue Wissenschaft
Wie alle andern Flagship-Kandidaten kann auch FuturICT auf ein grosses Netzwerk zählen: 51 Hochschulen und Universitätsinstitute aus 16 Ländern, dazu Partner aus der Industrie, wie das Internetportal Yahoo! und Telecom Italia, arbeiten mit. Sie alle stehen unter der Leitung von zwei Mutterhäusern, dem University College of London (UCL) und der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ).
Bei der Verkündigung der sechs Finalisten in Budapest liess der Mathematiker und Co-Leiter des Projekts, Steven Bishop von der UCL, seiner Begeisterung freien Lauf. Er sprach vom «aufregenden Gefühl, Zeuge beim Entstehen einer neuen Wissenschaft zu sein».
Dirk Helbing, gelernter Physiker und heute Soziologe an der ETHZ, ist der zweite Co-Leiter von FuturICT. Er sprach von einer «Renaissance der Sozialwissenschaften», ja sogar von einem «Ausgangspunkt für eine neue wissenschaftliche Revolution».
Datenschutz
Konkret heisst das: Die Forscher sammeln so viele Daten wie möglich, vor allem aus dem Internet, aber auch aus Archiven und Erhebungen über das kollektive Verhalten. Die Bereiche Finanzen, Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt werden wissenschaftlich beobachtet. Die gesammelten Daten werden einem «Living Earth Simulator» gefüttert, der im Idealfall das Funktionieren der Gesellschaft als Modell darstellen kann, so wie das bereits für komplexe Systeme in der Physik und in der Biologie möglich ist.
Das strikte Einhalten des Datenschutzes hat selbstverständlich höchste Priorität. Das Rumschnüffeln im Privatleben der Leute ist überhaupt nicht das Ziel der Väter von FuturICT. Die Wissenschafter suchen nach Erkenntnissen, die «der ganzen Gesellschaft zu gute kommen».
Menschliche Gier
Das Verständnis für das Zusammenwirken der Gesellschaft ist bloss der Anfang. Die Ambitionen des Projektes gehen viel weiter. Krisen sollen vorhersehbar sein, um deren Auswirkungen möglichst gering zu halten. Im Frühjahr 2008 publizierten Dirk Helbing und zwei Kollegen in der Zeitschrift ScienceDaily einen Artikel, worin sie vor einer gefährlichen Instabilität des Finanzsystems warnten. Einige Monate später stürzte die Welt – wie wir wissen – in eine Finanzkrise.
Wird FuturICT ebenso erfolgreich die Zukunft voraussagen können, wie das die Psychohistorik in den Science-Fiction-Romanen von Isaac Asimov macht?
«Der Begriff Voraussage ist mit Vorsicht zu gebrauchen», erklärt Dirk Helbing. «Die Voraussage ist immer zeitlich begrenzt, die Prognose ist der treffendere Begriff, den wir ja vom Wetter her kennen.»
Übrigens, so der Soziologe weiter, «ist eine Voraussage nicht immer nötig, um das System zu verbessern. Wir wollen vor allem die Auswirkungen von Krisen bekämpfen, Verluste reduzieren, neue Chancen aufspüren und einen Gewinn daraus ziehen – das ist unser Ziel».
Die Finanzkrise von 2008 ist letztlich auch der menschlichen Gier zuzuschreiben. Kann diese von den Sozio-Mathematikern ebenfalls berechnet werden ?
«Ja, absolut», antwortet Dirk Helbing ohne zu zögern: «Wir haben eben zu dieser Frage einen Artikel veröffentlicht. Darin wird untersucht, inwieweit die Gier die Zusammenarbeit und das soziale Gefüge beeinflusst, und wir haben festgestellt, dass ein bisschen Gier die Menschen motiviert, zusammen ein Ziel zu erreichen. Zuviel Gier auf hohem Niveau jedoch schwächt nicht nur das System, sondern destabilisiert es sogar.»
Vertrauen
FutureICT ist zusammen mit den Projekten Human Brain Project und Guardian Angels der EPF Lausanne die dritte in der Schweiz verankerte Flagship-Kandidatur für die europäische Forschung. Doch am Schluss werden im besten Fall zwei von sechs Kandidaten das Rennen machen, und die entscheidenden Punkte werden eher politischer als wissenschaftlicher Natur sein.
Wie Dirk Helbing glaubt auch Steven Bishop an die Chancen des Projektes. «Natürlich fällen letztlich die Politiker den Entscheid, doch sie werden sich bei ihren wissenschaftlichen Beratern informieren, wem sie die Stimme geben sollen. Unsere Chancen sind durchaus intakt, und wir werden es schaffen, denn es ist lebenswichtig, gewisse Probleme zu lösen, und wir haben die Mittel dazu», bekräftigte der britische Mathematiker Anfang Mai.
Die Schweiz nimmt seit 1999 als vollwertige Partnerin an den Forschungsrahmen-Programmen der EU teil.
Zurzeit läuft das 7. Europäische Forschungsrahmen-Programm, das für die Jahre 2007-2013 mit einem Gesamtbudget von 50,5 Milliarden. Euro dotiert ist.
Es hat zum Ziel, die wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen der europäischen Industrie sowie deren internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
Gegen Ende 2011 wird die Europäische Kommission ihre offiziellen Vorschläge zu den Projekten vorlegen.
Diese werden anschliessend im Rat der Europäischen Union und im Europäischen Parlament beraten und verabschiedet.
Danach wird die Gesetzgebungsphase rund anderthalb Jahre in Anspruch nehmen. Die ersten offiziellen Ausschreibungen für die Projekte werden im Jahr 2013 erfolgen.
(Übertragung aus dem Französischen: Christine Fuhrer)
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