Gentests an Embryonen, in engen Grenzen
Die Schweiz dürfte eines der letzten Länder Europas sein, welche die Präimplantationsdiagnostik an Embryonen aus künstlicher Befruchtung zulassen werden. Der Gesetzesentwurf des Bundesrats ist im internationalen Vergleich sehr restriktiv.
Künstliche Befruchtung, Abtreibung, Manipulationen an Embryonen: In diesen hoch emotionalen Bereichen hat die Schweiz eine strengere Gesetzgebung als ihre Nachbarstaaten, welche entsprechende Gesetzte schon vor 10, 15 oder sogar 20 Jahren erlassen haben. Und die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist immer noch verboten. In Europa gilt dieses Verbot nur noch in Österreich und Italien.
Die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist ein medizinisches Verfahren, mit dem im Rahmen einer künstlichen Befruchtung (In-vitro-Fertilisation, IVF) Embryonen genetisch untersucht werden, bevor sie zur Herbeiführung einer Schwangerschaft in die Gebärmutter übertragen werden. Das Verfahren dient vor allem dazu sicherzustellen, dass das künftige Kind nicht unter einer bestimmten, genetisch bedingten Krankheit leiden wird.
In der Schweiz ist die PID bisher verboten. Betroffen sind weniger als hundert Paare pro Jahr. Heute müssen diese Paare entweder darauf verzichten oder dafür ins Ausland reisen. Mit einer Anpassung des Fortpflanzungsmedizin-Gesetzes könnte sich dies ändern. Anfang Juni 2013 hat die Regierung dem Parlament einen Entwurf unterbreitet, der das PID-Verbot aufhebt. Weil auch eine Verfassungsänderung damit verbunden wäre, ist eine Volksabstimmung obligatorisch.
Der Entwurf ist im Vergleich mit entsprechenden Gesetzen im Ausland sehr restriktiv. Die PID dürfte nur «in Familien mit schwerwiegenden Erbleiden» angewendet werden. Erlaubt wäre die Erzeugung von höchstens acht Eizellen pro Zyklus bis zum Embryonenstadium. Heute sind nur drei erlaubt. Gemäss Entwurf dürften überzählige Embryonen für weitere Schwangerschaften eingefroren werden. Gegenwärtig ist das Einfrieren verboten. Im Fall einer misslungenen Schwangerschaft muss der ganze Prozess wiederholt werden.
In der Schweiz könnte sich dies bald ändern. Nach verschiedenen Versuchen seit Ende der 1990er-Jahre hat das Parlament eine Motion gutgeheissen, die von der Regierung eine Gesetzesvorlage verlangt, welche die Präimplantationsdiagnostik ermöglicht.
In der grossen Parlamentskammer hat niemand den ergreifenden Appell des Grünen Parlamentariers Luc Recordon vergessen, der mit dem Holt-Oram-Syndrom geboren worden war, und der seine Ratskollegen in der Debatte wissen liess, dass Kinder wie er lieber nicht geboren worden wären. Acht Jahre nach diesem Appell ist der Gesetzesentwurf geschnürt.
Auch als Ständerat engagiert sich Luc Recordon für die PID. Den Entwurf bezeichnet er zwar als «restriktiv», ist sich aber bewusst, dass nur ein Kompromissvorschlag bei einer Volksabstimmung eine Mehrheit finden würde.
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Gentests an Embryonen fast überall erlaubt
Eine Zweidrittel-Mehrheit?
«In der Schweiz gibt es mehrere entgegengesetzte oder mindestens misstrauische Meinungen gegenüber der PID, sagt Recordon. Dazu gehören fundamentalistische katholische, aber auch protestantische Kreise. Auch unter den Sozialdemokraten und den Grünen fürchten einige Leute eugenetische Ausrutscher. Und die Behindertenorganisationen argumentieren, dass zwar vielleicht weniger behinderte Kinder zur Welt kämen, aber dass sich jene Kinder noch isolierter fühlten, die trotzdem mit einer Behinderung geboren würden.
Dass eine Kompromissfindung im politischen System der direkten Demokratie unerlässlich sei, entspricht auch der Meinung von François-Xavier Putallaz, Professor für Philosophie an der theologischen Fakultät der Universität Freiburg und Mitglied der Nationalen Ethikkommission: «Wir sind vermutlich das einzige Land, das die Leute fragt, was sie davon halten. Deshalb muss man einen Konsens mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner finden. Anderswo entscheidet das Parlament, wo sich Mehrheiten einfacher finden lassen.»
Weil der Vorschlag eine Verfassungsänderung bedingt, ist eine Volksabstimmung obligatorisch. «Ich wette mit Ihnen, dass es 66% Ja-Stimmen geben wird», prophezeit François-Xavier Putallaz. Er werde zur Minderheit gehören.
Seitdem die Methode existiert, wird über die PID heftig debattiert. Die Debatte wird manchmal so emotional geführt wie damals jene über Abtreibungen.
Für die Befürworter dient die PID vor allem dazu, jenen Eltern unnötiges Leid zu ersparen, welche die Belastung eines stark behinderten Kindes nicht ertragen könnten.
Die Gegner kritisieren nicht nur, dass es eine Anmassung sei zu bestimmen, wer ein Recht auf Leben habe und wer nicht, sondern auch die Erzeugung von Embryonen, über die im Voraus bekannt sei, dass sie absichtlich vernichtet würden.
Gewisse Leute befürchten auch eine Generalisierung von eugenetischen Praktiken, die keine medizinische Berechtigung mehr hätten. Mit der Entwicklung der Techniken rücken auch Vorstellungen in den Bereich des Möglichen, nicht nur das Geschlecht des künftigen Säuglings, sondern auch die Farbe der Augen oder Haare und vieles mehr auszuwählen.
«Rutschiger Hang»
Was macht die PID inakzeptabel für den Philosophen? «Der rutschige Hang, auf dem es – wenn man die ersten Schritte gemacht hat – unmöglich wird, den Absturz in die Schlucht zu vermeiden». Wenn er die Entwicklung der Gesetzgebung in andern Ländern wie Spanien oder Frankreich beobachte, sehe er, wie eine Schranke nach der andern wegfalle. Das werde auch in der Schweiz unweigerlich geschehen. «Es ist eine humanistische Aufgabe, sich dieser Tendenz zu widersetzen.»
Diese Tendenz erläutert Putallaz anhand des folgenden Beispiels: «Die Schweiz beabsichtigt, die Praktiken mit sogenannten Designerbabys zu verbieten. Als Designerbabys oder Rettungsgeschwister werden Kinder bezeichnet, die von den Eltern künstlich gezeugt werden, um als Zellspender mit ihrem passenden Erbmaterial einem kranken älteren Geschwister zu helfen. Weil sie in der Schweiz nicht auf diese Praktiken zurückgreifen können, werden viele Paare nach Frankreich, Belgien oder Spanien gehen. Und nur die Reichen werden es sich leisten können, was inakzeptabel ist. Es wird sich gleich verhalten wie mit der Abtreibung. Dieser Medizintourismus wird die Schweiz zum Nachgeben drängen.»
Auch Luc Recordon hält die Entwicklung für unaufhaltsam. Aber er begrüsst die gewählte Strategie. «Wenn man bei der Abstimmung eine Chance haben will, muss man vorsichtig vorgehen. Man muss während einiger Jahre beweisen, dass sich die Praktiken ohne Auswüchse durchführen lassen, um die Skeptiker zu überzeugen. Und wenn sich am Schluss nur noch die Fundamentalisten dagegen wehren, kann man einen weiteren Schritt ins Augen fassen», sagt der Grüne Ständerat.
1978 kommt in Grossbritannien Louise Brown zur Welt, das erste im Reagenzglas gezeugte Kind. Seither sind dank In-vitro-Fertilisation (IVF) rund fünf Millionen Menschen geboren worden.
1985 kommt in Locarno das erste Schweizer Kind zur Welt, das im Reagenzglas gezeugt wurde. Im gleichen Jahr lehnt das Schweizer Stimmvolk eine Volksinitiative gegen die Abtreibung ab, die menschliche Embryonen schon ab dem Zeitpunkt der Empfängnis schützen wollte.
1985 lanciert die Konsumentenzeitschrift Beobachter eine Volksinitiative mit dem Ziel, die IVF und genetische Manipulationen zu reglementieren. Diese Techniken lösen Ängste in der Bevölkerung aus. Viele befürchten eugenetische Auswüchse.
1991 zieht der Beobachter seine Initiative zurück, weil er sich mit dem Gegenvorschlag der Regierung zufrieden gibt. Dessen Ziel ist es, Missbräuche zu verhindern anstatt vielversprechende Praktiken zu verbieten.
1992 wird der Gegenvorschlag vom Stimmvolk angenommen. Artikel 119 der Bundesverfassung legt seither den rechtlichen Rahmen der Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich fest. Nach der Annahme des Artikels lancieren die Gegner noch im gleichen Jahr eine Initiative für ein generelles Verbot der IVF. Als Reaktion darauf legt die Regierung einen Gesetzesentwurf vor, der den neuen Verfassungsartikel konkretisiert.
1998 heisst das Parlament das neue Gesetz über die künstliche Befruchtung gut. Das Referendum wird nicht ergriffen.
2000 wird die Initiative gegen die IVF mit 70% der Stimmen abgelehnt.
2002 sagen ebenfalls 70% der Stimmenden Ja zur Fristenlösung bei Abtreibungen. Seither ist ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten 12 Wochen erlaubt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Abtreibungen nur bei medizinischer Indikation erlaubt.
Debatte hat erst angefangen
Auf diesen weiteren Schritt warten die Ärzte seit langem. «Wir haben unsere Erwartungen während der beiden Vernehmlassungsverfahren von 2009 und 2011 ausgedrückt, und es ist, als ob uns niemand gehört hätte», bedauert Dorothea Wunder», vom Zentrum für Reproduktionsmedizin des Universitätsspitals Lausanne.
Für die Chefärztin ist der Gesetzesentwurf zwar ein Durchbruch, und sie begrüsst die Möglichkeit, Embryonen einzufrieren, wodurch man im Fall einer missglückten Implantation nicht wieder bei Null anfangen müsste.
Aber sie findet es absurd, dass in dem Gesetz die Anzahl Embryonen limitiert würden, die bei jedem Versuch gezeugt werden (drei ohne PID, acht mit PID). Die Beschlüsse sollten medizinischen und nicht reglementarischen Gründen folgen. Denn die PID erhöhe die Chance für Paare, deren Kinderwunsch sich bisher oft nur auf beschwerlichen Wegen oder gar nicht erfüllten.
«Was mir am meisten am Herzen liegt», sagt Dorothea Wunder, «sind Mehrfach-Schwangerschaften. Als Vorsichtsmassnahme werden generell zwei Embryonen pro Frau implantiert, obwohl man sich der Risiken bewusst ist, die eine Zwillingsschwangerschaft mit sich bringt. Mit der Möglichkeit, Embryonen einzufrieren, könnte man sich mit einem begnügen, ohne die Erfolgschancen zu vermindern. Aber unter lediglich acht Embryonen, die für die PID zugelassen würden, kann man nicht sicher sein, denjenigen zu finden, der die besten Chancen hat, ans Ziel zu kommen.»
Dorothea Wunder und ihre Kollegen setzen sich deshalb für eine Anpassung des Gesetzesentwurfs ein. «Wenn der Entwurf in der gegenwärtigen Form durchkommt, werde ich meinen Patienten weiterhin empfehlen, ihre PID im Ausland machen zu lassen», warnt die praktizierende Ärztin. «Ausserdem bleibt die Zahl der Zwillingsgeburten unannehmbar hoch, mit erhöhten Sterberisiken für die Neugeborenen und die Mütter. Nicht zu vergessen sind auch die enormen Kosten, die damit dem öffentlichen Gesundheitswesen aufgebürdet werden.»
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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