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Diese Frau entschlüsselt die Geheimnisse der Düfte

Sarah Reisinger, Illustration
"Wenn wir ein Parfüm riechen, passiert etwas in unserem Gehirn." Sarah Reisinger, 45, ist Biotechnologin und Leiterin der Forschungsabteilung des multinationalen Schweizer Unternehmens Firmenich, das Düfte und Aromen herstellt. Firmenich - hj SWI

Biotechnologin Sarah Reisinger leitet die Forschungsabteilung des Schweizer Parfümherstellers Firmenich. Bei ihrer Suche nach dem perfekten Duft setzt sie auf künstliche Intelligenz und Biotechnologie.

Gerüche begleiten uns ständig. Sie lassen uns das Wasser im Mund zusammenlaufen oder lösen Ekel aus, sie erinnern uns an Menschen und Orte und machen Erfahrungen magisch oder schrecklich.

Schon die alten Ägypter mischten Pflanzen und Öle zu Düften, die sie auf Körper und Haar auftrugen oder als Medizin und religiöse Opfergaben nutzten. Um 1200 v.Chr. lebte in Mesopotamien die erste Parfüm-Herstellerin. Die Frau namens Tapputi soll die Technik der Destillation eingesetzt haben, um feine Geruchstoffe zu produzieren.

Ihr Erbe liegt heute in den Händen multinationaler Unternehmen, die jedes Jahr Milliarden von Dollar verdienen. An der Spitze dieser Firmen steht meist eine neue Generation von Wissenschaftler:innen, die sich der Biotechnologie und künstlichen Intelligenz verschrieben haben, um komplexe Düfte und Aromen herzustellen.

Sarah Reisinger ist eine von ihnen. Die Biotechnologin führt die Forschungsabteilung von Firmenich. Beim Genfer Unternehmen arbeiteten schon Nobelpreisträger wie Leopold Ruzicka und andere namhafte Wissenschaftler:innen wie Reisingers Vorgängerin Geneviève Berger, die auch das Forschungszentrum CNRS in Frankreich leitete.

Reisinger übernahm im vergangenen Jahr von Berger die Führung des Bereichs Forschung. Schon damals experimentierten die Parfüm-Forschenden mit künstlicher Intelligenz, um etwa Wäschedüfte oder Fleischaromen hervorzubringen. Nun will Reisinger Algorithmen und maschinelles Lernen nutzen, um innovative Düfte effizienter zu entwickeln.

Das sei alles andere als einfach, sagt Reisinger. «Es bedeutet, dass wir die Art und Weise, wie wir tagtäglich Wissenschaft betreiben, neu überdenken müssen.» Eine wichtige Rolle spiele dabei die Wissenschaft der Daten.

Die Analyse von Tausenden von Formeln und Rohstoffen könne zur Entwicklung neuer Düfte beitragen. «Das Tool kann auch Echtzeitanalysen von chemischen Reaktionen durchführen und die Betriebsplanung verbessern.»

>> Wie Düfte unser Leben beeinflussen, erfahren Sie hier:

Vom Silicon Valley nach Genf

Reisinger empfängt mich in ihrem Büro. Sie hat einen starken Händedruck und eine feste Stimme. Ihr weisser, gepunkteter Rock lässt ihr Erscheinungsbild fröhlich und locker erscheinen, doch sie mag es nicht besonders, über sich selbst und ihre Leistungen zu sprechen.

Sie sei 45 Jahre alt und in Minnesota in den Vereinigten Staaten aufgewachsen, erzählt sie. Nach der Schule zog sie nach Kalifornien, wo sie an der UC Berkeley in Mikrobiologie promovierte.

Zu Beginn ihrer Laufbahn arbeitete Reisinger an der Entwicklung neuer Medikamente, besonders für die Krebsbehandlung, und von Biokraftstoffen. Danach beschäftigte sie sich mit der Erforschung von Inhaltstoffen und Technologien für Kosmetika und andere Gebrauchsartikel.

2018 erhielt sie das Angebot von Firmenich. Das Unternehmen beschäftigt heute weltweit mehr als 10’000 Mitarbeiter:innen. Sie bereue den Entscheid zwar nicht, in die Schweiz zu ziehen, sagt Reisinger. Aber ihr Ehemann und ihre beiden Kinder im Alter von fünf und zehn Jahren hätten anfangs grosse Mühe gehabt mit der Sprachbarriere und dem Neuaufbau.

Frau in einer Parfümerie
Reisinger ist stolz, wenn sie in eine Parfümerie geht und Düfte riecht, an denen sie mitgewirkt hat. Sie stellt sich vor, dass die Menschen sie tragen und für einen kurzen Moment ein Gefühl des Friedens empfinden. «Letztendlich entsteht die wahre Innovation aus der Entspannung», sagt sie. Keystone / Julian Stratenschulte

Heute fühlen sie sich in der Schweiz zuhause. «Nur die Buchhandlungen und Bibliotheken mit englischsprachigen Bücher fehlen mir noch», sagt sie lächelnd. Das Lesen sei für sie ein Ausgleich zu den beruflichen und familiären Verpflichtungen.

Sie denke oft an ihre Zeit in San Francisco zurück, wo sie 20 Jahre lang gelebt habe. Sie erinnert sich gerne an ihre leidenschaftlichen Kolleg:innen in den aufstrebenden Firmen. «Die meiste Zeit habe ich im Silicon Valley verbracht, wo Begeisterung für die Arbeit alles war. Dort habe ich viel gelernt.»

Nur den Stress, den sie bei den Startups verspürt habe, vermisse sie nicht, einschliesslich des Drucks, nach der Geburt ihrer Kinder möglichst schnell wieder ins Berufsleben zurückzukehren.

Personalisierte Düfte

Doch genug zur Person. Als ich unser Gespräch in Richtung Düfte und ihre tägliche Arbeit lenke, wirkt Sarah Reisinger entspannter.

«Die Wissenschaft des Geruchs ist einfach erstaunlich», schwärmt sie und erklärt, dass wir mehr als 400 Geruchsrezeptoren in unserer Nase haben, die sich oft von Person zu Person unterscheiden.

Reisinger will nicht nur den Geruchsinn verstehen, sondern auch die Mechanismen, die einen Duft zu einer persönlichen Erfahrung machen. «Darüber wissen wir noch sehr wenig», sagt sie.

Eine der grössten Herausforderungen sei es, Düfte und Aromen zu kreieren, die bei möglichst vielen Menschen positive Emotionen hervorrufen. Düfte sind wie chemische Botschaften, die von unserem Nervensystem interpretiert werden und Empfindungen und emotionale Zustände auslösen.

«Wenn wir einen Geruch wahrnehmen, passiert etwas in unserem Gehirn. Aber es geht um mehr als bloss ein angenehmes oder unangenehmes Gefühl», sagt sie.

Düfte helfen dabei, uns in bestimmten Situationen wohler zu fühlen. Eine Pilotstudie hat gezeigt, dass ätherische Öle, insbesondere Sandelholzöl, Stress lindern können, indem sie den Blutdruck und den Cortisolspiegel im Speichel senken. Diese gelten als Biomarker für Stress.

Parfümwissenschaftlerin
Wir haben mehr als 400 Geruchrezeptoren in unserer Nase, die oft kleine genetische Unterschiede von Mensch zu Mensch aufweisen. Firmenich

Im Jahr 2020 brachte Firmenich einen Duft auf den Markt, der von einem speziellen Sandelholzöl inspiriert ist, das aus einer bedrohten indischen Pflanze gewonnen wird. Reisingers Team schuf eigene Sandelholzmoleküle und nutzte die DNA-Sequenzierung, um jene Enzyme zu identifizieren und zu reproduzieren, die für die Bildung des Sandelholzdufts verantwortlich sind.

«Wir wenden unsere Dufttechnologien auf die Biologie der Geruchsrezeptoren an. Unser Ziel ist es, den Menschen zu helfen, abzuschalten und sich wohlzufühlen.»

Auch der Geschmacksinn könne beeinflusst werden. Reisinger berichtet, dass ihr Team mit neuen Geschmackrichtungen für vegetarische oder vegane Lebensmittel experimentiere, die Fleisch imitieren.

Geruch und Geschmack sind eng miteinander verbunden. Dies zeigt sich auch darin, dass Menschen, die an Anosmie leiden, einer Krankheit, bei der die Fähigkeit, Gerüche wahrzunehmen, verloren geht, oft auch glauben, ihren Geschmacksinn verloren zu haben.

Übrigens nahmen die Fälle von Anosmie während der Covid-19-Pandemie sprunghaft zu, weil das Virus den Verlust des Geruchsinns verursachen kann.

«Wir verstehen immer besser, wie unsere Geschmack- und Geruchrezeptoren funktionieren und wie sie aktiviert werden können», sagt Reisinger. Ihr Team möchte auch erreichen, dass pflanzliche Burger das typische Fettaroma von Fleisch nur während des Kochens und nicht im rohen Zustand abgeben, um das sensorische Erlebnis des Vorbilds so gut wie möglich zu reproduzieren.

Geheimnisvolle Industrie

Wie dies erreicht werden kann, bleibt allerdings ein Geheimnis. So wie Vieles in der Parfüm- und Duftstoffindustrie. Die Branche gilt als verschwiegen. So erhielt ich auch keinen Einblick in die Labors von Firmenich, und der Kommunikationsmanager sass während des gesamten Gesprächs schweigend daneben, stets bereit, bei einer heiklen Frage einzugreifen.

Die Verschwiegenheit verwundet nicht, denn der Wettbewerb ist hart, auch am Standort Schweiz. Weder Firmenich noch Givaudan, der andere Schweizer Duftstoff-Gigant, wollen ihre Wunderrezepturen preisgeben.

Im Mai 2022 gab Firmenich die Fusion mit dem führenden niederländischen Lebensmittelkonzern DSM bekannt. Diese Ankündigung weckte Befürchtungen, dass das Unternehmen die Schweiz verlassen könnte.

Doch im Oktober weihte Firmenich einen neuen 225’000 Quadratmeter grossen und 200 Millionen Franken teuren Produktions- und Forschungscampus in Genf ein. Mit diesem Schritt bekräftigte der Konzern seine enge Verbindung zur Stadt und zur Schweiz allgemein.

Ihre Arbeit erfülle sie aber mit Stolz, sagt Reisinger. Sie hätte eine akademische Laufbahn einschlagen können, um ihre Forschungsergebnisse in den Dienst der Wissenschaft zu stellen. Stattdessen entschied sie sich für die Privatwirtschaft.

Das ermögliche ihr, an «Endprodukten zu arbeiten und die Welt ganz konkret zu beeinflussen», begründet sie. Die Duft- und Aromastoffe von Firmenich erreichen täglich über vier Milliarden Konsument:innen durch Produkte wie Parfüms, Shampoos und Frühstücksflocken.

Wenn sie jeweils einen Shop betritt und all die Parfüms sieht, die Duftstoffe von Firmenich enthalten, bereite ihr dies eine grosse Freude. Sie stelle sich dann vor, wie Konsument:innen die Parfüms tragen und sich freuen und entspannen. «Aus der Entspannung heraus entsteht schliesslich auch echte Innovation», sagt Reisinger.

Übertragung aus dem Italienischen: Christoph Kummer

Übertragung aus dem Italienischen: Christoph Kummer

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