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Trockenheit könnte Energieknappheit verschärfen

Kaminheizung im Winter
© Keystone / Gaetan Bally

Der Winter kommt. Und neben dem Krieg in der Ukraine sorgen auch die niedrigen Wasserstände der Schweizer Flüsse und Seen für Unsicherheit hinsichtlich die Energieversorgung des Landes. Doch wie ernst ist die Lage wirklich? Eine Analyse.

In der Schweiz geht ein sehr trockener Sommer mit wenigen Niederschlägen und aussergewöhnlichen Hitzewellen zu Ende. 140 Jahre lang hat es in einigen Regionen nicht mehr so wenig geregnet wie dieses Jahr, und die Monate Mai und Juni waren gemäss Meteo Schweiz die zweitwärmsten seit 1864.

Die Seen und Flüsse haben unter der Trockenheit gelitten, ihre Wasserstände haben in den letzten Wochen ein Rekordtief erreicht. Diese Situation gefährdet die Energieproduktion und die Energieversorgung der Schweiz in einem Moment, der wegen des Kriegs in der Ukraine bereits kritisch ist.

Rund 60 Prozent der in der Schweiz verbrauchten Energie stammen aus Wasserkraftwerken, die über das ganze Land verteilt sind. Darüber hinaus werden 25 Prozent des für Heizungen und Verkehrsmittel verwendeten Rohöls per Schiff auf dem Rhein transportiert. Dabei hängen die Transportkapazitäten vom Wasserstand ab.

Nun sind die Temperaturen gesunken, Regen und Schneefall hat eingesetzt. Dürfen wir aufatmen? swissinfo.ch hat analysiert, wie sich die Trockenheit dieses Sommers auf die Energiesicherheit der Schweiz auswirkt, und was passiert, wenn sich die Situation vor Wintereinbruch nicht markant verbessern sollte.

Wasserkraft: Sinkende Produktion und steigende Preise

Die Stromproduktion aus Wasserkraft liegt in diesem Sommer zwar deutlich unter dem Durchschnitt der letzten Jahre, doch die Situation ist nach Schätzungen des Bundesamts für Energie (BFE) noch nicht dramatisch. Im Sommer ist die Strombilanz der Schweiz in der Regel positiv: Die geringere Produktion ist nur ein Indikator, dass weniger Strom aus Wasserkraft exportiert wird.

Die hohen Temperaturen und die Trockenheit haben in diesem Sommer dazu geführt, dass der Füllungsgrad der Speicherseen in einigen Fällen (etwa im Kanton Tessin) stark gesunken ist. Gleichzeitig hat die Hitze zu einem raschen Abschmelzen der Gletscher geführt, wodurch Wasser in die Speicherbecken unterhalb der Gletscher gelangte.

«Deshalb lassen sich die Auswirkungen der Sommertrockenheit noch ‘managen’», sagt Felix Nipkow, Co-Leiter der Abteilung Klima und erneuerbare Energien bei der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES), gegenüber swissinfo.ch.

Die Energieknappheit ist jedoch noch nicht abgewendet. Die Feuerprobe wird erst im Winter kommen. Grund: Das Gletscherschmelzwasser und die jüngsten Niederschläge reichen bisher nicht aus, um die sommerlichen Defizite an Regen auszugleichen.

Die grossen Speicherseen in den Alpen sind nicht ausreichend gefüllt. Deshalb ist es von fundamentaler Bedeutung, dass sich die Trockenheit nicht in diesem Herbst fortsetzt und Niederschläge kommen.

«Es ist wichtig, dass sich die Speicherseen bis zum Ende des Herbsts füllen, bevor die winterliche Energieproduktion beginnt, die wegen der hohen Nachfrage normalerweise wesentlich intensiver ist als im Sommer», sagt Petra Schmocker-Fackel, Leiterin der Abteilung Hydrologie im Bundesamt für Umwelt (Bafu).

Grafik Produktion in Wasserkraftwerken
swissinfo.ch

Das Bundesamt für Energie (BFE) will noch keine präzise Prognose für den Winter abgeben. «Die Stromerzeugung aus Wasserkraft im Winter wird von den Wetterbedingungen abhängen», heisst es. Das BFE ist aber bereits jetzt der Ansicht, dass die vorhandenen Wassermengen in den Speicherbecken nahezu vollständig aufgebrauchtExterner Link werden.

Der Wasserkraftwerkpark der Schweiz besteht heute (Stand 31.12.2021) aus 682 Zentralen (Kraftwerke mit einer Leistung von mindestens 300 kW), die pro Jahr durchschnittlich rund 37’172 Gigawattstunden (GWh/a) Strom produzieren.

Davon werden rund 48,3% in Laufwasserkraftwerken, 47,5% in Speicherkraftwerken und rund 4,2% in Pumpspeicherkraftwerken erzeugt.

Rund 63% dieser Energie stammen aus den Bergkantonen Uri, Graubünden, Tessin und Wallis. Beachtliche Beiträge liefern auch die Kantone Aargau und Bern. Mit der Nutzung der Wasserkraft wird ein Umsatz von rund 1,8 Milliarden Franken erzielt.

Speicher sind eine wichtige Stütze für die Stromversorgung im Winter, wenn die Nachfrage nach Strom am höchsten ist. Der Füllungsgrad der SpeicherseenExterner Link ist daher ein wichtiger Indikator für die Versorgung mit Strom.

(Quelle: BFE)

Um die Energieversorgung zu stärken und möglichen Engpässen im Winter vorzubeugen, hat die Schweizer Regierung beschlossen, eine WasserkraftreserveExterner Link einzurichten. Diese Reserve wird im Rahmen von Ausschreibungen gebildet. Dabei können sich Betreiber von Speicherkraftwerken gegen ein Entgelt freiwillig zur Vorhaltung von Energie bis zu einem vereinbarten Zeitpunkt verpflichten.

Es handelt sich dabei um eine präventive Massnahme, die mit hohen Kosten verbunden ist, die zu Lasten der Endverbrauchenden gehen wird. Diese müssen zusätzliche 1,2 Rappen pro Kilowattstunde bezahlen. Diese Zusatzkosten summieren sich zu den bereits steigenden Stromkosten in Folge der Preisschwankungen auf dem Energiemarkt.

Weniger Rohöltransporte auf dem Rhein

Die Wasserstände in den Schweizer Flüssen haben sich noch nicht normalisiert. Trotz der jüngsten Niederschläge liegen die Pegel deutlich unter den langjährigen Mitteln. Dies gilt besonders für die Reuss, die Limmat, den Oberrhein und den Ticino.

Bis vor wenigen Wochen war vor allem die Situation am Oberrhein zwischen der Schweiz und Deutschland besorgniserregend. Über den Rhein gelangen etwa 30 Prozent der importierten Waren und 25 Prozent des importierten Rohöls in die Schweiz. Der niedrige Wasserstand führte zu einem mehr als 50-prozentigen Rückgang der Ladefähigkeit der Schiffe (von 2000-3000 Tonnen auf 600-1000 Tonnen).

Grafik Aktuelle Abflusssituation und Wasserstände
swissinfo.ch

«Wir gehen davon aus, dass sich die Schifffahrt in einigen Wochen normalisieren wird», sagt Simon Oberbeck, Kommunikationschef der Schweizerischen Rheinhäfen, gegenüber swissinfo.ch. Oberbeck zeigt sich weder überrascht noch beunruhigt ob der Situation: Angesichts der zunehmenden Trockenheit sei der Hafen regelmässig vom Niedrigwasser-Phänomen betroffen.

Als Reaktion auf die Schwierigkeiten beim Transport von Mineralölprodukten hat die Eidgenossenschaft eine Reduzierung ihrer Mineralöl-PflichtlagerExterner Link von knapp 20 Prozent beschlossen. Bei unveränderter Lage wird die Pflichtlager-Unterschreitung bis in den Herbst 2022 andauern.

Die letzte solche Unterschreitung bei Mineralölprodukten wurde im ebenfalls sehr trockenen Sommer 2018 beschlossen, als der Transport auf dem Rhein nur noch sehr eingeschränkt möglich war.

Dieses Jahr gibt es aber nicht nur die Transportprobleme via Rhein. Hinzu kommen die Instabilität der Erdölpreise und des Angebots aufgrund des Kriegs in der Ukraine und der Spannungen mit Moskau.

Während Oberbeck von den Schweizerischen Rheinhäfen zuversichtlich ist, dass sich die Situation bald normalisieren wird, zeigt sich Hydrologin Schmocker-Fackel vom Bafu skeptischer: «Der Herbst ist die Jahreszeit, in welcher der Rhein normalerweise unter Niedrigwasser leidet. Wenn es also in diesen Wochen nicht ausreichend regnet, könnte sich die Situation verschlechtern.»

Grafik Jahresverlauf des Rheins
swissinfo.ch

In der Schweiz ist Mineralöl nach wie vor der meistgenutzte Energieträger für Heizungen, gefolgt von Erdgas. Ein Mangel an diesem Brennstoff würden nicht nur Millionen von Bürgerinnen und Bürgern spüren, sondern stellt auch eine Gefahr für die Industrie und das Verkehrssystem dar. Denn die Schweiz verfügt nicht über ausreichende Reserven, um sich im Winter selbst zu versorgen.

«Es werden Anstrengungen unternommen, die Versorgung durch Verträge mit den Nachbarländern zu sichern, aber der Erfolg dieser Anstrengungen hängt auch davon ab, wie die Situation im Winter von der EU gemeistert wird», sagt Nipkow von der Schweizerischen Energiestiftung.

Klimawandel und Energieproduktion

Selbst wenn die Schweiz diesen Winter in Bezug auf die Energieversorgung übersteht, sehen die Prognosen für die Zukunft nicht rosig aus: Klimaforschende erwarten längere und häufigere Trockenperioden, die durch ausbleibenden Regen, hohe Wasserverdunstung und geringere Schneemengen im Winter gekennzeichnet sind.

«Heute profitieren Flüsse und Seen von schmelzenden Gletschern und Schneefeldern, aber diese Situation wird nicht ewig anhalten», sagt Schmocker-Fackel. «Bei sommerlichen Dürreperioden werden wir in Zukunft definitiv weniger Wasser haben als heute», gibt die Expertin zu bedenken.

Ausserdem werden die Temperaturen der Flüsse und Seen weiter ansteigen, was nicht nur die Wasserfauna, sondern auch die Kühlkapazität des Wassers gefährdet. «Kernkraftwerke müssen möglicherweise ihren Betrieb einschränken oder sogar einstellen», sagt Manuela Brunner, Hydrologin und Spezialistin für Extremereignisse an der Universität Freiburg (Deutschland).

Diese Situation ist diesen Sommer bereits eingetroffen, als die Energieproduktion im Kernkraftwerk Beznau (Kanton Aargau) aufgrund zu hoher Wassertemperaturen der Aare zurückging. Das Flusswasser wird zur Kühlung der Reaktoren verwendet.

Doch statt sich um die Auswirkungen des Klimawandels auf die Energieerzeugung zu sorgen, sollte man sich besser um die Folgen des Energieverbrauchs für das Klima kümmern, sagt Nipkow. Heute stammen drei Viertel der in der Schweiz verbrauchten Energie aus fossilen Energieträgern.

«Es ist viel dringender, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu beenden, etwa durch den Ausbau der Solarenergie in der Schweiz und den Ersatz von Öl- und Gasöfen sowie benzinbetriebenen Autos», sagt der Experte.

Wie sich die Trockenheit auf die Schweizer Wasserkraftproduktion auswirkt, sehen Sie in unserem Video:

Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob

Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob

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