Virtual Reality ohne Übelkeit: Wo steht die Forschung?
Die Tech-Branche verspricht sich davon das grosse Geld: das Metaverse. Doch vielen Menschen wird übel, wenn sie die Brille aufsetzen, die nötig ist, um sich in dieser virtuellen Welt zu bewegen. Forschende in der Schweiz tüfteln an Lösungen.
Luca Surace zieht sich eine Oculus-Brille mit Kopfhörern über. Auf den Bildschirmen in der Brille erscheint eine Achterbahn. Nicht irgendeine, sondern eine, die es in echt gar nicht geben kann. Mit unglaublichen Loopings und krassen Kurven zieht sie ihre Bahnen irgendwo hoch oben über der Erde.
Während der gesamten virtuellen Achterbahnfahrt misst ein Augentracker, wo genau Surace hinschaut. Mithilfe eines Joysticks kann der Doktorand angeben, wie stark er sich unwohl fühlt.
Auf der Skala geht Surace ein paarmal bis auf zehn, das Maximum. Nach dem Versuch muss er kurz an die frische Luft. Surace hat ein Unwohlsein verspürt, das in der Forschung als Cybersickness bekannt ist.
Genau damit beschäftigt sich die Gruppe seines Professors Piotr Didyk an der Università della Svizzera italiana in LuganoExterner Link. «Mich interessiert, wie Menschen Bilder wahrnehmen» sagt er.
Bei einem früheren Versuch haben insgesamt 25 Testpersonen mitgemacht. Drei davon mussten die virtuelle Achterbahnfahrt sogar abbrechen, weil ihnen zu unwohl dabei wurde. Dabei sind sie nur gesessen.
Bei einigen Menschen kann der Aufenthalt in virtuellen Realitäten gar zu Schwindel, Kopfschmerzen, Müdigkeit oder Schweissausbrüchen führen.
Für die Tech-Riesen ist das ein Problem. Meta, wie Facebook seit 2021 programmatisch heisst, hat stark in die Entwicklung des Metaverse investiert, eine immersive digitale Plattform, die mit dem Ziel antritt, menschliche Interaktionen in Echtzeit zu erleichtern. Microsoft investiert dieses Jahr sogar mehr als Meta, und Google folgt ihm auf Platz 3Externer Link.
Unser Video aus Lugano:
Cybersickness kommt häufig vor
Ein Blick in die Medienberichterstattung reicht, um zu erkennen, dass Cybersickness kein seltenes Phänomen ist. So berichtete eine Journalistin der HandelszeitungExterner Link, am World Economic Forum (WEF) sei ihr schlecht geworden, als sie bei der Vorstellung des virtuellen «Global Collaboration Village» aus einem immersiven Heissluftballon nach unten blickte.
Und eine Journalistin des NZZ Folio testete das Leben im MetaverseExterner Link während einiger Tage. «Am meisten fürchte ich mich inzwischen davor, mich auf den Teppich zu übergeben», fasste sie ihre Erfahrung zusammen.
Wenn das so genannte Metaverse ein Erfolg werden soll, müssen die Tech-Konzerne nach Lösungen suchen. Sie hoffen dabei auf die Forschung.
Gross angelegte Studie in Zürich
«Cybersickness ist seit Jahrzehnten eines der Haupthindernisse für die weit verbreitete Einführung von Virtual Reality (VR)», schreiben Forschende vom Sensing, Interaction & Perception Lab an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) in einer Studie, die letztes Jahr auf einer Konferenz vorgestellt wurde – mit 837 Testpersonen ist es die bisher grösste Feldstudie im BereichExterner Link Cybersickness.
Die Aufgabe: Die Testpersonen zwischen 18 und 80 Jahren mussten sich in einem virtuellen Ballsaal bewegen, den Kontakt mit dort anwesenden Hochzeitsgästen vermeiden, dabei aber einige spezielle Personen finden und mit diesen interagieren. Nach jeder Erfahrung meldeten sie ihren Grad an Cybersickness.
«Die Ergebnisse zeigten, dass weibliche Teilnehmende und Personen mit geringerer VR-Erfahrung anfälliger für höhere Stufen von Cybersickness waren», sagt Professor Christian HolzExterner Link, der die Studie begleitete. Ein Zusammenhang zwischen Alter und Cybersickness habe hingegen nicht festgestellt werden können.
Etwas vereinfacht wird derzeit davon ausgegangen, dass sich Cybersickness manifestieren kann, weil einige VR-Anwendungen ein Missverhältnis verursachen zwischen dem, was die Augen sehen, und dem, was das Innenohr wahrnimmt. Das so genannte Vestibularsystem ist für unser Gleichgewicht zuständig.
Die Stärke der Symptome im virtuellen Ballsaal habe zugenommen, je mehr Zeit die Teilnehmenden in der virtuellen Realität verbrachten und je weiter sie sich innerhalb der virtuellen Welt bewegten – bis zu einem gewissen Punkt, ab dem die Symptome abnahmen, so Holz.
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Metaverse kommt kaum voran
Dass es Menschen übel wird, wenn sie sich in virtuellen Räumen bewegen, könnte einer der Gründe sein, warum das Metaverse etwas ins Stocken geraten ist. Die grossen Tech-Konzerne arbeiten aber weiterhin mit Hochdruck an der Weiterentwicklung. Jüngstes Beispiel: die neue Augmented-Reality-Brille von Apple.
Bei der grundlegenden Technologie gebe es aber noch sehr viele offene Fragen, sagt Guido Berger, Digitalredaktor vom Schweizer Radio und Fernsehen SRF. «Alle, die sich mit der Technologie auskennen, sind sich einig, dass der Durchbruch nicht nächstes Jahr kommt. In zehn bis 15 Jahren haben wir es dann verstanden.»
Auch das Marktforschungs-Unternehmen Gartner schätzt in seinem «Hype Cycle»Externer Link, dass es noch mehr als zehn Jahre dauern wird, bis das Metaverse ausgereift sein wird.
Ein Beispiel: Das Institut für Finanzdienstleistungen Zug, Teil der Hochschule LuzernExterner Link, führte im Herbst zusammen mit der Luzerner Kantonalbank einen Anlass durch, bei dem Bankkundinnen und -kunden während einer Stunde an einem Meeting im Metaverse teilnahmen.
Der Aufenthalt in der virtuellen Welt sei anstrengender als ein physisches Meeting und etwas ermüdend gewesen, so die Rückmeldungen. Das Institut musste die Platzzahl für den Event im Metaverse beschränken, weil derzeit noch «eine sehr hohe Bandbreite» dafür nötig ist, um mehr Brillen vor Ort einsetzen zu können, hiess es im Erfahrungsbericht.
Warum der Standort Schweiz wichtig ist
Die Schweiz spielt in Sachen Virtual Reality eine Vorreiterrolle. Die VR-Brillen und die Technologie, die für das Metaverse nötig sind, werden bei Meta in Zürich entwickeltExterner Link. 300 Personen sind dafür am Schweizer Standort angestellt.
Auf Anfrage wollte Meta nicht präzisieren, inwiefern in Zürich zum Thema Cybersickness geforscht wird. Meta hatte erst im März eine weitere grosse Abbauwelle von weltweit 10’000 StellenExterner Link bekanntgegeben, nach einem Abbau von 11’000 im November. Ob der Schweizer Standort auch betroffen sein wird, ist noch nicht bekannt.
Die Erwartungen der Wirtschaft an die virtuelle Parallelwelt Metaverse sind gross. Sie verspricht sich davon einen virtuellen Marktplatz, der ihre Umsätze pushen soll.
Neben E-Commerce sind unter anderem auch Spiele und Unterhaltung, Bildungsangebote sowie Anwendungen im Gesundheitsbereich oder in der Kunst denkbar.
Was kann verbessert werden?
Soweit die Visionen. Aber: Das Ziel sollte sein, eine VR-Brille zu entwickeln, die so leicht ist, dass Nutzende vergessen, dass sie eine tragen. Ohne zu befürchten, dass ihnen dabei übel wird.
Daran tüfteln Didyk und sein Team, unter anderem mit finanzieller Unterstützung von Meta. «Die Frage ist, wie wir die Bilder in der Brille so effizient erzeugen können, dass wir die beste Qualität erhalten», sagt er.
Didyk ist überzeugt, dass Cybersickness durch intelligentes Design der Anwendungen verhindert werden kann.
Denn die Gründe sind, neben dem bereits erwähnten Missverhältnis zwischen Augen und Innenohr, meist technischer Natur: schlechte Bildauflösung, zu langsame Abbildung der Bewegungen auf dem Bildschirm (Latenz), niedrige Bildwiederholrate.
Didyk zeigt ein Beispiel einer verbesserten Anwendung für VR-Brillen. Vereinfacht gesagt nutzt das so genannte Foveated Rendering die Erkenntnis, dass unser Sichtfeld ziemlich eingeschränkt ist und es ausreicht, dass ein Bild nur in der Mitte unseres Sehbereichs scharf ist. Also genau dort, wohin das Auge schaut. Die Brille kann das mit Augentracking erkennen.
Durch diese Datenreduktion am Bildrand des Sichtfelds kann in der Bildmitte mit mehr Daten eine bessere Auflösung erreicht werden. Das führe zu einem angenehmeren Seherlebnis, so Didyk.
Weitere Anwendungen, an denen international geforscht wird, sind neben leistungsstärkeren Computern etwa Vibratoren am Hals, die von der Immersion ablenken sollen, und VR-Brillen mit optischen Stabilisierungssystemen oder verbessertem Augentracking.
Einen anderen Ansatz verfolgt die Neurowissenschaft: Verschiedene Studien zeigenExterner Link, warum Frauen häufiger von Cybersickness betroffen sind als Männer. Es ist ihr kleinerer Pupillenabstand. Sobald dieser Abstand in den VR-Brillen angepasst wurde, gab es keine Unterschiede mehr zwischen den Geschlechtern.
Und schliesslich erwähnt Holz von der ETH noch eine weitere Möglichkeit, sich vor Übelkeit im virtuellen Raum zu schützen: «Einer der effektivsten Wege, um gegen Cybersickness vorzugehen, ist, Pausen einzulegen.» Das heisst: Nutzerinnen und Nutzer sollten sich von Zeit zu Zeit in der Realität von den starken Eindrücken in der virtuellen Welt erholen.
Redigiert von Sabrina Weiss
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