Seit 30 Jahren gibt es in der Schweiz Drogen auf ärztliches Rezept
(Keystone-SDA) Vor genau 30 Jahren, am 30. November 1993, wurde in Zürich die erste ärztlich kontrollierte Abgabe von medizinischem Heroin angekündigt. Mittlerweile gibt es in der Schweiz 22 Abgabezentren. Einige Kantone wollen aber bis heute nichts davon wissen.
Am 30. November 1993 fand in Zürich eine denkwürdige Medienkonferenz statt: Sabine Geistlich vom Vorstand der «Arbeitsgemeinschaft für risikoarmen Umgang mit Drogen» (Arud) und Versuchsleiter André Seidenberg stellten die kontrollierte Abgabe von Diacetylmorphin, medizinischem Heroin, vor.
Das Bundesamt für Gesundheit hatte die ärztliche Verschreibung von medizinischem Heroin als Pilotprojekt endlich bewilligt. Das Drogenelend am Letten, dem «Schandfleck der Stadt», war da noch in vollem Gange. Die Stadt schloss die offene Drogenszene mit täglich bis zu tausend Süchtigen erst 1995.
Start mit 1200 Süchtigen
In einer ersten Phase nahmen 200 Abhängige aus der Stadt Zürich an der kontrollierten Opioid-Abgabe teil. Danach folgten rund 1000 weitere Personen in anderen Schweizer Zentren. Die Arud, der Name ist bis heute geblieben, gab bei Projektstart Methadon und Morphin ab, im Januar 1994 folgte dann das Heroin.
Im Sommer 1994 gab es in der Stadt Zürich zudem einen Versuch mit Kokainzigaretten. Dieser wurde jedoch wieder beendet, weil Kokainzigaretten politisch nicht akzeptiert wurden. Kokain ist bis heute nicht Teil der kontrollierten Drogenabgabe. Den Stoff, auch in den Mischformen Crack und Freebase, gibt es nur illegal.
70 Prozent weniger Beschaffungskriminalität
Die Abgabe von medizinischem Heroin entpuppte sich als Erfolg: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten sich deutlich stabilisieren, die Beschaffungskriminalität in der Stadt Zürich ging um 70 Prozent zurück. Bis heute gilt die Abgabe von so genannten Opioid-Agonisten als wichtiger Teil der «Vier-Säulen-Politik», die aus Prävention, Therapie, Repression und Schadensminderung besteht.
Aktuell beziehen rund 1600 Personen medizinisches Heroin über eines der 22 Abgabezentren in der Schweiz, davon entfallen 550 auf das Arud-Zentrum in Zürich. Viele von ihnen sind bereits älter und erlebten den Letten und zuvor den Platzspitz mit.
«Leider gibt es bis heute noch einige Kantone, die keine ärztlich kontrollierte Drogenabgabe haben», sagte Thilo Beck, Co-Chefarzt Psychiatrie der Arud, auf Anfrage von Keystone-SDA.
Die weissen Flecken auf der Landkarte sind unter anderem Tessin, Jura, Wallis, Thurgau sowie vier Kantone in der Zentralschweiz. «Das ist eine grosse Ungerechtigkeit im Versorgungssystem und widerspricht dem Menschenrecht auf adäquate ärztliche Behandlung», sagte Beck weiter. Wer im Tessin abhängig sei und an einem Programm mit medizinischem Heroin teilnehmen wolle, müsse zwangsläufig in einen anderen Kanton ziehen.
«Die Süchtigen sind immer noch da»
Dass die «weissen Flecken» doch noch nachziehen, glaubt Beck nicht unbedingt. «Der Problemdruck für Städte und Kantone ist nicht mehr vorhanden, weil es dank der Vier-Säulen-Politik keine offenen Szenen wie in den 1990er-Jahren mehr gibt.» Die Abhängigen seien aber immer noch da. «Sie stören nur nicht mehr.»
Nach wie vor beziehen nur 10 Prozent aller Programmteilnehmerinnen und -teilnehmer Heroin. Am meisten verschrieben werden die Opioide Methadon, Morphin und Buprenorphin. Heroin folgt erst auf Platz vier – in erster Linie, weil die gesetzlichen Hürden für die Teilnahme an der Heroin-Abgabe höher sind als bei den anderen Stoffen.
Die meisten Heroin-Bezüger und -Bezügerinnen spritzen heute nicht mehr, sondern erhalten Tabletten. Viele von ihnen zerhacken die Tabletten aber gerne und schnupfen sie, was die Nase schädigt. Aktuell läuft deshalb eine Beobachtungsstudie mit flüssigem Heroin, das ohne Schäden zu hinterlassen in die Nase gesprüht werden kann.
Heroin für maximal eine Woche
Handlungsbedarf sieht Beck noch bei der Häufigkeit, mit der Heroin-Bezüger ihr Medikament abholen müssen: Die Abgabestellen dürfen Heroin nur für maximal eine Woche mit nach Hause geben. Alle anderen Opioide gibt es hingegen für einen Monat «auf Vorrat».
«Wir wünschen uns, dass es auch Heroin für einen Monat gibt», sagte Beck – also eine Gleichstellung der Heroin-Bezügerinnen und -Bezüger. Die Leute hätten das grossmehrheitlich im Griff, zeigte er sich überzeugt. Nur ein sehr kleiner Teil verkaufe die Mitgaben auf dem Schwarzmarkt. Dann würden die Mitgaben sofort eingestellt.
Die meisten von ihnen seien Langzeitpatienten, die ein normales Leben mit Beruf, Familie und Hobbys führten oder sich sonst weitgehend stabilisiert hätten. «Aber zwei Wochen Ferien sind ihnen nicht möglich, weil das Heroin ausgeht.»