Entstigmatisierung von Suchterkrankungen
Dreissig Jahre nach den offenen Drogenszenen in mehreren Schweizer Städten hat das Bundesgericht vor kurzem einen wegweisenden Entscheid gefällt: Suchtabhängige werden künftig als Kranke betrachtet. Die Betroffenen haben somit unter bestimmten Voraussetzungen neu Anspruch auf eine IV-Rente.
Der amerikanische Autor William Burroughs schrieb 1959 in seinem skandalumwitterten Werk «Naked Lunch» (frei zitiert): «Ob man den Stoff schnupft oder raucht, isst oder ihn sich auf andere Art reinzieht, das Ergebnis ist immer das gleiche: Abhängigkeit.» Und weiter: «Ein Drogensüchtiger ist ein Mensch mit dem totalen Verlangen nach Stoff.» Burroughs hatte während fünfzehn Jahren unter dem Einfluss von Heroin und Morphin gestanden.
Sechzig Jahre später kommt das Schweizerische BundesgerichtExterner Link in seinem Entscheid vom 11. Juli zum Schluss, bei Drogenabhängigkeit dränge sich die gleiche Sichtweise auf wie bei psychischen und geistigen Störungen. Bis anhin galt: Drogenabhängige Versicherte hatten nur dann Anspruch auf IV-Leistungen, wenn ihre Sucht in eine Krankheit (oder einen Unfall) mündete oder infolge einer Krankheit entstanden war. Man vertrat also die Auffassung, die süchtige Person habe ihren gesundheitlichen Zustand selbst verschuldet und könne die Abhängigkeit mit einem Entzug ohne weiteres beheben.
Geänderte Rechtsprechung
Gestützt auf neuste medizinische Erkenntnisse hat das Bundesgericht die Beschwerde eines 44-jährigen Zürcher Fahrzeugschlossers gutgeheissen. Der benzodiazepin- und opioidabhängige Mann hatte seit Jahren auf eine IV-Rente gehofft, war aber mit seiner Beschwerde vor dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich abgeblitzt. Dieses ging davon aus, dass grundsätzlich jede Abhängigkeit mit einem Entzug behandelt werden könne. Laut dem nationalen Kompetenzzentrum Sucht Schweiz führt jedoch die tägliche Einnahme von Benzodiazepinen während vier bis acht Wochen «in der Regel zu einer physischen Abhängigkeit» und ein lang anhaltender Gebrauch kann «zu verschiedenen Risiken, insbesondere bezüglich des Erinnerungsvermögens sowie der kognitiven Fähigkeiten» führen. Dieser Argumentation ist das Bundesgericht anscheinend gefolgt.
Die Richter haben in ihrem Argumentarium insbesondere eingeräumt, eine abhängige Person müsse «beträchtliche Ressourcen mobilisieren, um ihrem Verlangen, die Substanz immer wieder zu konsumieren, widerstehen zu können». Dadurch werde ihre Fähigkeit, ganz oder teilweise einer Arbeit nachgehen zu können, beeinträchtigt. Wenn der Gebrauch psychoaktiver Substanzen zu wiederholten Unterlassungen am Arbeitsplatz führe oder dem Substanzgebrauch der absolute Vorrang vor anderen Aktivitäten gegeben werde, handle es sich klar um ein «krankheitswertiges Geschehen».
Mit dieser neuen Rechtsprechung können Personen, die von harten Drogen und Opioiden abhängig sind, inskünftig IV-Leistungen beantragen, sofern ihre Arbeitsfähigkeit durch psychische Störungen (Depression, Schizophrenie) erheblich eingeschränkt ist. Die entsprechenden Dossiers werden von Fachleuten für die berufliche Eingliederung und Ärzten analysiert. Gemäss Schätzungen können nur gerade zehn Prozent der rund 16’000 Personen, die in der Schweiz durch ein Zentrum für ambulante Suchtbehandlung begleitet werden, mit einer IV-Rente rechnen.
In den 1990er-Jahren automatisch registriert
«Vor 25 Jahren waren so gut wie alle Menschen, die damals an dieser Art von Abhängigkeit litten, schon bei der Invalidenversicherung», erinnert sich Barbara Broers, medizinische Leiterin der Suchtabteilung am Universitätsspital Genf (HUG). Bei der in der Schweiz anfangs der 1990er-Jahre eingeführten Vier-Säulen-Politik (Prävention, Therapie, Risikominderung, Repression) ging es vor allem darum, den gesundheitlichen Notstand in den Griff zu bekommen und die offenen Drogenszenen einzudämmen, die sich in Zürich und Bern ausbreiteten.
«Dieser Teil der Bevölkerung galt als Risikogruppe und litt häufig an körperlichen Krankheiten (HIV, Hepatitis). Es wäre moralisch nicht vertretbar gewesen, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Die Invalidenversicherung unterstützte die Betroffenen, damit sie ihre monatlichen Rechnungen bezahlen, irgendwo unterkommen und sich ernähren konnten. Möglicherweise ist die IV damals auch zu weit gegangen. Denn sie hat diese Menschen, ohne Hoffnung auf Besserung, aufs Abstellgleis geschoben», rekapituliert Broers. «Seither sind mit den verschiedenen IV-Revisionen ständig neue Restriktionen hinzugekommen.»
«Die Patientinnen und Patienten haben einen langen Weg hinter sich. Es gilt, alle Akten auf den Tisch zu legen und sorgfältig zu studieren.» Barbara Broers, Ärztin
Tieferliegende Gründe
Für Barbara Broers hat eine Abhängigkeit komplexe Ursachen. Daran ändern auch all die neuen medizinischen Entwicklungen, namentlich die Möglichkeit, sich heutzutage vermehrt der Hirnrezeptoren-Bildgebung zu bedienen, nichts. «Der Drogenkonsum kann eine Reaktion auf tieferliegende Ursachen sein: auf post-traumatische Störungen oder einen Leidensdruck, der mit der ganzen misslichen Situation einhergeht.» Nach ihrer Einschätzung dürfte es bisweilen schwierig werden, zu bestimmen, ab welchem Grad einer Substanzkonsumstörung («Substance-related disorder») eine Rente bewilligt werden sollte. «Die Patientinnen und Patienten haben einen langen Weg hinter sich. Manchmal sind sie nach dem Entzug wieder rückfällig geworden. Es gilt, alle Akten auf den Tisch zu legen und sorgfältig zu studieren», betont Broers.
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«Ohne Heroinprogramm wäre ich wohl tot»
«Die IV-Stelle holt sämtliche Auskünfte ein, die notwendig sind, um sich ein Bild vom Gesundheitszustand des Antragstellers, seiner beruflichen Situation und seinem gewohnten Aufgabenbereich machen zu können», erklärt Sabrina Gasser, Mediensprecherin des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV). Ein interdisziplinäres Team von Experten für die berufliche Eingliederung/Arbeitsvermittlung und Fachärzten, vor allem der regionalen ärztlichen Dienste (RAD), wirkt bei der Abklärung und medizinischen Beurteilung mit. Dieses Team beurteilt auch die Auswirkungen der Krankheit auf die Erwerbsfähigkeit der versicherten Person.
Beobachtungsphase
Im Zentrum für ambulante Suchtbehandlung (Suprax) in Biel geht man davon aus, dass durch diese Änderung der Rechtsprechung etwa 10 Prozent der Patientinnen und Patienten neu einen Anspruch auf IV-Rente geltend machen könnten. Es handelt sich um Personen, die infolge einer Substanzgewöhnung gesundheitlich angeschlagen sind. «Die IV des Kantons Bern hat die Abteilung Soziales der Stadt Biel bereits darüber informiert, dass die Renten nicht automatisch allen Suchtkranken zustehen. Man muss den Nachweis erbringen, dass deren Gesundheit sich verschlechtert hat», fasst Suprax-Geschäftsleiterin Regula Hälg zusammen.
«In einer ersten Phase werden wir die Situation im Auge behalten, dann wählen wir mehrere Patientinnen und Patienten aus und unterbreiten ihre Dossiers der IV.» In Biel nehmen rund 200 Personen an einem Substitutionsprogramm teil. Sie arbeiten nur in seltenen Fällen 100 Prozent: Die meisten haben ein reduziertes Pensum oder sind psychisch oder physisch nicht mehr in der Lage, normal zu arbeiten. Von den 208 Personen, die bei der Suprax in Behandlung sind «dürften in Zukunft etwa zwanzig in den Genuss einer IV-Rente kommen», meint Regula Hälg.
«Eine IV-Rente sollte es ihnen ermöglichen, in ein geordnetes Leben zurückzufinden und sich sozial besser zu integrieren.»
Ruth Dreifuss, Alt-Bundesrätin
Menschliche Würde
Die ehemalige Bundesrätin Ruth DreifussExterner Link, ab 1993 Vorsteherin des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI), hatte die offene Drogenszene auf dem Zürcher Lettenareal besucht, um sich selbst ein Bild von der desolaten Situation zu machen, diesem rechtsfreien Raum, in dem Menschen an einer Überdosis, an Hepatitis und Aids starben. Dreifuss kam schon damals zum Schluss, man müsse diese Menschen als «Kranke» betrachten, nicht als Schmarotzer oder Randständige, es brauche mehr Gesundheitsprogramme und weniger Repression. Ihr ging es in allererster Linie um menschliche Würde.
Die Botschaft, von der sie in all den Jahren keinen Zoll abgewichen ist, hat nun beim Bundesgericht Gehör gefunden. «Die Bundesrichter haben unter Berücksichtigung der neusten Erkenntnisse der WHO-Berichte einen positiven und naheliegenden Entscheid gefällt», betont die Alt-Bundesrätin und Vorsitzende der Weltkommission für Drogenpolitik (Global Commission on Drug PolicyExterner Link). Mit diesem Urteil werde abhängigen Menschen ein Recht zugestanden. «Viele von ihnen sind heute auf Unterstützung durch die öffentliche Hand angewiesen. Eine IV-Rente sollte es ihnen ermöglichen, in ein geordnetes Leben zurückzufinden und sich sozial besser zu integrieren, sie gleichzeitig aber auch dazu befähigen, Verantwortung zu übernehmen.»
(Übertragung aus dem Französischen: Cornelia Schlegel)
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