Alpine Steueroase bangt ums Überleben
Die Schweizer werden demnächst über eine Initiative abstimmen, welche die Abschaffung der Pauschalsteuer für reiche Ausländer verlangt. Im Wallis, einer der Kantone, die vom umstrittenen Steuerprivileg am meisten Gebrauch machen, nimmt die Verunsicherung zu, und die Stimmung ist angespannt.
Die Gemeinde Lens, die sich ein Stück weit der kurvenreichen Strasse vom Rhonetal hinauf zum Ferienort Crans-Montana entlang ausbreitet, hat verschiedene Gesichter: Ausserhalb des kleinen historischen Dorfkerns, der seinen Walliser Charme von einst behalten hat, reiht sich Chalet an Chalet, eines imposanter als das andere. Kräne und Luxusresidenzen schiessen wie Pilze aus dem Boden und der Bauboom scheint keine Grenzen zu haben: Auf einem Stück Bauland von 1000 m2 entsteht bis 2015 ein «Prestige-Chalet», und nur wenig weit davon entfernt sind 4 Chalets mit «sehr hohem Lebensstandard» schon fast bezugsbereit.
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Zwischen Authentizität und Luxusresidenzen
Die Annahme der Weber-Initiative im März 2012, die den Bau von Zweitwohnungen begrenzen sollte, hat dem Baurausch in der Region kein Ende gesetzt. Mit 3000 Zweitwohnungen für 4000 Bewohner hat Lens die Grenze von 20 Prozent «kalte Betten», welche die Weber-Initiative setzt, längstens überschritten.
Seither hat die Gemeinde eine neue Kundschaft im Visier, wenigstens offiziell: Lens und die fünf anderen Gemeinden, die zur Tourismusdestination Crans-Montana gehören, buhlen mehr denn je um die Gunst reicher Ausländer, die willens sind, in der Region festen Wohnsitz zu nehmen.
«Wir verfolgen eine aktive Politik, um diese Personen anzulocken. Ich suche den Kontakt mit Treuhändern, mit Banken, empfange Vertreter, um ihnen die Vorteile unserer Station gegenüber anderen Destinationen wie Gstaad oder Verbier zu preisen», sagt David Bagnoud. Der Gemeindepräsident von Lens hat nicht nur ein unvergleichliches Alpenpanorama, viel Höhensonne sowie ein umfangreiches Sport- und Kulturangebot zu bieten, sondern auch einen weiteren starken Trumpf im Konkurrenzkampf um betuchte Kunden in derHand: die Pauschalsteuer, die es reichen Ausländern, die in der Schweiz keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, erlaubt, nur eine Steuer aufgrund ihrer Ausgaben anstatt des tatsächlichen Einkommens und Vermögens zu bezahlen.
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Was die Pauschalsteuer der Schweiz einträgt
Unverhoffter Geldsegen
«Wir können jedes Jahr auf rund ein Dutzend Neuankömmlinge zählen, gegenüber 5 bis 6 wegziehenden Personen. Derzeit leben in unserer Gemeinde mehr als 200 Ausländer, vorwiegend aus Europa, die von einer Pauschalsteuer profitieren können. In der ganzen Region Crans-Montana sind es rund 500», berichtet der Präsident. Mit 1274, die im Jahr 2012 registriert wurden, liegt das Wallis hinter dem Kanton Waadt, der von diesem Steuermodell am häufigsten Gebrauch macht. Das Wallis verzeichnet aber die stärkste Zunahme in den letzten 15 Jahren: 1999 wohnten erst 500 Pauschalbesteuerte auf Walliser Boden.
«Der Geldsegen ist für die Kantone und Gemeinden beachtlich. Diese reichen Ausländer zahlen jedes Jahr 82,8 Millionen Franken in die Steuerschatulle, oder 4,35% der gesamten Steuereinnahmen von natürlichen Personen», sagt Beda Albrecht, Chef der Walliser Steuerverwaltung.
Die Gemeinde Lens bringt damit allein 5 Millionen ins Trockene. «Das entspricht rund 70% unserer jährlichen Investitionen. Diese Einnahmen sind unentbehrlich für eine touristische Gemeinde wie unsere, die eine gewaltige Infrastruktur unterhalten muss: Bergbahnen, Wellness- und Freizeitzentren, Eisbahn, usw.», sagt David Bagnoud.
Aber der Goldesel der Schweizer Kurorte hat nicht nur Freunde. Pauschalsteuern sind im Ausland umstritten, vor allem in Frankreich, wo Steuerexil manchmal patriotischem Verrat gleichgesetzt wird.
2012 hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Schweiz aufgefordert, der Pauschalbesteuerung ein Ende zu setzen. Aber der Gnadenstoss droht aus dem Inland. Das Schweizer Stimmvolk könnte noch vor Ende 2015 an die Urne gerufen werden, um sich zu einer Initiative der politischen Linken zu äussern, welche die Abschaffung der Pauschalsteuer im ganzen Land verlangt. Fünf Deutschschweizer Kantone haben sie in den letzten Jahren bereits abgeschafft: Zürich, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Schaffhausen sowie Appenzell Ausserrhoden.
Das System der Pauschalsteuer basiert in der Schweiz auf dem Lebensstandard und den Ausgaben des Steuerzahlers und nicht auf dem tatsächlichen Einkommen und Vermögen. Angewendet wird es nur bei Ausländern, die keiner Erwerbstätigkeit in der Schweiz nachgehen. Auch Sportler oder Künstler können davon profitieren.
2012 hat das Parlament entschieden, die Bedingungen der Pauschalsteuer zu verschärfen. Sie gelten ab 2016. Die Mindestausgabe, die im Rahmen der kantonalen und eidgenössischen Steuern in Rechnung gezogen wird, beträgt das Siebenfache des Mietzinses oder des lokalen Mietwerts der Wohnung. Was die direkte Bundessteuer betrifft, können nur Personen von dem Steuerprivileg profitieren, die über ein Einkommen von mindestens 400’000 Franken verfügen.
Ein Beispiel: Ein Ausländer, der in der Schweiz eine Wohnung kauft, deren Mietwert monatlich 5000 Franken beträgt, wird zum gleichen Steuersatz wie die anderen Steuerzahler auf einem Einkommen von CHF 420’000 (5000 x 12 x 7) besteuert. Hinzu kommen allfällige weitere Ausgaben, wie Autos oder Privatflugzeuge.
Die Besteuerungsform steht Personen zu, die erstmals oder nach mindestens zehnjähriger Landesabwesenheit steuerrechtlichen Wohnsitz in der Schweiz nehmen.
Katastrophales Szenario
Die Unsicherheit ist in Lens mehr als spürbar. «Für die Tourismusstationen, aber auch für alle anderen Gemeinden des Wallis, die von der Pauschalsteuer via Finanzausgleich (System, das die finanziellen Ressourcen unter den Gemeinden ausgleichen soll, N.d.R.) profitieren, wäre die Annahme dieser Initiative katastrophal. Gemäss den Szenarien, die wir ausgearbeitet haben, wären die negativen Auswirkungen unvergleichlich grösser als jene der Weber-Initiative», befürchtet David Bagnoud.
Viele reiche Ausländer denken bereits daran, die Schweiz zu verlassen, oder haben sich auf eine rasche Reaktion vorbereitet, falls die Initiative angenommen würde, sagt Daniel Emery, Direkor der Treuhandfirma Fidag SA in Crans-Montana. «Diese Leute, vor allem die wohlhabendsten unter ihnen, sind sehr mobil. Und die Konkurrenz auf dem internationalen Markt ist wachsam: Portugal und England bieten zum Beispiel ähnliche Steuermodelle zu günstigen Bedingungen an», sagt er.
Daniel Emery fürchtet nicht nur mögliche Verluste bei den Steuereinnahmen, sondern auch negative Auswirkungen auf die örtliche Wirtschaft: «Die Ausgaben dieser Leute sind unentbehrlich für den Ferienort Crans-Montana, der schon vom harten Schweizer Franken bestraft wurde.» Laut David Bagnoud profitieren alle davon, und eine grosse Mehrheit der Bürger möchte die Pauschalsteuern behalten.
Die Stimmen im Dorf sind aber differenzierter, als es die Behörden behaupten. Mehrere Leute, die nicht namentlich genannt werden wollen, haben swissinfo.ch anvertraut, dass sie nicht einverstanden seien: «Ich habe keine Lust, im Dorf als Schwarzes Schaf abgestempelt zu werden», sagt einer von ihnen, der «aus Gerechtigkeitsgründen» aber auch im Interesse der Landschaft dagegen ist. «Diese monströsen Chalets zeugen von einer anarchischen Entwicklung der Gemeinde. Es gibt keine Grenzen: Je mehr gebaut wird, umso besser. Es wurde nie darüber nachgedacht, welche Grösse ideal für das Dorf wäre. Die Geschäftsleute und die Immobilienmakler regieren die Gemeinden von Crans-Montana. Sie handeln kurzfristig mit dem Ziel, immer mehr Geld zu verdienen. Es ist einfach kopflos», sagt er.
Die Diskretion der reichen Expats
Eine andere Bewohnerin stört sich an der Stimmung, die bei dieser Frage im Dorf herrscht: «Die Bevölkerung wird mundtot gemacht. Die Leute sind seit der Annahme der Weber-Initiative und der Revision des Raumplanungsgesetzes noch verkrampfter. Wenn wir offen Stellung nehmen, lassen es uns die Gemeindebehörden spüren: Sie werfen uns Idealismus vor, und dass wir ins letzte Jahrhundert zurückkehren möchten. Hier gibt man immer den anderen die Schuld und denkt nie über die eigenen Fehler nach.»
David Bagnoud gibt zu, dass seine Dorfbewohner einen gewissen Druck empfinden. «Aber er ist ökonomischer Natur», sagt er. «Ohne den Geldsegen würden die Bürger zur Kasse gebeten und auf zahlreiche Vorteile verzichten müssen.»
Claude Ferrier, der Wirt im Café des Amis, bestätigt, dass das Thema bei den Diskussionen am runden Tisch «tabu» sei. Der gebürtige Franzose, der die Region 1986 entdeckt hat, zögert aber selber nicht, seinen Widerstand öffentlich kund zu tun: «Von diesen Pauschalsteuern profitiert die Gemeinde, aber nicht die Geschäftsleute des Dorfes.
Keiner dieser reichen Ausländer hat jemals die Schwelle zu meinem Lokal betreten. Ich stelle lediglich fest, dass die Boden- und Immobilienpreise explodiert sind, und meine Töchter sich in Lens keine Wohnung leisten können.»
Angesprochen auf die beiden ehemaligen Tennis-Profis Amélie Mauresmo und Fabrice Santoro, zwei der illustren Landsleute, die sich in Lens niedergelassen haben, sagt Claude Ferrier: «Hier hat sie noch nie jemand gesehen.»
Es gehört zu den Pflichten der Einwohnerkontrolle der Gemeinde zu prüfen, dass die Nutzniesser der Pauschalbesteuerung mindestens zur Hälfte des Jahres hier wohnen, wie es das Gesetz verlangt. David Bagnoud bestätigt, dass es nicht viele Kontrollen gibt: «Wir kennen die Leute, die Mehrheit von ihnen sind Rentner und halten sich an die Regeln. Aber ich kann nicht garantieren, dass es keine Schummler gibt. Amélie Mauresmo kennt die Regeln. Sie ist jung, übt zahlreiche Aktivitäten aus und ist oft auf Reisen.»
Leider hat der ehemalige französische Tennisstar auf die Fragen von swissinfo.ch nicht geantwortet.
Ein brandneues Kunstzentrum
Anstatt zu polemisieren, möchte uns der Präsident von Lens lieber die Errungenschaften der Gemeinde zeigen, die dank der Pauschalsteuer möglich wurden. Zum Beispiel die Fondation Pierre Arnaud. Das soeben eingeweihte Kunstzentrum am Rand des historischen Dorfkerns soll einer der wichtigsten kulturellen und touristischen Anziehungspunkte des Wallis werden. Das imposante Gebäude mit der Glasfassade hat 14,5 Millionen Franken gekostet. Die Gemeinde hat 1 Million beigesteuert.
Reiche Pauschalbesteuerte haben zur Finanzierung beigetragen. «Sie gehören natürlich zu unserer Kundschaft», bestätigt Véronique Nanchen, eine der Verantwortlichen der Fondation Pierre Arnaud. Diese Personen, die vorher in den grossen Kultur- und Finanzzentren wohnten, sind glücklich, in dieser Region eine kulturelle Institution dieser Qualität vorzufinden.» Gewiss, sagt Véronique Nanchen, einigen Leuten in Lens passt es nicht, «dass ihre Gewohnheiten gestört werden», aber eine grosse Mehrheit habe das Kulturzentrum bei der Einweihung vor zwei Monaten mit «überbordendem Enthusiasmus und leuchtenden Augen» empfangen. «Das Dorf entwickelt sich dynamisch und hat es verstanden, seine Geschäfte zu erhalten und gleichzeitig den Gästen eine aussergewöhnliche Lebensqualität zu bieten», lobt sie.
Bis in zwei Jahren soll ein weiteres Grossprojekt, nämlich eine internationale Schule, das Licht der Welt erblicken. An der Gemeindeversammlung vom 16. Oktober 2013 war das Projekt von den 202 anwesenden Bürgerinnen und Bürgern einstimmig – bei einer Enthaltung – angenommen worden. «Lens hat sich in den letzten Jahren sehr stark entwickelt, und wir werden uns nicht darüber beklagen», sagt eine von ihnen. «Aber was wird aus all den luxuriösen Chalets und Mega-Projekten werden, wenn die Pauschalsteuer eines Tages abgeschafft werden sollte?
Den Behörden mangelt es an Visionen und Voraussicht. Die örtliche Landwirtschaft haben sie zum Nachteil des Tourismus total vernachlässigt», sagt sie.
Vor 20 Jahren zählte Lens noch zwei Dutzend Bauernbetriebe. «Demnächst wird der letzte Bauer seinen Hut an den Nagel hängen», sagt David Bagnoud beim Abschied.
Die von den Links-Parteien unterstützte Volksinitiative zur Abschaffung der Pauschalsteuer wurde im Oktober 2012 eingereicht. Derzeit berät das Parlament die Initiative mit dem Titel «Stopp den Steuerprivilegien für reiche Ausländerinnen und Ausländer», danach wird sie dem Stimmvolk unterbreitet werden.
In der kleinen Parlamentskammer hat sich eine Mehrheit für die Pauschalsteuer ausgesprochen. Sie trage zur wirtschaftlichen Attraktivität der Schweiz bei und sei ein Zeichen eines gut funktionierenden Föderalismus.
Die Linke kritisiert, die steuerliche Bevorzugung von Einzelpersonen sei ungerecht und verfassungswidrig. Ausserdem gebe es wenig Transparenz bei der Anwendung des Steuerregimes in den Kantonen.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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