Anpassung der Religionen als Antwort auf den Dschihadismus
Nach den mörderischen Anschlägen in Paris durch drei Dschihadisten, befindet sich die muslimische Religion wieder auf der Anklagebank. Die monotheistischen Religionen können sich in der Debatte um die Rolle des Glaubens in der Gesellschaft nicht mehr aus der Verantwortung ziehen, sagen Vertreter der drei Glaubensrichtungen.
Matrix der Mörder, durch Extremisten manipuliert, fälschlicherweise vermengt oder mitverantwortlich für die mörderische Ausdrucksweise des religiösen Fanatismus? Der Islam ist – wie nach den Attentaten vom 11. September 2001 – erneut auf dem Prüfstand.
Nach den Attentaten auf die Redaktion von Charlie Hebdo und auf Kunden eines jüdischen Lebensmittelgeschäfts haben sich Erzbischof Silvano Tomasi, Rabbi François Garaï und der Direktor der islamischen Stiftung «Entre-Connaissance», Hafid Ouardiri, in Genf im «Club suisse de la Presse» getroffen. Die Konferenz war langfristig geplant worden, um mit Professor Mohammad-Mahmoud Ould Mohamedou über die Rolle der Religionen in modernen Gesellschaften zu reden.
Erschüttert von den Morden und dem Angriff auf das Symbol der Meinungsäusserungs-Freiheit haben die Redner Wert darauf gelegt, eine Reihe Realitäten in Erinnerung zu rufen, welche die Buch-Religionen betreffen, bekannte Wahrheiten, die aber noch wenig anerkannt sind.
Anders als die von gewissen Würdenträgern geäusserten Worte voller Gewissheit, haben die drei Religionsvertreter die Diskussion mit einer Art «mea culpa» eröffnet, um die Frage des friedlichen Zusammenlebens zwischen den verschiedenen Gläubigen und den anderen anzugehen.
Laizität in der Schweiz
Das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat (Laizität) bedeutet, dass der Staat keinerlei religiöse Macht und die Religionen keinerlei politische Macht ausüben.
In der Schweiz wenden nur die Kantone Genf und Neuenburg das Laizitätsprinzip strikte an. In den anderen Kantonen und in der Bundesverfassung garantiert die Neutralität des Staats auf konfessioneller Ebene für die Glaubens- und Gewissensfreiheit.
swissinfo.ch
«Der Feind des Islams steckt auch in ihm selbst»
Hafid Ouardari, Direktor der Stiftung «Entre-Connaissence», er war der ehemalige Sprecher der Genfer Moschee, dem die Islamische Weltliga auf Druck des Geldgebers, nämlich Saudi-Arabiens, gekündigt hatte, unterstrich, dass die Ereignisse von Paris zeigten, dass der Feind des Islams auch in ihm selbst stecke.
Es genüge nicht mehr, nach jedem dschiadistischen Attentat zu wiederholen, dass dieser Terrorismus nichts mit dem Islam zu tun habe: «Das ist eine billige Art, sich aus der Affäre zu ziehen. Heute ist es klar, dass wir (Muslime, N.d.R.) zurecht in Frage gestellt werden.»
«Der Islam ist nicht archaisch. Aber die Art, wie er von einer Mehrheit verstanden wird, ist archaisch», sagt Hafid Ouardiri, der dafür plädiert, die Anstrengungen für eine Interpretation der Grundtexte des Islams wiederzubeleben, eine Anpassung, wie sie von gewissen Strömungen des Christentums und des Judentums schon vorgenommen wurden. «Die vehementesten Bremser für eine Weiterentwicklung der Botschaft des Islams sind oft Leute, die den Islam praktizieren. Auf religiöser Ebene befinden wir uns in einer Situation der Unterentwicklung, obwohl wir alle die Werkzeuge dafür hätten, in eine positive Dynamik zu gelangen.»
Aus der religiösen Hegemonie austreten
Laut den Rednern tragen auch die beiden anderen Buch-Religionen den Ausschluss der anderen in sich. Der Vertreter des Heiligen Stuhls an der UNO fragt sich, ob die monotheistischen Religionen in ihrer tiefen Natur den politischen Pluralismus akzeptieren können und sagt dazu: «Es genügt, an Gott zu glauben, der die Nächstenliebe gebietet», um die Prinzipien der Laizität, der Trennung von Kirche und Staat, und der Unparteilichkeit des Staats gegenüber den Religionen zu akzeptieren.
François Garaï, Rabbi der liberalen jüdischen Gemeinschaft in Genf, ist auf der gleichen Linie. Er anerkennt, dass «alle unsere religiösen Traditionen hegemonisch sein können. Man muss sie aufgeben.»
«Damit unsere religiösen Traditionen eine positive Rolle spielen können (in unseren Gesellschaften, N.d.R.) müssen sie sich anpassen, sonst können diese Grundsätze tödliche Folgen haben.»
Die problematische Rückkehr von Gott
Die Nihilisten des Dschihads sind das Produkt individueller, sozialer, politischer und geopolitischer Faktoren, die über deren religiöse Zugehörigkeit hinausgehen. Aber sowohl Silvano Gommasi wie François Garaï haben den Schriftsteller Marek Halter zitiert, welcher der Ansicht ist, dass «Gott zurück ist», was alles noch komplizierter macht. Heute muss man sich trauen, von Gott zu sprechen. Das Stillschweigen, das von einer falsch verstandenen Laizität diktiert wird, ist das schlechteste Rezept», sagte der Schriftsteller nach den Attentaten in Paris gegenüber der Westschweizer Tageszeitung Le Temps.
Mohammad-Mahmoud Ould Mohamedou, Professor am Centre de politique de sécurité in Genf, hat versucht, das Phänomen zu quantifizieren. Er zitiert eine internationale Umfrage des Instituts Gallup von 2012 mit 40’000 Befragten aus 40 Ländern, die ergeben hat, dass sich 59% der Weltbevölkerung als gläubig bezeichnen, 23% als nicht-religiös und 13% als Atheisten, die Restlichen hatten keine Meinung geäussert. Die Zahl der Gläubigen hat gemäss dieser Recherche in den letzten Jahren in den muslimischen Ländern sogar noch zugenommen, während sie in den westlichen Ländern rückläufig war.
Ist die Religion zurück? Es handle sich eher um ein Wiederauftreten nach dem Schmelzen der Gletscher des Kalten Kriegs, sagt Mohammad-Mahmoud Ould Mohamedou, also dem Ende der Konfrontation zwischen der UdSSR und der westlichen Welt und ihrer jeweiligen Ideologien. Diese Wende habe das Scheitern des arabischen Nationalismus offengelegt und die Promotoren des muslimischen Fundamentalismus begünstigt.
Welche muslimischen Vertreter?
Was die buchstabengetreue Auslegung des Korans durch die Fundamentalisten betrifft, auf die sich die Dschihadisten berufen, stellt Hafid Ouardiri die rethorische Frage: «Wer spricht im Islam von Gott? Wo sind jene, die uns aufklären können? Hier sind mehrere Leute anwesend, die versuchen, eine Vertrauensgrundlage für unsere Unterschiede zu schaffen. Aber wir sind total überfordert. Wer in einen Dialog tritt, hat die notwendigen Mittel, es zu tun. Aber die Masse der Gläubigen folgt dem nicht.»
Die muslimische Welt in der Schweiz
Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat der Islam einen beachtenswerten Platz in der Religionsgeschichte der Schweiz eingenommen: Seit 1990 belegen die Muslime den dritten Platz unter den grössten konfessionellen Gruppen.
Die Muslime der Schweiz bilden keine einheitliche Gemeinschaft. Sie gehören unterschiedlichen religiösen, kulturellen und nationalen Traditionen an. Nur eine Minderheit unter ihnen bezeichnet sich als praktizierend.
2010 stammten die Mehrheit der Muslime in der Romandie (Westschweiz) aus arabischen Ländern. Die Mehrheit der Muslime in der Deutschschweiz waren Immigranten oder deren Nachkommen aus den Balkan-Staaten, der Türkei und Iran. Einige wenige Schweizer sind in den letzten Jahren zum Islam konvertiert.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch