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Arbeit ist das halbe Leben

Die Arbeitswelt hat sich verändert: Arbeiterinnen in einer Grossbäckerei vor 20 Jahren. RDB

Viel intensiver sei die Arbeit in den letzten zwanzig Jahren geworden und die Anerkennung dafür geringer. Dies zeigt eine grossangelegte Studie von rund 50 Soziologinnen und Soziologen aus dem deutschsprachigen Raum.

«Früher war es so, wir haben jede Ampulle einzeln am Licht kontrolliert. Jede Ampulle. Unten im Keller sassen wir, 25 Jahre. Ohne Fenster, ohne nichts, und haben jede Ampulle einzeln kontrolliert. Heute haben wir eine vollelektronische Maschine, die kontrolliert in der Minute 400. Der Zahn der Zeit, nicht wahr?», erzählt Frau Kleiner, die seit 30 Jahren als Grenzgängerin in einer Schweizer Pharmafirma arbeitet. 400 in der Minute sei eine Leistung, die sie von Hand nie hätten erbringen können.

Frau Kleiners Arbeitsleben ist eines von 50 Beispielen, die in «Ein halbes Leben, Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch» erfasst werden.

Es ist ein Werk von 50 Sozialwissenschafterinnen und Sozialwissenschaftern aus dem deutschsprachigen Ländern, die sich zum Ziel gesetzt haben, den «Wandel» in der Arbeitswelt in den letzten 20 Jahren nicht nur zu beschreiben, sondern ihn auch soziologisch auszuwerten.

«Indem wir Beschäftige befragt haben, die vor rund 20 Jahren ihre erste Arbeitssozialisation erlebt und sich ihre grundsätzlichen beruflichen Vorstellungen angeeignet haben, konnten wir etwas über die Veränderungen erfahren, die sich in der Zwischenzeit vollzogen haben», sagt Michael Gemperle, Soziologe und Forschungsassistent am Soziologischen Seminar der Universität St. Gallen.

Veränderung der Regeln

«Es sind vor allem die Veränderungen der Anforderungen und der Massstäbe über die Zeit, die in diesen Zeugnissen zum Ausdruck kommen», hält Gemperle fest. Die Erwartungen an Beschäftigte hätten sich in diesem Zeitraum stark verändert.

«Wir geben keine Globaldiagnose zur Veränderung der Gesellschaft ab», betont er. Schlagwörter wie Informationsgesellschaft oder Wissensgesellschaft würden der Wirklichkeit nicht gerecht.

Es gehe darum, die Arbeitenden selbst zu Wort kommen zu lassen. Die Beispiele seien nicht repräsentativ, aber exemplarisch. «Wir wollten durch einzelne Portraits ein möglichst breites Spektrum von Problematiken sichtbar machen.»

Es gehe darum, einen Einblick zu geben in verschiedene Arbeitswelten, der es erlaubt, die dort Beschäftigten in ihren Sorgen, Frustrationen und Nöten, aber auch ihren Ambitionen und Freuden zu verstehen.

Intensivierung und weniger Anerkennung

Frau Kleiner: «Ganz klar, erst recht. Immer schneller, immer schneller, jetzt mit dem L. Projekt ja auch. Vom Ansatz bis zum Verkauf waren es bisher 42 Tage. Und jetzt wollen sie auf 6 Tage runter. Den Rest können Sie sich ja denken, nicht wahr.»

«Was diese Zeugnisse zeigen, ist, dass sich die Arbeit vielerorts erheblich intensiviert hat», sagt Gemperle dazu. Mehr Stress, weniger Pausen, mehr Überzeit, aber auch weniger Eigengestaltung der Arbeit. «Nicht unmittelbar produktive Phasen während der Arbeit scheinen früher selbstverständlicher gewesen zu sein.»

Zudem dokumentieren die Porträts, dass es in vielen Arbeitsbereichen zu einer Abnahme der materiellen und symbolischen Gratifikationen für die Arbeit gekommen ist.

Bei den Löhnen sei bekannt, dass sie seit Jahrzehnten nicht mit der Produktivitätssteigerung Schritt halten. Auf Ebene der Anerkennung scheint es auch zu einer Abnahme gekommen zu sein. Das betreffe die gesellschaftliche Wertschätzung insgesamt, würde sich aber auch in Mikroformen der Anerkennung niederschlagen, «zum Beispiel dem Lob von Vorgesetzten».

Frau Kleiner: «Nichts ist recht. Ich kenne eine Menge Arbeitskolleginnen, und das gehört nicht hierher (flüstert), die aus diesem Grund Psychopharmaka nehmen mussten. Und immer bei den gleichen Führungspersonen. (…) die Leute haben zum Beispiel, die es sich leisten konnten, gekündigt, weil sie es nicht mehr aushielten.»

«Diese Abwertungstendenz geht natürlich einher mit einer Aufwertung anderer Arbeits- und Lebensbereiche: Tätigkeiten in den Bereichen Finanzen, Handel und Verkauf, aber auch dem Konsum», bemerkt Soziologe Gemperle.

Mit dem Sinken der gesellschaftlichen Wertschätzung nehme auch die Identifikation mit der Arbeit ab, sagt Gemperle.

Berufe im öffentlichen Sektor

«Was wir in dieser Form nicht erwartet haben, ist, dass die Umstrukturierungen im öffentlichen Dienst zu einem Ausbau der Bürokratie geführt zu haben scheinen.» Die Einführung des so genannten New Public Managements sei zwar genau damit begründet worden, die Bürokratie abbauen zu wollen.

Die Bürokratisierung habe jedoch derart stark zugenommen, «dass Beschäftigte dort meinen, deswegen ihren öffentlichen Auftrag nicht mehr erfüllen zu können», sagt Michael Gemperle.

Bei einer Krankenschwester, die seit Jahrzehnten in der Pflege arbeitete, ist das gar so weit gegangen, dass sie den Eindruck hatte, sie könne ihren Pflegeauftrag unter den neuen kosteneinsparungsbedingten Arbeitsvorschriften nicht mehr erfüllen – und sich paradoxerweise auf einen Posten in der Verwaltung zurückzog.

Frau Freundlieb: «Die Leitungstätigkeit habe ich auf der letzten Station dann irgendwann auch meinem Vorgesetzten wieder zur Verfügung gestellt, weil das, was er von uns wollte, war für mich nicht mehr zu tragen. Er meinte, wir könnten da Praktikanten morgens alleine arbeiten lassen, (…). Das würde ich vielleicht schaffen, aber ich würde nachher auf dem Zahnfleisch kriechen und die Verantwortung dafür könnte ich nicht übernehmen.»

Im öffentlichen Sektor habe sich in zugespitzter Form gezeigt, welche Folgen es für die Beschäftigten hat, wenn ihre Arbeit zunehmend nur noch nach ihrer Rentabilität bewertet wird, fasst Gemperle zusammen.

Im Rückblick auf die Untersuchung halten die Autoren fest, dass sie beeindruckt waren von der Energie, mit der viele Beschäftigte trotz schwieriger Arbeitsbedingungen versuchen, ihren Ansprüchen an die eigene Arbeit gerecht zu werden.

Das Werk «Ein halbes Leben, Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch» wurde von Franz Schultheis, Berthold Vogel und Michael Gemperle herausgegeben.

Es ist in der UVK Verlagsgesellschaft erschienen.

Die Fondation Bourdieu, die die Arbeit am genannten Werk unterstützt, wurde 2005 gegründet.

Sie setzt sich für einen europäischen Raum der Sozialwissenschften ein.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu etablierte die «verstehende Forschung» in der Soziologie.

Er starb im Jahr 2002.

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