Trotz Kritik inhaftiert die Schweiz noch immer Kinder
Jedes Jahr werden rund 20 Kinder in Schweizer Gefängnissen eingesperrt. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt und die Behörden nehmen sie vor ihrer Abschiebung in Haft. Trotz heftiger Kritik weigert sich das Parlament, diese Praxis zu verbieten.
Die Schweiz ist eines von 196 Ländern, die das UNO-ÜbereinkommenExterner Link über die Rechte des Kindes ratifiziert haben. Dieses besagt, dass die Inhaftierung Minderjähriger nur als letztes Mittel und nur so kurz wie möglich eingesetzt werden sollte. Dennoch werden jedes Jahr rund 20 Kinder in verschiedenen Gefängnissen des Landes eingesperrt.
Zwischen 2017 und 2018 wurden in der Schweiz 37 Minderjährige für einen Zeitraum von 2 bis 120 Tagen inhaftiert, wie der jüngste BerichtExterner Link der Schweizer Kommission zur Verhütung von Folter zeigt. Diese Kinder waren Asylsuchende im Alter zwischen 15 und 18 Jahren. Nachdem ihr Asylgesuch abgelehnt worden war, wurden sie bis zu ihrer Ausweisung aus der Schweiz inhaftiert. Eine «Administrativhaft»Externer Link, die in der Schweiz bei erwachsenen, abgewiesenen Asylsuchenden vor deren Rückführung regelmässig angewendet wird.
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Die Schlussfolgerung der Kommission zur Verhütung von Folter ist klar und deutlich: «Im Kontext der Migration wird die Inhaftierung von begleiteten oder unbegleiteten Minderjährigen im Hinblick auf den Grundsatz des Kindeswohls, der Vorrang haben muss gegenüber dem Immigrationsstatus, als unzulässig eingestuft.» Die Kommission hielt auch fest, dass die Mehrheit dieser Minderjährigen in dazu ungeeigneten Strafanstalten oder Untersuchungsgefängnissen untergebracht wurden.
Noch schwerwiegender hielt die Kommission fest, dass drei Kantone Minderjährige unter 15 Jahren mit ihren Familien inhaftiert hatten, obwohl die Schweizer GesetzgebungExterner Link dies verbietet. Das Vorgehen war schon im vergangenen Jahr von der GeschäftsprüfungskommissionExterner Link des Parlaments scharf verurteilt worden, die festgestellt hatte, dass die Mehrheit der 200 KinderExterner Link, die zwischen 2011 und 2014 in Administrativhaft genommen wurden, unter 15 Jahre alt waren. Die RegierungExterner Link hatte darauf im November 2018 mit der Aufforderung an die Kantone reagiert, dieser Praxis definitiv ein Ende zu setzen.
Inhaftierung von Kindern scharf verurteilt
«Die Schweiz behandelt diese Kinder nicht wie Kinder, sondern in erster Linie wie Migranten», erklärt Tanya Norton, Assistentin des Programms «Kinder und Jugendliche in Migration» der Kinderhilfs-Organisation Terre des hommesExterner Link (Tdh).
«Die Inhaftierung von Kindern sollte ein letztes Mittel sein, aber wir stellen fest, dass sie eher als erstes Mittel genutzt wird. Dabei gibt es Alternativen, aber wir haben den Eindruck, dass es an politischem Willen mangelt», führte Tanya Norton aus.
Terre des hommes gehört zu den ersten Organisationen, welche die Inhaftierung von minderjährigen Migranten und Migrantinnen an den Pranger stellten, als sie 2016 einen BerichtExterner Link dazu veröffentlichte. Seither folgten mehrere Organisationen diesem Beispiel, und selbst der MenschenrechtskommissarExterner Link des Europarats empfahl der Schweiz 2017, Kinder unter 18 Jahren nicht mehr in Haft zu nehmen.
Terre des hommes weist auch auf das Fehlen verlässlicher Zahlen zur Inhaftierung von Migrantenkindern in der Schweiz hin. Die Daten, die wir aus verschiedenen Quellen (Staatssekretariat für MigrationExterner Link (SEM), Tdh, Nationale Kommission zur Verhütung von Folter und Nationaler Forschungsschwerpunkt Migration und MobilitätExterner Link) zusammengetragen haben, zeigen tatsächlich grosse Unterschiede.
Diese erklären sich durch die teilweise erheblichen Unterschiede zwischen den vom SEM gelieferten Zahlen und jenen, die direkt von den Kantonen übermittelt werden, die für die Rückführungen verantwortlich sind. Das SEM begründet diese UnterschiedeExterner Link durch Erfassungsfehler der Kantone, die nun korrigiert werden sollten. Die Schweiz war jedoch schon 2015 vom UNO-Ausschuss für die Rechte des KindesExterner Link wegen ihrer statistischen Mängel im Asylbereich ermahnt worden.
Keine Harmonisierung
«Unerträglich ist, dass es den Eindruck erweckt, diese Kinder seien nicht wichtig», sagt Tanya Norton. Vor allem, da sich die Art und Weise, wie sie behandelt werden, je nachdem welcher Kanton für ihre Rückführung verantwortlich ist, völlig verändern können.
In Genf und Neuenburg zum Beispiel ist die administrative Inhaftierung von Minderjährigen gesetzlich verboten. Die meisten Kantone haben in den vergangenen Jahren erklärt, darauf zu verzichtenExterner Link, minderjährige Migranten und Migrantinnen zu inhaftieren, aber zehn darunter hatten zwischen 2017 und 2018 dennoch auf diese Möglichkeit zurückgegriffen.
Auch in diesem Bereich gab es grosse Unterschiede: Die Kantone Basel-Stadt und Bern hatten je 11 abgewiesene Asylsuchende im Alter zwischen 15 und 18 Jahren inhaftiert, in Solothurn waren es zwei, in Glarus nur eine Person. «Wir möchten ein nationales Gesetz und eine Kontrolle auf eidgenössischer Ebene», erklärt Tanya Norton. «Für die Umsetzung internationaler Abkommen muss der Staat zuständig sein, er kann diese Verantwortung nicht auf die Kantone abwälzen.»
Der einzige Zweck der Administrativhaft ist die Sicherstellung der Ausschaffung einer Person ohne Aufenthaltsrecht in der Schweiz. Da es sich nicht um eine strafrechtliche Inhaftierung handelt, muss das Haftregime viel flexibler sein als in einer Strafanstalt. Viele Kantone haben in den letzten Jahren beschlossen, ihre Praktiken zu ändern und Alternativen zu finden, damit die Haft vor einer Ausschaffung auch für Erwachsene weniger traumatisch ist.
Neuer Ansatz bei Inhaftierung in Moutier
Im Juli 2018 hat der Kanton Bern sein gesamtes Strafvollzugssystem angepasst. Unter anderem wurde beschlossen, das Regionalgefängnis in Moutier im Berner Jura in eine Institution umzuwandeln, die in erster Linie für die Administrativhaft genutzt wird.
«Es war wirklich ein Paradigmenwechsel für die Mitarbeiter und die Institution», sagt Andreas Vetsch, Co-Direktor des Gefängnisses. «Denn die Personen, die hier sind, haben keine Delikte begangen, sie sind nur hier, damit ihre Ausschaffung vollzogen werden kann.»
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In einer auf Administrativhaft spezialisierten Institution ist es viel einfacher, die Regeln zu lockern, als wenn unterschiedliche Haftarten Seite an Seite existieren. In Moutier können sich alle Inhaftierten den ganzen Nachmittag lang frei zwischen den beiden Stockwerken des Gebäudes und auf dem Dach bewegen. Sie haben die Möglichkeit zu lesen, Sport zu treiben, zu arbeiten, etc.
«Wir wollen uns weniger auf die Sicherheit als vielmehr auf eine Form der Unterstützung konzentrieren», erklärt Andreas Vetsch. «Wir wollen den richtigen Weg zwischen der Einhaltung unserer Gesetze und dem Höchstmass an Menschenrechten für die Inhaftierten finden.» Im Jahr 2019 war nur ein Minderjähriger in Moutier eingesperrt.
Mentalitätswandel
Die Schweiz ist nicht das einzige Land, das erwachsene und minderjährige Asylsuchende inhaftiert. Eine letzten Juli veröffentlichte globale Untersuchung der UNOExterner Link zu dem Thema hält fest, dass jedes Jahr mindestens 330’000 Kinder in mindestens 77 Staaten in einem Migrationskontext eingesperrt werden. Die Praxis ist in der Europäischen Union weit verbreitet; die Daten sind aber wie in der Schweiz nur schwer zugänglich.
Mittlerweilen ist aber ein Mentalitätswandel in Gang gekommen. Im Dezember 2018 verabschiedeten 164 Länder einen Globalen MigrationspaktExterner Link, der unter anderem darauf abzielt, die Inhaftierung von Kindern zu bekämpfen. Die Schweiz war eine der treibenden Kräfte hinter dem Projekt, aber ihr Beitritt zu dem Pakt wurde aufgrund der Skepsis des Parlaments vorerst verschoben.
«Die Schweiz ist eines der Länder, das bei der Inhaftierung von Minderjährigen nach wie vor restriktiv ist, insbesondere was das Gesetz angeht», sagt Tanya Norton. «Das ist sehr überraschend, denn die Schweiz hatte Signale ausgesendet, die einem denken liessen, sie sei einen Schritt voraus, doch den Absichten folgten keine Taten.»
Das Parlament hat zudem dieses Jahr zwei VorstösseExterner Link deutlich abgelehnt, die ein Verbot der Administrativhaft für Minderjährige forderten. Die Mehrheit war der Ansicht, dass diese Möglichkeit nur als letztes Mittel genutzt werde, und unerlässlich sei für die Kantone, damit diese Ausschaffungen vollziehen könnten.
Die Inhaftierung eines Kindes, auch nur für kurze Zeit, hat jedoch ernsthafte Folgen, wie die globale Untersuchung der UNO aufzeigt: «Die administrative Inhaftierung schadet der körperlichen und geistigen Gesundheit von Kindern und setzt sie dem Risiko von Gewalt und sexueller Ausbeutung aus. Es hat sich gezeigt, dass Administrativhaft gesundheitliche Probleme verschlimmert oder nach sich ziehen kann, vor allem Angstzustände, Depressionen, Suizidgedanken und post-traumatische Störungen.»
Elodie Antony von der Schweizer Sektion des Internationalen SozialdienstesExterner Link (SSI Schweiz) in Genf begleitete einen jungen Mann, der in Administrativhaft genommen wurde. Sie hatten an einem Computer-Ausbildungsprojekt gearbeitet, um ihn auf seine Zukunft vorzubereiten, sei dies in der Schweiz oder in seinem Heimatland. Doch dann wurde dieser junge Mann, ein ehemaliger unbegleiteter Minderjähriger, plötzlich inhaftiert, was seinen Ausbildungsprozess unterbrach, obwohl der Dialog mit dem SSI aufrecht erhalten wurde.
Er sei völlig verwirrt gewesen, erinnert sich Elodie Antony. «Die Inhaftierung Minderjähriger, aber auch junger Erwachsener, trägt nicht zur Entwicklung ihrer Zukunftsperspektiven bei. Dies gilt umso mehr für junge Migranten, die sich in einer unstabilen Lage befinden», erklärt sie. «Die Inhaftierung kann den Integrationsprozess oder den Versuch einer Wiedereingliederung im Herkunftsland wirklich beeinträchtigen. Sie ist für keine dieser Optionen förderlich.»
Zahl der Verschwundenen steigt
Die Angst, in ein Gefängnis gesteckt zu werden, treibe viele Kinder dazu, unterzutauchen, warnt Terre des hommes. «Sie werden damit noch verletzlicher, und das Risiko steigt, dass sie in europäischen Netzwerken landen, wo sie sexuell oder zur Arbeit ausgebeutet werden», erklärt Tanya Norton.
Nach Ansicht des SEM liegt der Zweck der Administrativhaft gerade darin, das unkontrollierte Abreisen einer Person zu vermeiden. Das SEM präzisiert, für Minderjährige, die in der Schweiz einen Asylantrag eingereicht haben und somit registriert wurden, würden «besondere Schutzmassnahmen gelten, und im Fall eines Verschwindens können Nachforschungen eingeleitet werden. Diese Massnahmen fallen in die Zuständigkeit der Kantone».
Seit dem Inkrafttreten des neuen Asylverfahrens im März 2019 wird jeder Person unter 18 Jahren von Beginn des Verfahrens an ein Rechtsvertreter zugewiesen. «Dies bietet auch einen besseren Schutz für unbegleitete Minderjährige», erklärte das SEM.
Viele OrganisationenExterner Link sind jedoch alarmiert über die Zunahme der seit 2015 verschwundenen, unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden und beklagen den Mangel an verlässlichen Zahlen zu diesem Phänomen: Das SEM gibt die Anzahl der «unkontrollierten Abreisen» bekannt, ohne aber zu präzisieren, ob diese Personen verschwunden, aus dem Asylsystem ausgeschieden oder untergetaucht sind, oder ob sie das Territorium der Schweiz verlassen haben.
Nichtregierungs-Organisationen beklagen das Fehlen eines systematischen Mechanismus, um diese Verschwundenen zu melden, sowie die begrenzten Mittel, die eingesetzt würden, um diese jungen Menschen zu finden. «Jede minderjährige Person, die sich auf dem Territorium eines Staates befindet, liegt in der Verantwortung dieses Staates», ruft Elodie Anthony in Erinnerung.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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