Krise offenbart kulturelle Kluft zwischen den Sprachregionen
Die Reaktion der Schweiz auf die Coronavirus-Pandemie hat einen "Röstigraben" aufgerissen: Je nach Sprachregion fällt die Meinung zu den Beschlüssen des Bundes sehr unterschiedlich aus.
Ein Röstigraben sei aufgebrochen, schrieb die Westschweizer Zeitung Le Temps am 17. März. Auf der einen Seite die französischsprachigen Kantone und das Tessin, die entschlossen, seien «alles zu tun, um die Ausbreitung von Covid-19 zu verlangsamen» – auf der anderen die zögerlichen Deutschschweizer Kantone.
«Die Ausbreitung verläuft nicht überall gleich», erklärte Christian Vitta, der kämpferische Tessiner Regierungspräsident, am 24. März gegenüber dem Schweizer Radio und Fernsehen. Es gäbe Regionen, zum Beispiel das Tessin, die stärker betroffen seien als andere. Deshalb sei es schwierig, einen einheitlichen Lösungsansatz für die ganze Schweiz zu verfolgen. «Die Massnahmen müssen angepasst werden», forderte Vitta.
Die Schweiz ist von der Coronavirus-Pandemie stark betroffen: Inzwischen zählt die Alpennation rund 16’000 positive Tests und 370 Todesfälle. Besonders schlimm ist die Situation im Tessin und in den Westschweizer Kantonen Waadt und Genf.
Wie im Rest der Schweiz sind auch im Tessin die meisten Geschäfte zu. Am 22. März ging der an Italien grenzende Kanton sogar noch einen Schritt weiter und liess Industriebetriebe und Baustellen vorübergehend schliessen.
Der Bundesrat hatte keine leichte Aufgabe: Er musste einerseits landesweite Massnahmen ins Auge fassen und andererseits die Entwicklung in den Nachbarstaaten und deren Einfluss auf die verschiedenen Kantone verfolgen. Am 17. März beschloss er die «ausserordentlichen Lage». Für einige Bürger kam der Entschluss zu spät, für andere war er übertrieben. Die Meinungen zum Vorgehen des Bundes fallen je Sprachregion unterschiedlich aus.
Vertrauen und härtere Massnahmen
Eine in der vergangenen Woche durchgeführte Meinungsumfrage der Forschungsstelle Sotomo brachte die Differenzen ans Licht.
Die Umfrage ergab, dass fast die Hälfte (49 Prozent) aller Schweizer Bürgerinnen und Bürger der Meinung ist, dass der Bund zu langsam auf die Ausbreitung des Virus reagiert hat. Am heftigsten fällt die Kritik im Tessin (68 Prozent) und in der Westschweiz (64 Prozent) aus, verglichen mit den deutschsprachigen Regionen (42 Prozent).
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Weiter sind 59 Prozent der Westschweizer der Ansicht, dass die Massnahmen des Bundes nicht weit genug gehen, verglichen mit 38 Prozent in der Deutschschweiz und 30 Prozent der italienischsprachigen Bevölkerung. Rund 70 Prozent der Deutschweizer gaben an, Vertrauen in die Behörden zu haben, verglichen mit 45 Prozent in den italienisch- und französischsprachigen Regionen.
Der Politologe Michael Hermann von der Forschungsstelle Sotomo sagte, dass die unterschiedliche Dringlichkeit in jeder Region teilweise die unterschiedlichen Standpunkte der Befragten erkläre.
Aber er betonte auch die Bedeutung kultureller Unterschiede: «In der französischsprachigen Schweiz fordert eine Mehrheit nach dem Vorbild Frankreichs zusätzliche Einschränkungen im öffentlichen Leben.» Möglicherweise seien hierbei auch kulturelle Gründe massgebend, etwa die Rolle des Staates oder das Vertrauen in die Eigenverantwortung. «Gerade dieses Vertrauen macht sich in der deutschsprachigen Schweiz stärker bemerkbar als in der französischsprachigen», so Hermann.
Allgemein spielten bei der geografischen Ausbreitung des Virus auch kulturelle Faktoren eine Rolle, sagt Hermann. So seien etwa Menschen in den Mittelmeerländern weniger an soziale Distanz gewöhnt als die Bürger in deutschprachigen Staaten.
Mehr Eigenverantwortung
«Die Schweiz ist ein Schmelztiegel der Kulturen, hier treffen Menschen aus Nord- und Südeuropa aufeinander», sagt der Schweizer Historiker Olivier Meuwly. In der deutschen Kultur gelte, dass individuelle Verantwortung zu kollektiver Verantwortung führt, so der Historiker. In den südeuropäischen Regionen sei das anders, dort soll die «Ordnung von oben kommen», erklärte Meuwly kürzlich gegenüber Le Temps.
Auch Olivier Moeschler, Soziologe an der Universität Lausanne, ist von den Umfrageergebnissen wenig überrascht. Diese bestätigten frühere Beobachtungen zu kulturellen Unterschieden zwischen den Schweizer Sprachregionen.
Auch er betont, dass sich die Haltung gegenüber dem Staat je nach Sprachregion deutlich unterscheide: «Die französischsprachige Schweiz bezieht sich eher auf Frankreich und sein zentralistisches Staatsmodell, während sich die Deutschweizer Regionen an Deutschland orientieren», sagt Moeschler. Frankreich sei grösstenteils nach dem Top-Down-Modell aufgebaut. «Der Staat hat eine grosse Autorität, welche von den Bürgern als notwendige, strukturierende Kraft angesehen wird. Das führt aber auch zu hohen Erwartungen gegenüber der Regierung. Im deutschsprachigen Raum ist das eher umgekehrt.»
Der Begriff der individuellen Verantwortung scheint regional unterschiedlich interpretiert zu werden. In der französisch- und italienischsprachigen Schweiz forderten etwa Wissenschaftler mit einer Petition Externer Linkdie Behörden dazu auf, den Lockdown zu verstärken. In der Deutschschweiz ist der Prozess ein anderer: Dort haben die Behörden von der Bevölkerung eine striktere Einhaltung der Regeln und mehr Eigenverantwortung gefordert.
Sind Deutschschweizer im Vergleich zu französisch- und italienischsprachigen Schweizern selbstdisziplinierter? Eine einfache Antwort darauf gibt es offenbar nicht. Klar ist nur, dass die Weisungen des Bundes im ganzen Land inzwischen gut befolgt werden. So ergab eine Umfrage des «BlickExterner Link» vor wenigen Tagen, dass die meisten kantonalen Polizeikräfte ihre Patrouillen zwar verstärkten, aber nur wenige Bussen verteilen mussten. Die meisten Schweizer bleiben also zuhause. Verlassene Strassen sind vielerorts zur Norm geworden.
Die Medien als Spiegel der Gesellschaft
In der Schweizer Presselandschaft spiegeln sich die Gegensätze in den Einstellungen der Sprachregionen zu den Corona-Massnahmen des Bundes wider. Während die französischsprachigen Medien die Strategie des Bundesrates inzwischen weitgehend unterstützen, war davor Kritik an der «Kakophonie» zwischen Bern und den Kantonen sowie an der Langsamkeit und den Grenzen des Föderalismus geäussert worden.
Die Forderungen aus der Westschweiz nach mehr Härte hatte wiederum bei Deutschschweizer Medien spöttische Kommentare zur Folge. «Die Machtfülle des französischen Präsidenten fasziniert jeden Westschweizer Politiker», erklärte der Tages-Anzeiger. Und die Zeitung Neue-Zürcher Zeitung bezeichnete die Forderungen aus den französischsprachigen Regionen als unverhältnismässig und schädlich.
In einem Leitartikel des Tages-Anzeiger vom 26. März wird erklärt, dass die Menschen in der Westschweiz die «ignoranten Deutschschweizer,… jene Unterdrücker der sprachlichen Minderheiten» für ihre Lage verantwortlich machten.
In der Zeitung heisst es, die Stimmung sei gekippt, nachdem die Westschweizer über die Einschätzung eines führenden Arztes gelacht hatten, wonach die Deutschschweizer aufgrund der vielen Kehllaute, welche der Dialekt mit sich bringt, ein höheres Ansteckungsrisiko hätten. Der Leitartikel schloss aber mit versöhnlichen Worten: Das Land müsse nun als Ganzes Solidarität zeigen – es gebe keinen Raum für Ressentiments.
(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)
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