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«Wir alle sind Waisen von Erhard Loretan»

Die Erhard Loretans von morgen nehmen den Boulder-Block im neuen Park zur Erinnerung an den grossen Bergsteiger aus dem Greyerzerland in Beschlag. Keystone

Er war der dritte Bergsteiger der Welt, der alle 14 Achttausender bezwang: Der Schweizer Erhard Loretan. Er tat dies ohne zusätzlichen Sauerstoff und die Hilfe von Sherpas, dafür über schwierigste Routen. Er war Extrembergsteiger von extremer physischer und mentaler Stärke. 2011 ist er an einem relativ einfachen Gipfel in den Schweizer Alpen tödlich verunglückt. Seine Heimatstadt Bulle ehrt Loretan nun mit einem jüngst eröffneten Erinnerungspark.

13 Apfelbäume in einer Reihe, ein 14. gegen die Mitte des Rasens gerückt: Sie symbolisieren die 14 Achttausender, die Erhard Loretan zwischen 1982 und 1995 bezwungen hatte; ein Kletterfelsen aus Kunststoff für die künftigen Erhard Loretans, umgeben von einem weichen Bett aus Kieselsteinen, falls ein Nachwuchskletterer den Halt verlieren sollte; eine Sitzbank aus marmorähnlichem Beton, die sich fast durch das ganze Parkgelände zieht. Dazu ein grosses Multimedia-Archiv, das sich via App erschliessen lässt: Das ist der Erinnerungspark Erhard Loretan, den rund 300 Freunde, Bekannte und Vertreter der Stadtbehörden von Bulle Anfang Oktober zum Andenken an den vor viereinhalb Jahren Verunglückten eröffneten.

38 Gipfel, davon 30 über 4000m, in 19 Tagen: Erhard Loretan absolvierte 1986 (mit André Georges) einen veritablen transalpinen Gipfelmarathon. Keystone

«Er hat eine ganze Generation von Alpinisten geprägt. Mit seinen Exploits, aber auch seinem Respekt und seiner Bescheidenheit den Bergen gegenüber», sagte Françoise Jacquet, Präsidentin des Schweizer Alpenclubs (SAC), in ihrer Rede. Auch diese letzteren Merkmale seiner Persönlichkeit hätten eine Rolle gespielt, dass der SAC Loretan 1996 zum Ehrenmitglied ernannt habe. «Er hätte gerne seine Vision der Berge und des Bergsteigens geteilt und weitergegeben. Aber ich weiss nicht, ob er den Parc Loretan gemocht hätte», sagte Jacquet.

«Der Park umfasst keine grossen Stelen, sondern nur wenige Dinge. Seine Bescheidenheit und seine Grosszügigkeit mussten dem Charakter Erhard Loretans entsprechen», sagte Pascal Amphoux. Der Architekt und Stadtplaner realisierte das Projekt zusammen mit Landschaftsarchitektin Agathe Caviale und Ulrich Fischer, einem Spezialisten für digitale Architektur.

Pierre Morand war seit den Anfängen Kletter- und Seilgefährte Erhard Loretans. Sie bildeten den Kern einer Gruppe «junger Wilder», die ihre bergsteigerischen Sporen in den nahen Gastlosen abverdienten, einer Bergkette mit kurzen, aber teils sehr schwierigen Wänden. Sie hätten schon früh einige Kollegen in den Bergen verloren, und sie hätten damals auch darüber gesprochen, eher Scherzes halber, was sein werde, sollten sie selbst einmal nicht mehr da sein. «Aber ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages einen Parc Erhard Loretan eröffnen werde», sagte Pierre Morand in seiner kleinen Ansprache.

Erhard Loretan (1959-2011)

Der Schweizer zählt zu den grössten Alpinisten des 20. Jahrhunderts.

Er war der dritte Bergsteiger, der alle 14 Achttausender bezwingen konnte.

2001 war Loretan mit einem schweren Schicksalsschlag konfrontiert: Er fügte seinem schreienden, sieben Monate alten Sohn ein tödliches Schütteltrauma zu.

2003 wurde er zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.

Loretan stand in den Medien mit seinem Namen hin, um eine breitere Öffentlichkeit vor den Gefahren des «Babyschüttelns» zu warnen.

2011 verunglückte er an seinem 52. Geburtstag bei einer Tour mit seiner Lebenspartnerin in den Walliser Alpen. Diese stürzte kurz unterhalb des Gipfels des Grünhorns (4043m) ab und riss Loretan am Seil 200 Meter mit in die Tiefe. Anders als er hat sie überlebt.

Er denke an diesem Tag aber nicht nur an den Seil- und Berggefährten, sondern vor allem an einen Menschen, mit dem ihn eine 40-jährige tiefe Freundschaft verbunden habe, betont er anschliessend gegenüber swissinfo.ch. «Er hatte ein grosses Herz. Einmal, es war an einem 8. Juli, nach einer bitterkalten Biwak-Nacht in einer kniffligen Wand in den Alpen, reichte mir Erhard am Morgen einen Becher mit warmem Orangesaft mit den Worten ‹herzliche Gratulation zu deinem Geburtstag!'»

Daheim in den grossen Höhen

Morand beschloss nach den ersten gemeinsam bezwungenen Achttausendern, den Risiken des Himalayas den Rücken zu kehren. In den nächsten zehn Jahren war es der Walliser Jean Troillet, mit dem Loretan historische Leistungen vollbrachte, um die Reihe der 14 Achttausender zu komplettieren.

Auch Troillet weilte unter den Menschen, die Loretan an diesem Tag in Bulle zusammengeführt hatte. «Sein Glück lag in den Bergen. Er hatte riesiges Talent. Seine grössten Stärken zeigten sich aber vor allem in grossen Höhen», sagte Troillet dem Journalisten. «Wir hatten dieselbe Wellenlänge. Wenn uns im Basislager schlechtes Wetter blockierte, haben wir während Tagen kaum ein Wort miteinander gesprochen. Blicke genügten, um uns zu verständigen.»

«Ja, Loretan wird bald hier sein…»

Loretan sei eine aussergewöhnliche Person gewesen, der nun viele junge Bergsteiger folgten. «Il ne trichait pas avec les montagnes», Loretan habe am Berg nicht betrogen, sagte Troillet und spielt auf den «puristischen» Alpinstil an, also die Besteigung der höchsten Berge der Welt ohne zusätzlichen Sauerstoff aus Flaschen und ohne die Hilfe von Sherpas.

Historisch war unter anderem die Direttissima am Everest 1996 durch die Nordwand: In 40 Stunden schafften es Loretan/Troillet vom Basislager auf das Dach der Welt auf 8848m über Meer und heil wieder zurück. Reinhold Messner sprach danach von einer der grössten Leistungen des Himalaya-Bergsteigens aller Zeiten.

Externer Inhalt

Abseits der Berge konnte Loretan sein Ehrlichkeits-Credo aber schon mal über Bord werfen. Dies zeigt folgende Anekdote, die Troillet dem Journalisten erzählt: «Als wir 1995 nach der Besteigung des Kangchendzönga, mit dem Erhard die 14 Achttausender komplettierte, die Nähe des Basislagers erreichten, kam uns eine Gruppe Touristen entgegen. Sie fragten uns, ob wir Erhard Loretan gesehen hätten, er müsse demnächst zurück vom Gipfel sein. ‹Ja, sie kommen da hinten und werden bald hier sein›, antwortete er ihnen, und wir machten uns aus dem Staub. Das war Erhard Loretan.»

Digitaler Erinnerungs-Parcours

Der Parc Erhard Loretan bietet Besuchern auch einen virtuellen Rundgang.

Via eine App können diese je nach Standort aus verschiedenen Multimedia-Inhalten auswählen.

Darunter sind Videos und TV-Dokumentationen über die Besteigung Loretans der 14 Achttausender sowie die Bezwingung weiterer Gipfel.

Ausserhalb des Parks können Interessierte Erhard Loretan auf einer Strecke von 8000 Metern begleiten: Auf 4000m Aufstieg und 4000m Abstieg erzählt Loretan in seiner authentischen Sprache von den grossen Mühen, aber auch von den Freuden und vom Glück einer Expedition auf die höchsten Gipfel.

Verantwortlich für die App zeichnen Fabrice Truillot de Chambrier, Antoine Jaquenoud und Jérôme Marchanoff. 

Der Apfelbaum, mit dem alles begann

Carlo Gattoni war ein Freund Loretans seit Kindheitstagen gewesen. «Hier im Park haben wir Fussball gespielt. Hier in einem Apfelbaum hatte er auch seine ersten Kletterversuche gemacht. Dieser stand an genau der Stelle, wo wir nun den 14. Apfelbaum gepflanzt haben. Alles ist symbolisch hier.»

Er sei nach dem Tod Loretans völlig zerstört gewesen, erzählte Gattoni. «Da habe ich gespürt, dass ich etwas machen musste.» Er sei dann auf die Idee eines Erinnerungs-Parks gekommen. Dieser sei zu seinem letzten Projekt als Leiter des Sportamtes der Stadt Bulle vor der Pensionierung geworden. «Erhard Loretan war eine aussergewöhnliche Persönlichkeit», sagt Gattoni leiser werdend. Dann blickt er lange über die Köpfe der versammelten Menschen hinweg in die Ferne. «Wir alle sind Waisen. Waisen Erhard Loretans.»

Stimmen von Besuchern der Eröffnung geben einen Eindruck, wie eng die Verbindungen zwischen dem Bergsteiger Loretan und den Menschen des Greyerzerlandes waren. «Ich kannte Erhard seit seiner Kindheit, denn wir sind im selben Quartier aufgewachsen. Ich war ein Fan der ersten Stunde und ging an jeden seiner Dia-Vorträge über seine Unternehmungen», sagte die 81-Jährige Marie-Antoinette Pugin. Er sei stets sehr bescheiden und sehr nahbar geblieben. «Was mir besonders imponierte, war die Reinheit seines Stils, ‹la Pureté.'»

Aber auch die Jugend bewundert Loretan. Etwa Manon Repond (18), Pauline Scherly (17) und Bastien Genilloud (21), allesamt Kletterbegeisterte aus der Region. «Ich hatte ihn öfters getroffen, als ich klein war, denn er war ein Freund meiner Familie», sagt Manon Repond. «Ich hatte ihn schon damals bewundert, denn ich wusste, dass er ein berühmter Bergsteiger war.»

Bei Pauline Scherly waren es nicht nur die Gipfelerfolge, die sie tief beeindruckten, als sie das Buch «Erhard Loretan. Den Bergen verfallen» verschlang. Mindestens ebenso stark imponiert hätten ihr «sein bescheidener und freundlicher Charakter» .

Auch Bastien Genilloud kennt alle Besteigungen Loretans. Dieser hat im Nachwuchs-Bergsteiger den Traum geweckt, selbst einmal im Himalaya zu klettern.

Der Parc Erhard Loretan

Vater des Erinnerungsparks ist Carlo Gattoni, ein Jugendfreund Loretans.

Der Park gehört zur katholischen Pfarrei Bulle-La Tour.

Die Kosten von 280’000 Franken steuerten je zur Hälfte die Stadt Bulle und private Sponsoren bei.

Gattoni verbindet den Park mit fünf Zielsetzungen: Pädagogik (spielerisches Klettern für Schulklassen), Kultur (Erinnerung an Erhard Loretan, sozialer Treffpunkt (für alle Generationen), Ökologie (die 14 gepflanzten Apfelbäume tragen alte und seltene Sorten) sowie Tourismus (Faktor für Standortmarketing).

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