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Chines:innen in der Schweiz gehen erstmals auf die Strasse

Protesters in China holding up blank sheets of paper
Demonstrierende in chinesischen Städten, hier in Peking am 27. November, halten leere Blätter hoch, um gegen die Zensur zu protestieren. Die symbolische Geste wurde an Kundgebungen auf der ganzen Welt nachgeahmt – auch in der Schweiz. Keystone / Mark R. Cristino

Die Proteste gegen Chinas Null-Covid-Politik haben sich auf die chinesische Diaspora im Ausland ausgeweitet. Demonstrierende in der Schweiz haben zum ersten Mal den Mut gefunden, sich zu exponieren.

Wie viele Auslandchines:innen verfolgte Yiyan* in den letzten Novembertagen gespannt die Nachrichten über die Proteste, die in Städten und auf Universitätscampus in ganz China ausgebrochen waren.

Als bekannt wurde, dass die Polizei in Shanghai mehrere Demonstrierende festgenommen hatte und stichprobenartig die Mobiltelefone von Pendler:innen auf ausländische Apps überprüfte, konnte die in der Schweiz lebende Frau nicht länger stillsitzen.

«Ich bekam richtig Angst», sagt die gebürtige Chinesin. «Ich bin in den Zug gestiegen und habe mir die ganze Fahrt bis Zürich die Augen aus dem Kopf geweint.»

Über einen verschlüsselten Online-Chat erfuhr Yiyan, dass sich Menschen auf der Rathausbrücke in Zürich versammeln wollten, um Solidarität mit den Demonstrierenden in China zu zeigen und einen politischen Wandel zu fordern. Angetrieben von der Angst um ihre Freund:innen in Schanghai wollte sie etwas tun, was sie zuvor noch nie getan hatte: Stellung beziehen zu den Ereignissen in ihrem Heimatland. 

Solche Kundgebungen von Auslandchines:innen wie jene in Zürich fanden in Städten um den ganzen Globus statt, von Genf bis Melbourne. In China selbst fanden die grössten Demonstrationen seit den pro-demokratischen Protesten von 1989 statt.

Auslöser der Unruhen war der Tod von zehn Menschen bei einem Brand in einem Wohnhaus in Urumqi, der Hauptstadt von Xinjiang. Laut den Demonstrierenden starben diese Personen, weil sie wegen der strengen Corona-Massnahmen das Haus nicht verlassen konnten. Manche Demonstrierende forderten auch politische Freiheiten oder sogar den Rücktritt von Präsident Xi Jinping. Für sie ist die Null-Covid-Politik des Landes ein Sinnbild für die staatliche Kontrolle über die Bevölkerung. 

Auf der Rathausbrücke zündeten die Versammelten Kerzen für die Brandopfer an und hielten – wie die Demonstrierenden in China – weisse Blätter in die Höhe, um gegen die Zensur zu protestieren. 

Candles and posters on the ground at vigil in Zurich
Kundgebung am 29. November auf der Rathausbrücke in Zürich. Mit den Kerzen gedenken die Demonstrierenden den Brandopfern von Urumqi, die sich mutmasslich wegen der strengen Corona-Massnahmen nicht retten konnten. Courtesy of Yiyan

Lin*, ein chinesischer Student in der Schweiz, ist mit einer Mischung aus Angst und Wut an die Kundgebung gekommen. «Die chinesische Polizei griff unbewaffnete Demonstrierende an und verhaftete sie, weil sie Forderungen skandierten oder Blumen auf die Strasse legten», sagt er. «Das ist inakzeptabel. Ich denke, es ist meine Pflicht, mich für sie, für uns und für die Zukunft Chinas einzusetzen.»

Die Zentralregierung machte «Infiltration und Sabotageaktivitäten feindlicher Kräfte» für die Proteste in Schanghai, Peking, Guangzhou und anderen Städten verantwortlich und versprach, «entschlossen dagegen vorzugehen». Die Zahl der Festnahmen ist nicht bekannt.

Ein Doppelleben führen

Auch die Teilnehmenden der Kundgebung auf der Rathausbrücke mussten sich gut überlegen, ob und wie sie Stellung gegen China beziehen wollen. Bei der Planung kam es online zu Diskussionen darüber, wofür genau sie demonstrieren wollen und was sie vom chinesischen Staat fordern. So war etwa umstritten, ob die Situation der uigurischen Minderheit, der Tibeter:innen und der Demokratie-Aktivist:innen in Hongkong dazugehören sollten. Letztendlich verlief die Kundgebung reibungslos, sagt Yiyan. Gemäss ihren Schätzungen nahmen etwa 60 Personen teil.

Gross bleibt hingegen die Angst vor Repressionen der chinesischen Behörden. Solche Versammlungen von Auslandchines:innen wie jene in Zürich sind in der Schweiz eine Seltenheit, auch wenn es hie und da zu Protesten gegen die Zustände in Tibet und Xinjiang kommt. Praktisch alle Anwesenden trugen eine Gesichtsmaske, um nicht erkannt zu werden. 

«Das grösste Risiko besteht darin, dass die Botschaft mich identifizieren kann und die ’nationale Sicherheitspolizei› meine Familie in China bedroht», sagt Lin. Einige Auslandchines:innen vermuten, dass ihre Profile in den sozialen Medien von den chinesischen Sicherheitsdiensten überwacht werden.

Angehörige, die noch in China leben, sind die Achillesferse vieler Auslandchines:innen, wie folgendes Beispiel zeigt: Ein Twitter-User aus Italien postete live Bilder und Nachrichten, die ihm von Demonstrierenden aus China geschickt wurden. Die Polizei besuchte zweimal seine Eltern in China, die ihn daraufhin anflehten, seine Aktivitäten einzustellen. 

«Ich bin für die Demokratie in China», sagt Yiyan. «Aber im wirklichen Leben gebe ich vor, unpolitisch zu sein – es ist ein Doppelleben.» Wenn sie mit Verwandten in ihrer Heimat spricht, ist sie vorsichtig, wenn es darum geht, politische Themen anzusprechen: «Wir sprechen nicht über die Proteste, weil alles überwacht wird.»

Die Schweizer Regierung ist sich bewusst, dass chinesische Akteure sich für die Diaspora-Gemeinschaft interessieren. Der Bundesrat erklärte dem Parlament im Jahr 2020, dass die Spionage durch China eine «relativ bedeutende Bedrohung für die Schweiz» darstelle. Die chinesische Botschaft in Bern leugnet die Überwachung. Doch bei Pro-Tibet-Kundgebungen machen regelmässig Unbekannte Fotoaufnahmen der Teilnehmenden, wie die Tamedia-ZeitungenExterner Link berichten.

Die Menschenrechtsgruppe Safeguard Defenders hat kürzlich Beweise für geheime chinesische «Polizeistationen» in 53 Ländern gefunden. Dort sollen Dissident:innen eingeschüchtert und zu einer Rückkehr nach China bewegt werden. Peking bestreitet die Vorwürfe: Es handle sich um Orte, wo Auslandchines:innen diplomatische Dienste angeboten würden.

In Sicherheit protestieren

Obwohl Safeguard Defenders keine solchen Polizeistationen in der Schweiz ausfindig machen konnte, bedeutet dies laut Kampagnendirektorin Laura Harth nicht, dass die chinesischen Behörden keine Einwohner:innen der Schweiz ins Visier genommen haben. Seit 2014 führt China eine Anti-Korruptions-Kampagne mit dem Namen Fuchsjagd durch, die nach Ansicht von Kritiker:innen auch als Vorwand dient, um im Ausland lebende chinesische Dissident:innen ins Visier zu nehmen. Bis heute wurden im Rahmen der Kampagne mehr als 11’000 Personen aus 120 Ländern nach China «zurückgeschickt». 

«Das bedeutet, dass praktisch jedes Land der Welt Ziel dieser Operationen ist», sagt Harth, «was es sehr unwahrscheinlich macht, dass die Schweiz davon verschont geblieben wäre – insbesondere in Anbetracht des Abkommens mit dem chinesischen Ministerium für öffentliche Sicherheit.»

Sie meint ein Migrationsabkommen, das China 2015 mit dem Schweizer Staatssekretariat für Migration (SEM) geschlossen hat und das 2020 für Aufsehen sorgte, als Schweizer Medien erstmals breit darüber berichteten.

Der befristete Migrationsvertrag erlaubte es Beamt:innen des chinesischen Ministeriums für öffentliche Sicherheit, ohne offiziellen Status in die Schweiz zu reisen und die Identität von mutmasslich chinesischen Staatsangehörigen zu ermitteln, die sich illegal in der Schweiz aufhielten.

«Dieser Migrationsdeal schuf ein Gefühl der Angst», sagt Yiyan. «Und nichts funktioniert besser als Angst.»

Sie vermutet, dass einige Auslandchines:innen, die jegliche Opposition gegen das Regime ablehnen, Online-Chats infiltrieren. Laut Yiyan versuchten sie, Streit zu schüren, um Spaltungen und Konflikte zu erzeugen und dann nach Informationen zu fischen.

Auch Lin hat mögliche Anzeichen von Überwachung in Online-Chatgruppen festgestellt. 

«Eine Person – ich bin mir nicht sicher, ob sie vom chinesischen Staat angeheuert wurde oder einfach nur prokommunistisch ist – hat so getan, als ob sie meiner Meinung wäre, um an Infos zu kommen», sagt er. 

Yiyan möchte ihre Stimme erheben können, ohne Vergeltungsmassnahmen gegen sie oder ihr nahestehende Personen befürchten zu müssen. Sie hofft, dass die Schweizer Regierung es Dissident:innen nicht noch schwieriger und gefährlicher macht, ihre Meinung zu äussern. Etwa mit weiteren solchen Abkommen mit China.

Das Abkommen von 2015 lief Ende 2020 aus. «Es gibt derzeit keine Diskussionen über eine Erneuerung des Abkommens oder die Unterzeichnung eines ähnlichen Abkommens», sagt SEM-Sprecher Samuel Wyss gegenüber swissinfo.ch. 

«Ich bin nicht die einzige»

In China ist die Kommunistische Partei von ihrer Null-Covid-Politik abgekommen und hat kurzerhand Lockdowns, Reisebeschränkungen und obligatorische Tests aufgehoben.

Sowohl Lin als auch Yiyan sind der Meinung, dass dieser unerwartete Kurswechsel lediglich dazu diente, jene Demonstrierenden zu besänftigen, die eine Abschaffung der strengen Covid-Vorschriften forderten. Lin ist skeptisch, dass diejenigen, die den Rücktritt von Xi gefordert haben, in nächster Zeit politische Reformen erleben werden. 

«Ich glaube, dass es noch ein langer Weg ist, bis tatsächliche Veränderungen eintreten», sagt er. Für einige Auslandchines:innen hat der vielleicht wichtigste Wandel jedoch bereits stattgefunden.

«Ausserhalb Chinas schliessen sich junge politische Dissident:innen zusammen, was noch nie der Fall war», sagt Lin. «Zumindest ist die Flamme von 1989 noch nicht erloschen.»

Yiyan hat beobachtet, wie unter den Teilnehmenden der Kundgebung in Zürich Freundschaften geschlossen wurden.

«Die Online-Zensur hat dazu geführt, dass viele gedacht haben, sie seien allein», sagt Yiyan. «Viele Leute haben sich zum ersten Mal einem Offline-Protest angeschlossen – da merkt man: Ich bin nicht die Einzige.»

*Auf Wunsch wurden Pseudonyme verwendet, um die Identität der Personen zu schützen, die mit SWI swissinfo.ch gesprochen haben. 

Editiert von Virginie Mangin, adaptiert aus dem Englischen von Sibilla Bondolfi.

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