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«Die allermeisten Grosseltern haben sich bisher an die Empfehlungen gehalten «

Ein Mann
François Höpflinger (*1948) ist emeritierter Professor für Soziologie und hat sich unter anderem auf Generationenbeziehungen und Generationenverhältnisse spezialisiert. 2016 erschien seine Publikation "Grosselternschaft im Wandel – neue Beziehungsmuster in der modernen Gesellschaft". © Keystone / Gaetan Bally

Wegen der Corona-Krise sollen Grosseltern ihre Enkel nicht hüten. Laut dem Soziologen François Höpflinger sind Kontaktverbote kurzfristig auszuhalten, stossen aber längerfristig auf Widerstand, vor allem bei gesunden und aktiven Grosseltern.

swissinfo.ch: Würden Sie uns zustimmen, dass Grosseltern in den letzten Jahren wichtiger geworden sind?

François Höpflinger: Grosseltern waren auch früher wichtig. Historische Analysen belegen, dass die Säuglings- und Kindersterblichkeit in ländlichen Familien mit engagierten Grossmüttern geringer war als dort, wo keine Grosseltern vorhanden waren. Neu ist eher, dass die Bedeutung der unbezahlten Kinderbetreuung durch Grosseltern – etwa auch während Schulferien – vermehrt thematisiert und anerkannt wird. Der jährliche Wert unbezahlter Kinderbetreuung durch Grosseltern wird in der Schweiz auf gut 8 Milliarden Franken geschätzt.

swissinfo.ch: Ist das ein typisch schweizerisches Phänomen oder lässt sich Ähnliches auch in anderen westlichen Ländern beobachten?

F.H.: In allen europäischen Ländern haben sich die Kontakte zwischen Grosseltern und Enkelkinder eher verstärkt und die Rolle der Grosseltern wird gesamteuropäisch stärker gewichtet. Je nach Land unterschiedlich ist die Bedeutung der Grosseltern für die Kinderbetreuung und auch die finanzielle Unterstützung junger Enkel durch Grosseltern. Speziell für die Schweiz sind zwei Sachverhalte: Erstens leben deutlich weniger Grosseltern im gleichen Haushalt mit ihren Enkelkindern als etwa in Süd- und Osteuropa. Zweitens haben in der Schweiz – wegen starker Zuwanderung – viele Kinder Grosseltern, die im Ausland leben. Was Kinderbetreuung durch Grosseltern betrifft, liegt die Schweiz in der Mitte: Etwas weniger als in Südeuropa und leicht mehr als in Nordeuropa.

swissinfo.ch: Was sind Ihrer Meinung nach mögliche Gründe für den zunehmenden Stellenwert der Grosseltern?

F.H.: Für die Aufwertung der Grosselternschaft gibt es zwei Hauptgründe: Erstens hat die wirtschaftliche Unsicherheit der letzten Jahrzehnte – Finanzkrise, rascher gesellschaftlicher Wandel und neu Corona-Krise – die Bedeutung verwandtschaftlich-familialer Solidarität und Unterstützung wieder hervorgehoben. Dies war namentlich in Ländern mit hoher Jugendarbeitslosigkeit sichtbar, wo teilweise nur die Renten der Grosseltern die Existenz junger Enkel garantierte. Auch in der Schweiz geniesst die Familie – und darunter werden heute auch Beziehungen zu den Grosseltern gezählt – bei Jung und Alt, in den Städten und auf dem Land eine hohe Bedeutung.

Zweitens verbleiben mehr ältere Frauen und Männer auch in späteren Lebensjahren – etwa nach der Pensionierung – gesund und aktiv. Und alle unsere Daten zeigen, dass gesunde und aktive ältere Grosseltern klar bessere Beziehungen zu jungen Leuten aufweisen. Neue Studien zeigen zudem, dass aktive Grosseltern nicht nur länger gesund verbleiben, sondern sich subjektiv jünger fühlen als nicht engagierte Grosseltern. Im Umgang mit ihren Enkelkindern können Grosseltern à jour bleiben und sich positiv mit neuen Entwicklungen auseinandersetzen.

swissinfo.ch: Viele Grosseltern scheinen sehr darunter zu leiden, dass sie ihre Enkel nicht hüten respektive längere Zeit nicht sehen sollten. Denken Sie, die meisten halten sich daran?

F.H: Die allermeisten Grosseltern haben sich bisher an die Empfehlungen gehalten, da sie als vorübergehend wahrgenommen wurde. Aktuell – mit der Lockerung des ‚Lockdowns‘ – ist die Verunsicherung gross. Kontaktverbote sind kurzfristig auszuhalten, stossen aber längerfristig auf Widerstand, vor allem bei gesunden und aktiven Grosseltern. Staatliche Eingriffe in Familienleben sind immer heikel und erfahrungsgemäss längerfristig mehr oder weniger unwirksam.

Die Aussage der Schweizer Behörden, die um die Welt ging

Daniel Koch, Corona-Krisenmanager beim Bundesamt für Gesundheit (BAG), sagte in InterviewsExterner Link und an Pressekonferenzen, Grosseltern dürften ihre Enkel wieder in den Arm nehmen. Diese Aussage ging um die Welt: BBCExterner Link, CNNExterner Link, ORFExterner Link und viele mehr berichteten über die umstrittene Empfehlung.

Die Schweizer Behörden stützen sich unter anderem auf eine StudieExterner Link, gemäss derer vor allem kleine Kinder sehr wenige Andockstellen im Hals-Rachen-RaumExterner Link haben, über die das Virus in den Körper gelangt. Kinder erkranken daher seltenExterner Link am neuen Coronavirus.

swissinfo.ch: Denken Sie, die Schweiz erlaubte das Umarmen, um die Grosseltern ruhig zu halten? Müsste man längerfristig mit einem Aufstand der Grosseltern in der Schweiz rechnen, wenn man ihnen den Kontakt mit den Enkelkindern verbietet?

F.H: Das Hauptproblem bei den Empfehlungen vom Bundesrat war und ist, dass generell alle Grosseltern zur Risikogruppe 65+ gezählt wurden. Fakt ist aber, dass die allermeisten Grosseltern während der Säuglings- und Kleinkindphase der Enkel wesentlich jünger sind als 65. Das Durchschnittsalter einer Frau bei der Geburt eines ersten Enkelkindes liegt aktuell bei 54-56 Jahren. Enkelbetreuung und Vereinbarkeit mit beruflichen Verpflichtungen ist oft eher ein Problem als Gesundheitsrisiken.

swissinfo.ch: Es gab in der Schweiz auch schon politische Bemühungen, eine Art Besuchsrecht der Grosseltern zu etablieren, beispielsweise nach Scheidungen. Ist das ebenfalls Ausdruck der sich wandelnden Rolle und des zunehmenden Stellenwerts der Grosseltern?

F.H: Ein Besuchsrecht von Grosseltern existiert etwa in den USA und anderen Ländern. Theoretisch wäre dies zu begrüssen. Ein solches Recht praktisch durchzusetzen, könnte schwierig sein, da familiale Konflikte sich kaum durch staatliche Interventionen lösen lassen. Scheidungen führen oft dazu, dass sich die Kontakte der Grosseltern mütterlicherseits verstärken, wogegen die Kontakte der Grosseltern väterlicherseits eher unterbrochen werden.

Ein wichtiger Aspekt bei der Beurteilung von Grosselternschaft – speziell wenn unmündige Kinder vorhanden sind – ist die Tatsache, dass es sich hier um eine Drei-Generationen-Beziehung handelt: Gute Beziehungen zu Enkelkinder sind mehr oder weniger abhängig von guten Beziehungen zu den eigenen erwachsenen Kindern. Die Tatsache, dass ältere Menschen heute insgesamt bessere Beziehungen zu erwachsenen Kindern aufweisen als dies früher beobachtet wurde, stärkt auch die Beziehungen zur jüngsten Generation. Ein Hauptgrund für diese Entwicklung ist, dass autoritäre Erziehungsgrundsätze an Bedeutung eingebüsst haben und alle Generationen offener für Kontakte auf Augenhöhe sind.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

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