Ärzte ohne Grenzen helfen in Genf
Die Schweiz ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt mit einem der wohl besten Gesundheitssysteme, doch wegen der Coronavirus-Pandemie braucht sogar die Schweiz humanitäre Unterstützung. Die medizinische Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) verfügt in Genf über zwölf Spezialisten, die sowohl dem Hauptspital als auch Obdachlosen und anderen gefährdeten Menschen helfen.
«Aktuell knicken in Europa einige der fortschrittlichsten Gesundheitssysteme der Welt unter dem Druck der Covid-19-Pandemie ein. Die Reaktion auf Epidemien ist das Kernstück unserer Arbeit – wir greifen ein, wenn das System überlastet ist und wir unser Fachwissen im Umgang mit Notfällen einsetzen können», sagte der Präsident von MSF (Médecins Sans Frontières) International, Christos Christou, am 27. März.
In den letzten Wochen hat die humanitäre Organisation, die für ihre Arbeit in Konfliktgebieten wie dem Jemen oder der Demokratischen Republik Kongo bekannt ist, ihre Aktivitäten wegen Covid-19 in ganz EuropaExterner Link ausgeweitet – in Italien, Belgien, Spanien, Frankreich, Norwegen, Griechenland und der Schweiz.
Bis zum 3. April zählte die Schweiz 18’902 Infizierte und 536 Verstorbene. Der Kanton Genf in der Westschweiz ist eine der am stärksten betroffenen Regionen.
«Wenn man Europa betrachtet, ist die Situation in Italien, Spanien und Frankreich beunruhigender als in der Schweiz. Das Gesundheitssystem ist hier organisiert, um auf die Krise zu reagieren. Aber es ist das erste Mal seit der Spanischen Grippe von 1918, bei der 21’000 Menschen starben, dass eine Epidemie dieses Ausmasses die Schweiz heimsucht. Es ist das erste Mal, dass Schweizer Ärzte mit etwas so Grossem konfrontiert werden», sagt Patrick Wieland, Leiter der Mission von Ärzte ohne Grenzen Schweiz.
«Unsere Arbeit in der Schweiz ist ein Zeichen der Solidarität mit der Schweizer Öffentlichkeit, die uns bei unseren weltweiten Aktivitäten unterstützt. Wir müssen im Ausland und hier sein, auch wenn es sich um ein reiches Land handelt. Die Menschen brauchen Hilfe. Wir bringen einen Mehrwert, der in unserer im Ausland erworbenen Erfahrung besteht.»
Medizinische Unterstützung
Auf Anfrage der Gesundheitsbehörden unterstützen zwei MSF-Ärzte, die Erfahrung im Umgang mit Cholera- und Ebola-Epidemien in Afrika haben, das Genfer Universitätsspital (HUG) und stellen ihr Fachwissen über den Umgang mit grossen Epidemiekrisen zur Verfügung.
Der Schwerpunkt liegt in Ratschlägen für den Umgang mit Patienten, die sich mit Covid-19 infiziert haben, und in der Organisation von medizinischen Teams und Diensten im Krankenhaus. Die Genfer Behörden sagen voraus, dass der Höhepunkt der Infektionen in etwa zehn Tagen erreicht sein wird.
«Wenn es einen grossen Zustrom von Patienten gibt, sieht das Personal Sachen, die sie nicht gewöhnt sind. Sie müssen auch sehr strenge Massnahmen ergreifen, um sich und die Patienten zu schützen. Die Ärzte hier wissen das alles, aber nur in der Theorie – sie haben es nie wirklich praktiziert. Wir können diese Erfahrung weitergeben», sagt Wieland.
Unter der Koordination des HUG hat MSF auch ein sechsköpfiges mobiles medizinisches Team eingerichtet, das besonders vulnerable Personen mit Covid-19 zu Hause versorgt.
Das Team kümmert sich um Covid-19-positive Patienten, die zu Hause behandelt werden können, um noch nicht getestete Verdachtsfälle und um Personen, die aus dem Krankenhaus nach Hause geschickt wurden, aber zu Hause überwacht werden müssen. Notfälle werden an das Krankenhaus überwiesen.
In Zusammenarbeit mit den Genfer Stadtbehörden hat MSF auch die örtlichen öffentlichen und privaten Leichenhallen über Verfahren zur Vermeidung einer postmortalen Übertragung der Krankheit beraten.
Kaserne für Obdachlose
Man geht davon aus, dass etwa 3000 bis 5000 besonders vulnerable Menschen in Genf unter prekären Bedingungen leben. Die Pandemie hat die Arbeit der lokalen Verbände, die mit Obdachlosen und Migranten arbeiten, stark beeinträchtigt. Viele dieser marginalisierten Gruppen befinden sich möglicherweise bereits in einem schlechten Gesundheitszustand und sind vom Gesundheitssystem ausgeschlossen. Die Suche nach Nahrung ist komplizierter geworden.
Die Behörden der Stadt Genf und die lokalen Verbände waren gezwungen, die Menschen in Notunterkünften unterzubringen, um die neuen Hygieneempfehlungen einhalten zu können. Diese Woche wurde die rasch renovierte Vernets-Kaserne für die ersten Obdachlosen geöffnet. Die Kaserne und eine Flüchtlingsunterkunft werden bis zu 530 Menschen aufnehmen können, die derzeit in Zivilschutzunterkünften und Schulsporthallen untergebracht sind.
MSF beriet die Neuankömmlinge und das Personal in den provisorischen Unterkünften.
«Wir haben Schutzverfahren in den Unterkünften in Genf eingeführt. Dazu gehören Dinge wie Distanzregeln zwischen Menschen, die korrekte Einrichtung der Duschen sowie deren Desinfektion, das Waschen der Kleidung, die Belüftung der Unterkünfte und auch die Vorbereitung auf eine mögliche Ausgangssperre», sagt Wieland.
Die Strategie der Genfer Behörden, die Obdachlosen gemeinsam unterzubringen, wurde von einigen kritisiert, die es vorgezogen hätten, dass der Staat sie in einzelnen unbewohnten Hotelzimmern untergebracht hätte, wie es auch anderswo in Europa geschieht. Aber die Stadtbehörden haben einen solchen Schritt abgelehnt.
In der Zwischenzeit hat MSF auch lokale Verbände und die Behörden bei der Organisation von vier Verteilungsstellen beraten, die am 28. März in Genf eingerichtet wurden. Dort werden Gutscheine für Lebensmittel und wichtige Hygienepakete mit Windeln und Seife an 1300 Familien verteilt.
Zurzeit setzt MSF zwölf Mitarbeitende in Genf ein. Es ist aber gut möglich, dass Ärzte ohne Grenzen ihre Aktivitäten in der Schweiz ausweiten. Die Hilfsorganisation hat kürzlich in Lausanne eine Evaluierung der Situation der vulnerabelsten Personen durchgeführt und plant diese Woche einen Besuch im Kanton Tessin, um zu prüfen, ob noch Bedarf besteht.
App des Roten Kreuzes
Bisher haben sich über 40’000 Personen für die vom Schweizerischen Roten Kreuz und der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft in der Schweiz lancierten App «Five upExterner Link» angemeldet, die eine Koordination der Freiwilligengruppen bietet. Rund 2300 Kontakte zwischen Menschen in Not und Freiwilligen wurden hergestellt, sagte das Schweizerische Rote Kreuz am 26. März.
Die Freiwilligen helfen den Risikopatienten bei ihren Einkäufen oder betreuen die Kinder derer, die arbeiten müssen.
«Die Nachfrage ist gross, aber die Solidarität ist gross», sagt Maximiliane Basile, Direktor von Five up. Es habe zahlreiche Hilfsangebote von Freiwilligen gegeben, aber die Situation sei immer angespannter geworden und die Zahl der Anrufe von Risikopersonen habe ständig zugenommen.
Im Gegensatz zu Gruppen, die über soziale Medien organisiert sind, ermöglicht die App einen direkten Überblick darüber, wo Hilfe benötigt wird und wo Freiwillige zur Verfügung stehen. Für ältere Menschen ohne Smartphone und ohne Zugang zur App wurde eine spezielle Hotline – 058 400 41 43 (Westschweiz) und 058 400 41 41 (Deutschschweiz) – eingerichtet, die täglich von 9.00-13.00 Uhr geöffnet ist, um bedürftige Menschen mit lokalen Freiwilligen zu verbinden.
(Übertragung aus dem Englischen: Sibilla Bondolfi)
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