Das Rezept der niedrigen Abtreibungsrate
Seit 10 Jahren haben Frauen in der Schweiz das Recht auf Selbstbestimmung bei einem Schwangerschaftsabbruch. Trotzdem ist die Anzahl Abtreibungen stabil geblieben. Die Abtreibungsrate gehört zu den niedrigsten weltweit. Woran liegt das?
Doris Agazzi ist eine von wenigen Frauen, die in der Öffentlichkeit von ihren Erfahrungen beim Schwangerschaftsabbruch sprechen. Aus ihrem persönlichen Umfeld habe sie viel Verständnis zu spüren bekommen, sagt sie gegenüber swissinfo.ch, aber auch Hass-Mails erhalten. «Ich habe mich nie geschämt oder das Gefühl gehabt, ein Geheimnis daraus zu machen. Aber ich weiss, dass viele Frauen dies empfinden», sagt Agazzi.
2002 hat das Schweizer Stimmvolk die sogenannte Fristenlösung mit einer klaren Mehrheit angenommen (Vgl. rechte Spalte). Diese erlaubt Abtreibungen in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft, wenn die Schwangere eine Notlage geltend macht und sich vom Arzt eingehend beraten lässt. Doris Agazzi erzählte ihre Geschichte damals am Fernsehen als Teil einer Kampagne zugunsten einer Liberalisierung des Gesetzes.
Seitdem ist die Abtreibungsrate tendenziell gesunken. 2011 kam es pro 1000 Frauen zwischen 15 und 44 Jahren zu 6,8 Abtreibungen. Im Vergleich zu andern Ländern ist dieses Verhältnis in der Schweiz erstaunlich niedrig. In Grossbritannien liegt sie zum Beispiel bei 17,5, in Frankreich bei 15 (2009) und in den USA bei 16 (2008).
Rund ein halbes Dutzend Länder, darunter die Niederlande, Belgien und Deutschland, weisen ähnlich niedrige Abtreibungsraten auf wie die Schweiz. Der durchschnittliche Rate liegt weltweit bei 28 Abtreibungen pro 1000 Frauen im geburtsfähigen Alter.
Familienplanung
Eine niedrige Abtreibungsrate geht Hand in Hand mit einer niedrigen Rate unerwünschter Schwangerschaften. Weshalb sind Schweizer Frauen in einer stärkeren Position, was die Kontrolle ihrer Fruchtbarkeit betrifft?
Sexualmediziner heben drei Gründe dafür hervor: Bildung, Verhütung und soziökonomisches Niveau.
Obwohl es kein Pflichtfach gebe, sei Sexualunterricht in der Schweiz verhältnismässig gut etabliert, sagt Rainer Kamber von der Vereinigung Sexuelle Gesundheit Schweiz. «In fast allen öffentlichen Schulen wird der Unterricht auf hohem Niveau angeboten, meistens in Zusammenarbeit zwischen Lehrkraft und externer Fachperson.»
Wenn junge Frauen oder Mädchen sexuell aktiv werden, ist es üblich, dass sie eine Gynäkologin oder einen Gynäkologen aufsuchen, um Verhütungsmöglichkeiten zu prüfen.
Professor Johannes Bitzer, Vorsteher und Chefarzt der Frauenklinik des Universitätsspitals Basel, hat mehr als 30 Jahre Erfahrung in der Schwangerschaftsmedizin. «Wir haben eine relativ grosse Anzahl Gynäkologen, die im Bereich der primären Gesundheitspflege tätig sind. In einigen angelsächsischen Ländern wird diese Arbeit von Generalisten ausgeführt.», sagt Bitzer.
Ungeschützter Sexualverkehr
Seit 2002 darf die sogenannte «Pille danach», welche eine Schwangerschaft nach ungeschütztem Verkehr verhindert, ohne Rezeptpflicht verkauft werden. Diese Form von Notfall-Verhütung spielt ebenfalls eine bedeutende Rolle.
Mehr als 100’000 Packungen der «Pille danach» werden gemäss Schätzungen der Pharma-Industrie jährlich verkauft. Sandoz, der Hersteller des einzigen in der Schweiz erhältlichen Produkts, gibt allerdings keine Zahlen bekannt.
Ein wichtiger Faktor, welcher das Niveau unerwünschter Schwangerschaften tief hält, ist der vergleichsweise hohe Lebensstandard der Bevölkerung in der Schweiz. «Obwohl Schwangerschaften von Frauen im gebärfähigen Alter aus allen Altersklassen und –schichten abgebrochen werden, gehört ein niedriger sozioökonomischer Status nach wie vor zu den grössten Risikofaktoren», sagt Kamber.
Widerstand
Die Zahl von 10’000 Abtreibungen pro Jahr bedeutet, dass eine von fünf Frauen in der Schweiz einmal in ihrem Leben abtreibt. Der Abbruch unerwünschter Schwangerschaften wird aber nicht von allen als «Gegebenheit des Lebens» akzeptiert.
Im September nahmen in Zürich mehr als 1000 Personen an einem «Marsch für das Leben» teil. Die Organisatoren verteilten der Menschenmenge weisse Särge.
Auf politischer Ebene planen Gegner der Fristenlösung einen neuen Vorstoss, der die allgemeine Akzeptanz des Themas hinterfragt und auf die Finanzierung der Abtreibung zielt.
Die Initiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache», die voraussichtlich nächstes Jahr zur Abstimmung gelangt, versucht Abtreibungen von der Liste der Behandlungen zu entfernen, die von der Grundversicherung der Krankenkassen gedeckt werden. Als Alternative schlägt die Initiative ein System vor, bei welchem die Frauen wählen könnten, entweder sich selber für den Fall einer möglichen unerwünschten Schwangerschaft zu versichern oder die Behandlung aus der eigenen Tasche zu bezahlen.
Es ist sowohl eine moralische wie eine finanzielle Angelegenheit, sagt Peter Föhn, Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei (SVP), der Ko-Präsident des Initiativkomitees ist.
«Ich bin persönlich nicht bereit, eine Abtreibung mitzufinanzieren, und ich erwarte auch nicht, dass jene Leute, die Abtreibungen verurteilen, dies tun müssten.» Die Initiative macht eine Ausnahme, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, oder bei einer Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung.
Ethik
In einer idealen Welt ist die Zahl der Abtreibungen laut Peter Föhn gleich Null. «Jede Tötung eines ungeborenen Menschen ist – wie die Tötung irgendeines Menschen – eine zu viel», sagt er gegenüber swissinfo.ch
Solange dies nicht der Fall sei, müsse gehandelt werden, auch wenn die Rate niedrig sei. «Der Staat oder die Gesellschaft sollten Abtreibungen unter keinen Umständen erleichtern oder sogar dazu ermutigen, oder – wie in der Schweiz – die Kosten dafür übernehmen.
Anne-Marie Rey, die sich für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch engagiert, beurteilt die Initiative als Trick der Abtreibungsgegner, das Rad der Zeit zurückzudrehen. «Es ist nur ein Vorwand für sie, um die Abtreibungsfrage wieder aufs Tapet zu bringen. Einzig die mittellosen Frauen wären davon betroffen. Es ist sehr unethisch und diskriminierend», sagt sie gegenüber swissinfo.ch.
Gesundheitswissenschaftler wie Johannes Bitzer werden weiterhin versuchen, die Verhütungsmethoden und die Betreuung jener Frauen zu verbessern, die von Schwangerschaftskrisen betroffen sind. «Wir werden auch in Zukunft mit unerwünschten Schwangerschaften zu tun haben. Die ethische Diskussion wird nicht abreissen, weil die Frage nie gelöst werden kann», sagt Bitzer.
80’800 Lebendgeburten
100’000 verkaufte «Pillen danach»
11’079 Abtreibungen (davon 10’694 mit Wohnsitz in der Schweiz)
Geschätzte 12% der gemeldeten Schwangerschaften führen zu Fehlgeburten.
2011 kam es pro 1000 Frauen zwischen 15 und 44 Jahren zu 6,8 Abtreibungen. Auf 1000 Geburten fallen 132 Abtreibungen. Die Zahlen sind mit jenen aus dem Jahr 2010 fast identisch.
Drei Viertel der Abtreibungen werden in der Schweiz in den ersten 8 Wochen der Schwangerschaft durchgeführt.
Nach 12 Wochen sind Abtreibungen nur noch aus gesundheitlichen Gründen erlaubt.
Dazu gehören auch schwere psychische Leiden. Eine zweites medizinisches Gutachten wird nicht verlangt. In der Praxis werden nur 4% der Abtreibungen nach der 12. Schwangerschaftswoche durchgeführt.
Rund 4% der in der Schweiz vorgenommenen Abtreibungen betreffen Frauen mit Wohnsitz im Ausland.
Fast zwei Drittel (64%) der Frauen, die 2011 abtreiben liessen, machten von einer medikamentösen Methode (Abtreibungspille) Gebrauch. 2004 waren es erst 49%.
Die Schweiz weist eine sehr niedrige Rate von Teenager-Schwangerschaften und -Abtreibungen auf.
Minderjährige haben das Recht auf eine Behandlung, ohne dass die Eltern davon erfahren.
Voraussetzung ist, dass die Ärztin zum Schluss kommt, dass die Minderjährige urteilsfähig ist.
Unter 16-Jährige müssen an einer vertraulichen, professionellen Beratung einer Fachstelle für Jugendliche teilnehmen.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch