Die Frage der Fahrenden sorgt für Kopfzerbrechen
Die starke Zunahme an Roma, welche die Schweiz durchfahren, und fehlende Transitplätze haben zu Spannungen mit der Bevölkerung geführt. Die Gemeinden werden häufig allein gelassen. Leidtragende sind oft die Schweizer Jenischen.
Grosse Roma-Treffen, illegale Landbesetzung, verschmutzte Anwesen, Klischees über «Hühnerdiebe», Drohungen in sozialen Netzwerken, Strafanzeigen, Schüsse aus Waffen.
Stichworte, die das Ansehen der Fahrenden in letzter Zeit stark getrübt haben, besonders in der Westschweiz, die für die französischen Sinti an Attraktivität gewonnen hat – wegen der Sprache und des starken Frankens.
Die Situation hat sich mit dem Zustrom von rumänischen und bulgarischen Roma noch verschärft. Der freie Personenverkehr in Europa ermöglicht es ihnen heute, in reichen Ländern betteln zu gehen. Dazu kommt ein starker Anstieg von Asylgesuchen serbischer Roma.
Gewisse Parteien versuchen nun, das Malaise auszunutzen und wohl schwer umsetzbare Massnahmen einzuführen, wie etwa die Konfiszierung von Wohnwagen im Deliktsfall oder die Einführung eines (inter-)nationalen «Fahrenden-Alarms».
«Es würde zu keinen Problemen kommen, gäbe es genügend Standplätze in diesem Land. Es gibt nicht einmal genügend Plätze für uns Schweizer», sagt Daniel Huber, Präsident von Radgenossenschaft, der Dachorganisation der Jenischen in der Schweiz.
«Wir haben das Gefühl, wir haben nicht die gleichen Rechte wie sesshafte Menschen, aber die gleichen Pflichten. Zudem fügen uns diese Geschichten grossen Schaden zu, weil man uns in einen Topf mit den Roma wirft, die ein anderes Volk sind.»
Grosse Unterschiede
Die Jenischen, die «fünfte Bevölkerung der Schweiz», zählen 30’000 Personen, die zur Schule gehen, ihre Steuern bezahlen und Militärdienst leisten. Doch bereits sie haben Mühe, von der sesshaften Bevölkerung akzeptiert zu werden. Während sie eher ein diskretes Leben zu führen versuchen, haben die Zwischenfälle des Sommers nun auch ihr Imageproblem verstärkt.
«Alle Fahrenden in einen Topf zu werfen, ist rassistisch. Man müsste unterscheiden zwischen den Erwartungen und Verpflichtungen des Staates gegenüber seinen Bürgern in sehr unterschiedlichen Situationen», sagt Doris Angst, Direktorin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus.
«Die Leute sind sich nicht bewusst, dass zwischen Jenischen und Roma viel grössere Unterschiede liegen als zwischen Jenischen und Sesshaften», erklärt Urs Glaus, Rechtsanwalt und Direktor der Stiftung «Zukunft für Schweizer Fahrende».
Und Huber ergänzt: «Das grösste Hindernis ist, dass die Kantone uns immer mehr zusammen mit den Roma unterbringen wollen, auch wenn wir ganz andere Bedürfnisse haben. Sie fahren in grossen Konvois, während wir nur mit der Familie unterwegs sind. Die Roma bleiben gerne in der Nähe der grossen Autobahn-Verbindungen, während wir kleine Plätze in der Natur bevorzugen. All dies bringt unser Volk in Gefahr.»
Enge Verhältnisse in der Westschweiz
Nur etwa 10 Prozent der Jenischen sind Fahrende oder Halbsesshafte. «Sie verfügen über 14 offizielle Winterstandplätze, das sind etwa 30 Prozent von dem, was nötig wäre. Viele Familien müssen den Winter in einer Wohnung verbringen», sagt Glaus. «Die temporären Sommerstandplätze haben innerhalb von zehn Jahren von 51 auf 42 abgenommen, der Hauptteil ist schlecht ausgerüstet, es fehlt besonders an Wasser. Sie decken 60 Prozent der Nachfrage ab.»
In der deutschsprachigen Schweiz sei die Situation sehr unterschiedlich, betont Daniel Huber: «Am schlimmsten ist es in Schwyz, wo es einen einzigen kleinen Transitplatz gibt, auch wenn dies einer unserer Ursprungskantone ist. Im Gegensatz dazu pflegen wir mit dem Kanton Graubünden eine lange Tradition des Zusammenlebens. Zürich, Aargau und bald auch Bern sind sehr gut ausgerüstet. Das zeigt, dass es möglich ist.»
Die Westschweiz tut sich schwerer damit, Fahrende unterzubringen, seien sie aus dem Ausland oder aus der Schweiz. Gegenwärtig verfügen lediglich das Wallis (ein Platz) und die Waadt (zwei Plätze) über offizielle Standplätze für grosse Konvois, die stark zunehmen.
«2009 haben wir 5345 Übernachtungen gezählt, 2011 waren es bereits 11’149. Im August 2012 bereits wurde diese Zahl überschritten», sagt Pierrette Roulet-Grin, Mediatorin für Angelegenheiten der Fahrenden des Kantons Waadt. «2011 musste ich 16 Mal intervenieren, bis Ende August dieses Jahres bereits 35 Mal. Der Kanton kann diesen Zustrom nicht mehr meistern.»
Fehlender politischer Wille
Die Antwort muss in der Politik gefunden werden, doch das Thema Fahrende scheint nicht sehr beliebt zu sein. «2001 verpflichtete der Bund die Kantone, innert zehn Jahren 30 neue Standplätze und 30 neue Transitplätze zu schaffen. 2012 fehlen immer noch deren 10», bemerkt Urs Glaus.
Wie in vielen anderen Fällen erleichtert der Föderalismus die Sache nicht, weil die Kantone die Entscheide Berns eigentlich umsetzen sollten. Roulet-Grin unterstreicht auch die schwierige Situation in den betroffenen Gemeinden: «Die Eidgenossenschaft und die Kantone unterzeichnen Gesetze, ohne sich um deren Umsetzung vor Ort zu kümmern. Die Gemeinden werden alleingelassen, sie werden zerrissen zwischen der Notwendigkeit, den Fahrenden ausreichend Platz zur Verfügung zu stellen und gleichzeitig die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten.»
Schliesslich gibt es auch ganz pragmatische Gründe, die dazu führen, dass Platz fehlt, wie ein Beispiel aus dem Kanton Freiburg zeigt: Nach langem Hin und Her war entschieden worden, einen Autobahn-Parkplatz zu einem Standplatz für Fahrende umzuwandeln. Doch das dafür zuständige Bundesamt für Strassen hat den Umbau auf 2015 verschoben – aus wirtschaftlichen Gründen.
Für den Moment setzt man noch auf polizeiliche Lösungen. Nach diesem «heissen Sommer» hat die Waadtländer Sicherheitsministerin Jacqueline de Quattro entschieden, dass Fahrende, welche die hiesigen Regeln nicht befolgen, zwangsweise ausgeschafft werden sollen.
Die Gemeinden sollten sehr strikt sein, sagte sie in der Tageszeitung 24 Heures: «Um eine einheitliche Praxis zu erreichen, habe ich vor, eine Art Handbuch für die Gemeinden zu verfassen. Darin werden sich Dinge finden wie das Vorgehen bei der Einreichung von Beschwerden, Vorschläge, wie Anspruchsforderungen geltend gemacht werden können, usw.»
De Quattro schlägt ihren Westschweizer Amtskollegen zudem die Schaffung eines Konkordats vor, denn sie müssten «sich ein für alle Mal einig werden».
Sie sind indischer Herkunft und leben zum Teil bereits seit dem 10. Jahrhundert in Europa. Sie sprechen Romani.
Mit zwischen 10 und 12 Millionen Angehörigen sind sie die grösste ethnische Minderheit in Europa. Die grössten Populationen finden sich in Rumänien (2 Mio. Personen, 10% der Bevölkerung), Bulgarien (700’000, 10%), Ungarn, Spanien, Frankreich, der Slowakei und der Türkei.
Seit dem 16. Jahrhundert werden sie diskriminiert. 800’000 Roma wurden vom Nazi-Regime ermordet.
Fahrende, die seit dem Mittelalter in Österreich, Deutschland, Frankreich und der Schweiz leben. Die rund 100’000 Personen sprechen die jenische Sprache.
In der Schweiz sind 90% der Fahrenden Jenische. Unter den 30’000 Jenischen leben zwischen 3000 und 5000 teilweise oder ganz fahrend. Sie leben in Familienclans mit bis zu 20 Personen in maximal 6-8 Wohnwagen.
Seit 1998 sind sie durch die Europarats-Konvention für nationale Minderheiten geschützt. Sie sind Schweizer Staatsangehörige.
Standplätze: Schweizer Fahrende mieten einen Platz für das ganze Jahr und verbringen den Winter in Wohnwagen oder Baracken.
Pro Familie stehen 150 m2 Wohnfläche zur Verfügung. Ein Platz kostet zwischen 8 und 13 Franken pro Tag.
Transitplätze: für den Kurzaufenthalt bis zu einem Monat während der Fahrzeit im Sommer vorgesehen. Dies erlaubt den Fahrenden, ihre traditionellen Berufe wie Schausteller, Scherenschleifer, Schrotthändler, Korbflechter und Hausierer auszuüben.
Pro Familie stehen 100 m2 Wohnfläche zur Verfügung. Ein Platz kostet zwischen 8 und 13 Franken pro Tag.
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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