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Die Grenzen der unbegrenzten Mobilität

Kurz vor dem Stau: Autobahn Zürich-Bern. Ex-press

Stau auf Strassen und Autobahnen, Doppelstockzüge, Neubaustrecken, enger Taktfahrplan und dennoch nur noch Stehplätze: Die Pendlernation Schweiz stösst an ihre Grenzen. Die Debatte, wer wofür und warum mehr bezahlen soll, ist in vollem Gang.

Vorbei sind die Zeiten, als leere Züge über holprige Geleise ratterten, versiffte Bahnhöfe nostalgische Gefühle wachriefen, und die automobile Freiheit quer durch Stadt und Land noch keine Grenzen kannte.

Heute zeigt sich auf Strassen und Schienen ein ganz anderes Bild: Volle Züge, enge, hochpräzise Taktfahrpläne, topfebene Neubaustrecken, dichte S-Bahnnetze, zu Einkaufszentren ausgebaute Bahnhöfe, verstopfte Strassen trotz mehrspurigen Autobahnen.

Allein in die Stadt Zürich strömen mittlerweile täglich 162’000 Pendlerinnen und Pendler. 90’000 kommen mit dem Auto, 70’000 mit öffentlichen Verkehrsmitteln. 44’000 Zürcherinnen und Zürcher verlassen jeden Tag die Stadt, um anderswo zu arbeiten.

Die Schweiz ist zur Pendlernation geworden, und das hat seine Gründe. Städte, aber auch kleinere Gemeinden, Agglomerationen und all jene Randregionen, die von mehr Wirtschaftswachstum träumen, wurden mit Hochleistungsstrassen und Bahnen erschlossen. Die überall angestrebte Verbesserung der Standortqualität hat zu einem engmaschigen Bahn- und Strassennetz geführt.

Teurere Zugbillette in den Stosszeiten

Flexibilität ist ein Gebot auf dem Arbeitsmarkt. Wer seine Stelle wechselt oder wechseln muss, wird oft zum Pendler, denn längst nicht alle können oder wollen sich einen Umzug leisten.

Für Familien, in denen die Mutter und der Vater arbeitet, ist ein Umzug meistens kein Thema. Einer der beiden muss in vielen Fällen pendeln. Schulsysteme und Lehrpläne sind immer noch nicht einheitlich. Wohnraum schliesslich ist auf dem Land entschieden billiger als in der Stadt.

«Wir wollen nicht unterstützen, dass man quer durch die ganze Schweiz pendelt», sagte Verkehrsministerin Doris Leuthard Ende Januar vor den Medien und kündete ein Massnahmenpaket an, mit dem der Bundesrat das Pendeln einschränken will.

So will die Regierung das Bahnfahren und das Autofahren verteuern. Dies auch, um den Ausbau und den Erhalt der Infrastrukturen auf eine breitere finanzielle Basis zu stellen, aber auch, um das Pendeln einzuschränken.

So sollen die Preise für Zugbillette künftig in mehreren Schritten verteuert werden. Insbesondere das Zugfahren zu Stosszeiten – also zu Pendlerzeiten – soll teurer werden.

Opposition aus den Bergen

Auch das Autofahren will die Regierung verteuern. In einem ersten Schritt soll der Preis für die Autobahnvignette von derzeit 40 auf 100 Franken angehoben werden. Das Parlament wird sich bereits in der kommenden Märzsession mit dieser Vorlage befassen.

In einem weiteren Schritt will der Bundesrat die Mineralölsteuer um bis zu zehn Rappen pro Liter Treibstoff erhöhen. Die Steuerabzüge für die Kosten des Arbeitsweges sollen eingeschränkt werden.

Die Reaktionen fallen quer durchs Land und die politischen Sensibilitäten negativ aus. «In Bundes-Bern hat man offensichtlich keinen blassen Schimmer, wie die Schweiz funktioniert und was im Land läuft», kritisiert Thomas Egger, Direktor der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Berggebiete. Mit dem Einschränken der Steuerabzüge würden die Pendler gleich doppelt bestraft. Das Pendeln sei zudem eine Folge der Arbeitsplatz-Konzentration auf die Zentren, so Egger.

Auch in der geplanten Erhöhung der Mineralsteuern sieht Egger einen Angriff auf die abgelegenen und verkehrstechnisch weniger gut erschlossenen Randgebiete: «Das trifft wiederum jene Pendler, die nun einmal auf das Auto angewiesen sind.»

«Verkehrstaugliche» Kandidaten

Dagegen, dass Autofahren teurer werden soll, wehrt sich auch die Vereinigung der Autoimporteure «auto-schweiz». Rechtzeitig zur Eröffnung des internationalen Automobilsalons in Genf lanciert «auto-schweiz» eine Kampagne gegen die geplanten Verteuerungen. Dazu gehören auch eine allfällige CO2-Abgabe und das geplante Bonus-Malus-System für hubraumstarke Fahrzeuge.

Das alles würde zu einer Verdoppelung der staatlichen Abgaben für Autofahren führen, sagt der Präsident von «auto-schweiz», Max Nötzli: «Die Strasse ist der wichtigste Verkehrsträger. Ohne Auto und ohne Nutzfahrzeuge geht nichts mehr in unserem Land.»

Deshalb will «auto-schweiz» im Hinblick auf die eidgenössischen Wahlen im Herbst ein Liste mit «verkehrstauglichen» Kandidaten für den National- und den Ständerat erstellen, die bereit seien, die «Interessen der Konsumenten zu vertreten».

Linke: mehr Mittel für ÖV

Unzufrieden mit den bundesrätlichen Vorschlägen ist auch die Linke. So kritisieren die Sozialdemokraten, die Vorschläge belasteten zu einseitig den öffentlichen Verkehr. Sie gefährdeten zudem das Ziel, den Verkehr von der Strasse auf die Schiene zu bringen.

Die SP will die Autofahrer stärker belasten und unterstützt deshalb die Volksinitiative des Verkehrs Clubs der Schweiz (VCS), die verlangt, dass in Zukunft die Hälfte der Mineralölsteuern – und nicht wie bisher ein Viertel – dem öffentlichen Verkehr zu gute kommen soll.

Zudem will die SP mit einer Erhöhung der Unternehmensgewinnsteuern und einem Schuldenerlass zugunsten des Fonds für den öffentlichen Verkehr (FinöV) die finanziellen Mittel für den öffentlichen Verkehr optimieren.

Damit gar nicht einverstanden ist der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. Die Wirtschaft zahle nicht zu wenig an den öffentlichen Verkehr. Im Gegenteil sei ihr Beitrag über die Mineralölsteuern und über die Gewinnsteuern sogar überproportional hoch. Einen Schuldenerlass für den FinöV-Fonds bezeichnet Economiesuisse als verfassungswidrig.

Die Debatte um die künftige Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur hat erst begonnen.

Gemäss Resultaten der schweizerischen Volkszählung haben im Jahr 2000 6 von 10 Erwerbstätigen ausserhalb ihrer Wohngemeinde gearbeitet, gegenüber 5 von 10 Personen im Jahre 1990.

Seit der ersten Auswertung der Pendlermobilität im Jahre 1910 ist die Zahl der so genannten Wegpendler laufend gestiegen: 1990: 51,7%, 2000 57,8%.

Trotz dieser Zunahme ist die für den Arbeitsweg aufgewendete Zeit seit 1970 praktisch stabil geblieben.

Das Auto bleibt das bevorzugte Transportmittel, selbst wenn die Bahn in den 1990er-Jahren Marktanteile hinzugewonnen hat.

In der Schweiz sind es 65% Autopendler, in den USA 85%, in Japan 23%.

Jeder fünfte Arbeitnehmer weltweit wendet täglich pro Weg zur und von der Arbeit über 90 Minuten auf.

In der Schweiz pendeln nur 4% mehr als 60 Minuten pro Richtung.

Die aufgewendete Zeit pro Richtung beträgt im weltweiten Durchschnitt 25 Minuten, in der Schweiz 22.

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