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Die Schweiz, ein Land von Tauchern?

Taucher steigen durch ein Eisloch ein, bei Temperaturen von drei Grad Celsius. J.Crespo

Der Winter ist für die meisten Menschen ein Synonym für Schneesport. Für andere aber ist er die beste Zeit des Jahres, um in Schweizer Seen und Flüsse einzutauchen.

Es ist ein kalter Winterabend in St. Prex im Kanton Waadt, der Genfersee ist in der Dunkelheit kaum zu sehen. Ein leichter Nebel dämpft die Lichter der Stadt Lausanne und des französischen Badeorts Evian auf der anderen Seeseite. Die Temperatur des grauen Wassers beträgt an der Oberfläche wenig verlockende 13 Grad Celsius.

In einem nahen Park machen sich vier Mitglieder von Immersion, einem lokalen Tauchklub, für ihre wöchentliche Unterwasser-Exkursion bereit. Während sie die Masken anziehen und sich die Tauchflaschen an den Rücken schnallen, verwandeln sich ihre Silhouetten in froschähnliche Figuren.

«Die Leute sagen, es gebe für uns im See nichts zu sehen, doch das stimmt nicht», sagt der 47-jährige Claude, während sie paarweise an den Kieselstrand laufen.

Seine um ein Jahr jüngere Tauchpartnerin Flore (Tauchpartner werden in der Tauchsprache «Buddy» genannt) teilt seine Begeisterung: «Wenn Du im See tauchst, spürst Du die Umgebung deutlicher», sagt sie. «Wenn Du im Meer tauchst, schaust Du Dich eher um – es ist nicht das gleiche Gefühl.»

Die Taucher ziehen ihre Flossen an und watscheln ins kalte Wasser. Während sie untertauchen, wird das helle weisse Licht ihrer Taucherlampen grün. Gemeinsam bewegen sie sich diagonal zum Seeufer und schaffen einen leuchtenden Fleck im See, der langsam immer dunkler wird, bis er verschwindet.

Gute Sicht

Der Schweizer Unterwasser-Sport-Verband (SUSV) schätzt, dass etwa 250’000 Personen in der Schweiz ein Tauchbrevet besitzen. Dazu gehören 10’000 technische Taucher und Höhlentaucher, 300 Polizisten und 36 Armeeangehörige.

Laut einer Umfrage des Marktforschungs-Instituts Input Consulting Ltd. von 2013 tauchen 50’000 Personen in der Schweiz rund zehnmal pro Jahr. Überraschender aber ist, dass etwa 25’000 mindestens einmal pro Woche ins Wasser steigen – auch im Winter.

Christophe Cotting, Vereinspräsident von Immersion, erklärt, die Schweizer Gewässer seien im Winter viel klarer als im Sommer, weshalb viele Menschen lieber während der kälteren Monate tauchen würden.

«Die Tatsache, dass die Oberflächentemperatur fast gleich ist wie jene am Grund des Sees, sorgt für eine perfekte Sicht. Im Sommer kann die Oberflächentemperatur auf bis zu 25 Grad ansteigen, und die Temperaturen können sich je nach Tauchtiefe stark unterscheiden.»

Cotting hat drei Tauchführer über Schweizer Tauchplätze geschrieben und eine Smartphone-App namens «Swiss Dive» kreiert, die 600 Tauchplätze im Detail beschreibt.

Einer davon befindet sich am Lac Lioson in den waadtländischen Alpen, auf 1850 Meter über Meer. Zwischen Mitte Januar und März ist der See von einer Eisschicht bedeckt, die bis zu einem Meter dick werden kann. Jedes Jahr steigen rund 300 Taucher durch drei aus dem Eis gehauene Löcher ins 3 Grad kalte Wasser.

«Der Spass für sie ist, dass sie in den See steigen und kopfüber auf der Unterseite des Eisschildes laufen können», sagt Paul-François Mermod, Besitzer eines Restaurants in der Nähe, wo die Taucher jeweils im Massenlager übernachten.

Für abenteuerlich eingestellte Taucher ist Eis nicht ein Hindernis, sondern eine Attraktion. D.Mazza

Der Lac Lioson ist im Winter nur mit Schneeschuhen oder Tourenskis erreichbar, weshalb die Taucher zuerst 40 Minuten aufsteigen müssen, bevor sie abtauchen können. Bei Mermod buchen Gruppen zwischen 20 und 50 Tauchern, meistens Mitglieder von schweizerischen, belgischen oder französischen Klubs. Im November waren seine Massenlager für die Wintersaison bereits ausgebucht.

Sehenswürdigkeiten unter Wasser

Doch auch Flüsse und Seen im Unterland bieten viele Möglichkeiten für Besichtigungen und Abenteuer unter Wasser. «In Schweizer Seen gibt es Hechte, die bis zu 1,20 Meter lang werden können, und Welse, die noch grösser sind – bis zu 2 Meter», sagt Cotting. «Es gibt auch Barsche, Flusskrebse, Trüschen, Felchen und Saiblinge.»

Neben der Fauna ist die Erkundung der zahlreichen Wracks von Booten und Flugzeugen in Schweizer Wassern ein grosses Vergnügen für die Taucherinnen und Taucher. Einer von Cottings Lieblingsplätzen ist ein Schaufelraddampfer bei La Tour-de-Peilz im Kanton Waadt.

Das Schiff «L’Hirondelle» war 1862 gesunken, und ein Sturm vereitelte die Anstrengungen, es wieder zu heben. Das Schiff sank dabei tiefer ab und verschwand schliesslich, bis es Taucher in den 1960er-Jahren zufällig wieder entdeckten.

Ein ähnliches Schiff, «Le Jura», war 1864 in einer nebligen Nacht nach einer Kollision mit der «Stadt Zürich» auf dem Bodensee nahe Kreuzlingen im Kanton Thurgau innert vier Minuten gesunken. Auch dieses Wrack zieht viele Taucher an.

In einigen Gegenden haben Taucher auch Unterwasser-Pfade und «Spielplätze» mit Schaufensterpuppen und Statuen eingerichtet. Laut Cotting sind solche bei Anfängern beliebt. «Man muss diesen Pfaden oft mit einem Kompass folgen, was eine sehr gute Übung ist», sagt er.

Ein Unterwasser-Pfad im Baggersee «Le Duzillet» beim waadtländischen St. Triphon bietet den Tauchern ein rostfreies Modell von Michael Schumachers Formel-1-Rennwagen, mitsamt Fahrer und Support-Team. Das Auto war das Steckenpferd von zwei Tauch- und Formel-1-Fans, Johnny Rithner und Mario Wohlgehaben. 2007, eine Woche nach dem Einwassern des Wagens, starb Wohlgehaben bei einem Tauchunfall im Neuenburgersee.

Florian Labanti, Präsident des Tauchklubs «La Coulée Douce» im Kanton Wallis, war Wohlgehabens «Buddy». «Für mich ist Mario im Duzillet in seinem Formel-1-Wagen», sagt er. «Der Fahrer trägt einen Rennanzug, der Mario gehörte. Jedes Mal, wenn ich im Duzillet tauche, besuche ich ihn, tippe ihm auf die Schulter und tauche weiter.»

Zwischen 1995 und 2013 verliefen pro Jahr zwischen drei und sechs Tauchunfälle tödlich. Das Jahr 2003 mit 12 Toten war eine Ausnahme. Denis Paratte, Vizepräident und technischer Experte der Fachstelle für Tauchunfallverhütung (FTU), vermutet, dass dies teilweise mit dem aussergewöhnlich heissen Sommer zu tun hatte, weil die kalten, dunklen Bedingungen unter Wasser unerfahrene Taucher überrumpelt hätten.

Paratte weist darauf hin, dass die Anzahl der Unfälle im Winter nicht zunimmt: «Leute, die im Winter tauchen, sind erfahrener und besser auf die Kälte vorbereitet als jene, die im Sommer tauchen», sagt er.

In St. Prex erscheint nach 30 Minuten wieder ein schwacher grüner Lichtfleck, der sich langsam der Seeoberfläche nähert. Die Taucher bewegen sich gemächlich in Richtung Ufer. Eine Hand taucht auf, gefolgt von drei weiteren. Und sofort beginnt ein euphorisches Gespräch über den Tauchgang.

Während ihres Tauchgangs zum Wrack eines Holzmotorboots auf 19 Metern Tiefe haben sie Trüschen, Barsche, Krebse und Karpfen gesehen. Nächste Woche werden sie wieder abtauchen.

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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