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Die Wächter über den Verkehr

2012 wurden auf Schweizer Autobahnen fast 20'000 Stunden Stau aufgezeichnet. AFP

Das Schweizer Autobahnnetz ist zusehends überlastet. Die Flüssigkeit des Verkehrs wird von der nationalen Verkehrsmanagementzentrale (VMZ) in Emmenbrücke bei Luzern überwacht, die bald auf neue Instrumente wie die Öffnung von Pannenstreifen zurückgreifen kann. Die Lösung des anhaltenden Stauproblems könnte aber vor allem durch neue Technologien kommen.

«Stau auf vier Kilometern auf der A1 von Zürich Richtung Bern auf der Höhe des Baregg-Tunnels. Mit 20 Minuten Wartezeit ist zu rechnen.» Verkehrsinformationen dieser Art sind mittlerweile ständig am Radio zu hören. Das Stauproblem betrifft praktisch das ganze, 1790 Kilometer umfassende Nationalstrassennetz.

«Zu viele Autos, zu wenig Strassen», bringt es Jean-Pierre Benguerel auf den Punkt, als er uns in  nationalen Verkehrsmanagementzentrale (VMZ) willkommen heisst. Die Situation auf dem Strassennetz ist kritisch und die Staustunden auf den Autobahnen nehmen kontinuierlich zu.

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Big brother überwacht die Autobahn

Wir befinden uns in Emmenbrücke bei Luzern. In dem zweistöckigen Gebäude sind elf Verkehrsoperatoren rund um die Uhr und 365 Tage im Jahr tätig. Ihre Aufgabe ist laut Benguerel eigentlich ganz einfach zu beschreiben: «Beim Verkehrsmanagement geht es darum, den Verkehr so  ruhig und flüssig wie möglich zu halten.»  

Als 2008 die Kantone die Verantwortung für das Autobahnnetz an das Bundesamt für Strassen (Astra) abgaben, nahm auch die erste und einzige nationale Verkehrsmanagementzentrale ihren Betrieb auf. Insgesamt 20 Personen sind hier beschäftigt. Benguerel leitet eines der beiden Teams von Verkehrsoperatoren.

An diesem Donnerstag erscheint die Situation unter Kontrolle. Es ist 15 Uhr nachmittags,  die Sonne scheint und die Mehrheit der Pendler befindet sich noch am Arbeitsplatz. Auf der Übersichtskarte, die auf einem von sechs Bildschirmen vor den Augen eines Verkehrsoperatoren erscheint, leuchten vor allem grüne Punkte. Einige sind orange, ganz wenige rot. Das bedeutet Stau.

Jeder Punkt auf der Landkarte entspricht einem von 380 Messstellen, die über das ganze Nationalstrassennetz verteilt sind. In der Nähe von Genf leuchtet ein oranger Punkt. Benguerel klickt darauf. Sofort erscheinen die Verkehrsdaten der letzten Stunde: «91 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit Richtung Lausanne, 216 Lastwagen, 2998 Personenwagen.»

Auf November 2013 hat das  Bundesamt für Strassen (ASTRA) erste lokale Überholverbote für Lastwagen angeordnet. Dadurch soll der Verkehrsfluss auf den Nationalstrassen verbessert und die Verkehrssicherheit erhöht werden. Die so genannten Elefantenrennen sollen ein Ende haben.

Die Überholverbote gelten je nach Situation permanent oder temporär. Nach einer  Überprüfung von 530 Kilometern des Nationalstrassennetzes wurden abschnittsweise Lastwagenüberholverbote für eine Länge von total 290 Kilometern bestimmt, welche schrittweise bis Ende 2014 verfügt und signalisiert werden.

Verkehrs-Info hat Verspätung

Der Chefoperator wählt eine Videokamera aus, die diesen Autobahnabschnitt überwacht. Der Verkehr ist dicht, aber flüssig. Es gibt keine Anzeichen, die eine Verkehrsinformation notwendig machen.

Videokameras und Messstellen sind die beiden Hauptinstrumente, die in der VMZ genutzt werden, um den Verkehr zu regeln. «Momentan können wir 1200 Videokameras nutzen», sagt Benguerel. Die Messstellen ermöglichen es ihrerseits, nicht nur das aktuelle Verkehrsaufkommen der letzten Stunden zu erfassen, sondern auch Vorhersagen zu machen, in welche Erfahrungswerte aus der Vergangenheit einfliessen.

Sobald die Verkehrsoperatoren ein Problem erkennen, leiten sie diese Information dem Verkehrsdienst Viasuisse weiter, der seinerseits via Radio, Teletext, Internet oder Smartphone-Applikationen  die Verkehrsteilnehmer informiert. Die VMZ kann aber die Automobilisten auch direkt über digitale Anzeigetafeln informieren, die über den Autobahnfahrstreifen angebracht sind.

«Es braucht nur wenige Minuten, bis eine Information im digitalen Netz ist. In der Schweiz haben wir jedoch, im Unterschied zu Frankreich, keinen eigenen Radiokanal für Verkehrsinformationen. Die Verkehrsinfos werden in der Regel alle 30 Minuten gesendet und nur in einer Gefahrensituation wird eine laufende Sendung unterbrochen. Daher kommt die Staumeldung in der Regel mit Verspätung bei den Verkehrsteilnehmern an», so Benguerel.

Informieren, leiten, lenken

Die Aufgaben der Verkehrsmanagementzentrale gehen jedoch über die Information der Verkehrsteilnehmer hinaus. Dem Zentrum kommt eine wichtige Bedeutung bei der Planung und  Koordinierung von Massnahmen zur Verbesserung des Verkehrsflusses zu. «Beispielsweise mussten wir einschreiten, weil Sanierungsarbeiten an einem Tunnel just geplant waren, als in einem deutschen Bundesland die Ferien begannen», sagt Benguerel.

In Zusammenarbeit mit der Polizei und den Kantonsbehörden kann die VMZ auch Umleitungs- oder Ausweichrouten empfehlen, wenn bestimmte Verkehrsadern verstopft sind. Dies ist beispielsweise Mitte Januar passiert, als ein Lastwagen einen Brückenpfeiler auf der A1 zwischen Zürich und Bern rammte und die Autobahn für mehr als sieben Stunden blockiert war.

Die Verkehrsoperatoren mussten einige Überstunden leisten.  Auch die zulässigen Höchstgeschwindigkeiten können von den Pulten der VMZ per Knopfdruck reduziert werden.

Künftig wird der Einfluss der VMZ auf die Verkehrsführung noch zunehmen. «Wir arbeiten an einer Standardisierung der technischen Systeme, damit wir einheitliche Lösungen für die ganze Schweiz finden können», so Benguerel.

Da die Kompetenz für den Verkehr bis vor fünf Jahren bei den Kantonen lag, gibt es vollkommen unterschiedliche Systeme. Wenn die Operatoren von Emmenbrücke beispielsweise auf einer Anzeigetafel im Tessin mitteilen wollen, dass vor dem Gotthard-Strassentunnel fünf Kilometer Stau sind, müssen sie sich ins Tessiner System einklinken. «Das ist schwierig und teurer», hält Jean-Pierre Benguerel fest.

Am 26. Februar 2014 hat der Bundesrat zu Handen des Parlaments das zweite Programm zur Beseitigung von Engpässen im Nationalstrassennetz (PEB) verabschiedet.

Insgesamt stehen mit der ersten und zweiten Programmbotschaft zur Beseitigung von Engpässen im Nationalstrassennetz 5,5 Mrd. Franken zur Verfügung.

«Mit den insgesamt verfügbaren Geldern können stark überlastete Engpässe auf einer Länge von gut 100 Kilometern entschärft und Unfälle vermindert werden», schreibt der Bundesrat in seiner Medienmitteilung.

Umnutzung des Pannenstreifens

Eine weitere Aufgabe besteht in der Umnutzung von Pannenstreifen in einen Fahrstreifen, wenn der Verkehr sehr dicht wird. Die vorübergehende Freigabe des Pannenstreifens als dritte Fahrspur ist im Kanton Waadt auf der Autobahn A1 zwischen Morges Ost und Ecublens auf einem 2,9 Kilometer langen Abschnitt erprobt worden.

«Wir müssen dieses Vorgehen aber noch genauer untersuchen, beispielsweise die Kriterien, unter denen  eine dritte Spur freigegeben werden kann. Die Erfahrungen sind gleichwohl sehr positiv. Auf diesem Abschnitt gibt es praktisch keine Staus mehr und Unfälle sind äusserst selten», betont André- Gilles Dumont, Direktor des «Traffic Facilities Laboratory» an der ETH Lausanne. Dieses Verkehrsforschungszentrum war bei dem Projekt federführend.

Die Umwandlung eines Pannenstreifens in eine Fahrspur hat jedoch hohe Kosten zur Folge. Der Fahrbahnbelag muss verändert werden, es braucht neue Notbuchten sowie eine ausgefeilte Signalisierung. Das ganze System wird  von der VMZ gemanagt.

Mögliche Geschwindigkeitsbeschränkungen

Diskutiert wird zudem die Möglichkeit, auf mehr Autobahnabschnitten die Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h zu senken. Momentan gilt diese niedrige Maximalgeschwindigkeit auf 170 Kilometern des Schweizer Autobahnnetzes. Bald könnten es 450 Kilometer sein.

«Es gibt eine Reihe von Studien, die aufzeigen, dass die optimale Verkehrsflüssigkeit bei Geschwindigkeiten von 80-85 km/h erreich wird», sagt Guido Bielmann, Sprecher des Bundesamtes für Strassen (Astra). «Diese Geschwindigkeit wird jedoch nur bei Staugefahr festgelegt. Es handelt sich um keine dauerhafte Massnahme».  

Der Einfluss neuer Technologien

Noch stärker als infrastrukturelle Massnahmen werden sich sehr wahrscheinlich die technologischen Fortschritte bei den Fahrzeugen auf den Verkehrsfluss auswirken. «Die elektronische Stabilitätskontrolle, der Fahrspurwechsel- und der Notbremsassistent sind drei technologische Errungenschaften, die in einigen Jahren eine bessere Verkehrslenkung gewährleisten werden», betont André-Gilles Dumont.

Schon heute sind viele Fahrzeuge in der Lage, sozusagen untereinander zu kommunizieren. Minimalabstände und Höchstgeschwindigkeiten lassen sich immer besser kontrollieren. Gemäss einer US-Studie könnte das Fahrzeugaufkommen auf den Autobahnen dank dieser Technologien sogar verdreifacht werden.

Diese Technologien bergen laut Dumont aber auch Gefahren: «Es besteht das Risiko, dass sich die Automobiltechnologie in die Verkehrsführung einmischt. Wir sehen dies heute schon mit den GPS-Navigatoren. Bei Stau gibt es Umleitungsempfehlungen via Navigator. Und statt eines einzigen Problems auf der Autobahn haben wir schnell weitere Probleme auf dem sekundären Strassennetz.»

Die neusten Technologien könnten möglicherweise auch eine Lösung für dieses Problem haben. So könnten die Navigatoren beispielsweise vernetzt sein und den Fahrzeugfluss steuern: Ein Auto würde Umleitung A nehmen, jedes zweite Auto Umleitung B. «So würde der Umleitungsverkehr via Navigator besser gesteuert», meint Jean-Pierre Benguerel. Vielleicht  wird so eines Tages auch die  Verkehrsmanagementzentrale in Emmenbrücke überflüssig.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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