Eigenwerbung oder ein Preis für die Landschaft?
Das Val Sinestra im Bündner Unterengadin ist als erste "Landschaft des Jahres" ausgezeichnet worden. Verliehen wird der Preis von der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz. Profitiert die Landschaft von dem Preis, oder dient er nur der Eigenwerbung?
Die Unesco hat Landschaften in der Schweiz ins Weltnaturerbe aufgenommen, es gibt den Wakker-Preis des Schweizer Heimatschutzes für Ortschaften, den Waldpreis der Binding-Stiftung – und jetzt die Auszeichnung «Landschaft des Jahres» von der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz (SL).
Eine «Inflation» von Preisverleihungen an Regionen, Orte, die zu einer Abwertung der preisgekrönten Objekte führen könnte? SL-Geschäftsleiter Raimund Rodewald verneint. «Wir haben uns die Lancierung der Auszeichnung ‹Landschaft des Jahres 2011› sehr genau überlegt. Die Vorbereitungsarbeiten dafür dauerten zwei Jahre, wir haben untersucht, was es für Auszeichnungen international und in der Schweiz gibt.»
Die Vorteile eines solchen Preises für die Landschaft als grössere räumliche Einheit würden überwiegen, «mit dem Ziel, auch das Engagement der Bevölkerung zu fördern». Ein derartiger Preis habe bis heute nicht existiert, auch international nicht. «Daher erkannten wir den Nutzen eines solchen Preises», sagt Rodewald gegenüber swissinfo.ch.
«Pflästerli»- oder gemeinsame Politik?
Verschiedene Auszeichnungen von verschiedenen Stiftungen für verschiedene Land- und Ortschaften – eine «Pflästerlipolitik»? Auch das verneint SL-Geschäftsleiter Raimund Rodewald. «Wir haben natürlich Partner für diesen Preis: aus der Wirtschaft, regionale Partner, Gemeinden und Tourismus.»
Die SL sei die Hauptträger-Organisation der «Landschafts-Initiative», man stehe jetzt vor einer ganz wichtigen Entscheidung: «Wollen wir uns für die Landschaft wirklich einsetzen, wollen wir die Zersiedlung, die Zerstörung der Landschaften wirklich stoppen oder nicht?»
Gerade deshalb habe man als Mitträgerin der Initiative den Preis «Landschaft des Jahres» mit Blick auf die kommende Abstimmung lanciert, so Rodewald.
Keine Eintagsfliege
Den Vorwurf, dass im heutigen Dschungel von umweltpolitischen Organisationen Preisverleihungen als Marketingpolitik zum eigenen Überlebenszweck zelebriert werden, weist SL-Geschäftsleiter Rodewald auch zurück.
«Wir haben in der Tat diesen Preis zu unserem 40-Jahr-Jubiläum angedacht und jetzt, 2011, auch lanciert. Aber weniger aus Eigenwerbung, wir haben das nicht nötig. Uns ging es darum, ein Zeichen für die Bedrohung der Landschaften in der Schweiz zu setzen. Wir wollen das nicht einfach als Eintagsfliege lancieren, das soll auch eine Kontinuität über die nächsten Jahre haben. Wir planen, diese Auszeichnung jährlich zu vergeben.»
Mensch, Kultur, Natur
Die Kriterien für die Auszeichnung «Landschaft des Jahres» sind für SL-Geschäftsleiter Rodewald klar: «Wir gehen vom Landschaftsbegriff aus, der einen Zusammen-Lebensraum von Natur und Mensch darstellt. Das Val Sinestra weist genau diese Verzahnung von Mensch, Kultur und Natur auf.»
Man habe nicht nur die Schönheiten der Landschaft auszeichnen wollen. «Wir wollten mit diesem Preis vor allem das Engagement der Leute in der Region auszeichnen. Und dieses Engagement betrifft die Art und Weise, wie mit der Landschaft umgegangen wird, worauf auch verzichtet wird, zum Beispiel im Bereich Tourismus und vor allem auch in der Raumplanung.»
Vor allem deshalb hätten die Gemeinden Ramosch und Sent die Auszeichnung für das auf ihrem Gebiet gelegene Val Sinestra erhalten.
Touristische Überflutung?
Riskiert das bisher eher relativ unbekannte Unterengadiner Tal nach der Auszeichnung nicht eine touristische «Überflutung»?
Das wäre für den SL-Geschäftsleiter eine ungute Entwicklung. «Wir haben deshalb auch bewusst Abschied genommen von grosstouristischen Aktivitäten. Wir sind dort in einer Region, die sich schon seit langer Zeit durch einen qualitativen Tourismus auszeichnet, der auf Langsam-Verkehr setzt.»
Er glaube nicht an die Gefahr, dass jetzt plötzlich eine Bautätigkeit vom Zaun gerissen, neue Strassen oder neue Tourismusgebiete geplant würden.
Auch Victor Peer, Gemeindepräsident von Ramosch, befürchtet keine touristische «Überflutung». Vielleicht gäbe es aber einen touristischen Aufschwung. «Vor allem die Gemeinde Ramosch hat touristisch bis heute nicht viel unternehmen können. Wir sind nun daran, Ideen zu entwickeln, wie wir uns touristisch positionieren könnten mit unserer schönen Landschaft, mit den wertvollen Pflanzen und Biotopen, die wir haben.»
Aus diesem Potenzial möchte die Gemeinde «irgendwie wirtschaftlichen Nutzen ziehen», sagt Peer gegenüber swissinfo.ch. «Aber wir möchten natürlich nicht, dass das Gebiet touristisch überflutet wird. Solange man nur zu Fuss unterwegs ist, sind solche Auswüchse sicher nicht gegeben.»
Ansporn zur Erhaltung der Landschaft
Die intakte Natur, die Schönheit des Tals mit seinen Seitentälern sei ausschlaggebend für die Preisverleihung gewesen. «Ausgezeichnet wurde sicher auch die Leistung der Landwirtschaft oder allgemein der Bevölkerung, die zum Erhalt dieses Tals beigetragen hat.»
Für Victor Peer ist die Auszeichnung «Landschaft des Jahres 2011» eine grosse Ehre. «Aber auch ein Ansporn, dieses Tal weiterhin so zu erhalten, wie es sich heute präsentiert.»
Das als «Landschaft des Jahres 2011» ausgezeichnete Val Sinestra (Preissumme Fr. 5000) im Unterengadin, Kanton Graubünden, liegt auf dem Gebiet der Gemeinden Ramosch und Sent, die sich für eine sanfte touristische Entwicklung im Tal im Einklang mit Landwirtschaft, Natur und Landschaft einsetzen.
Das vom wilden Bergbach Brancla durchströmte Tal zeigt eine harmonische Verzahnung von Natur- (vor allem Wald-) und Kulturlandschaft. Bemerkenswert ist die grosse Artenvielfalt mit unzähligen Orchideen.
Ein weiteres Phänomen sind die Erdpyramiden. Es handelt sich um Pyramiden, die sich über Jahrhunderte in Türme mit einem Gesteinsblock an der Spitze geformt haben.
Eindrücklich sind die sorgfältig entwickelten Ortsbilder der beiden Dörfer Sent und Vnà, die Waldlandschaft auf der rechten Talseite sowie die weitgehend intakte Naturlandschaft in den Seitentälern Val Laver und Val Chöglias.
Auf kultureller Ebene bemerkenswert sind das 100-jährige Kurhaus «Val Sinestra» mit seinen arsenhaltigen Eisenquellen sowie der noch heute bewirtschaftete Berggasthof Zuort mit seiner Kapelle.
Die Stiftung Landschaftsschutz Schweiz (SL) wurde 1970 von Pro Natura, dem Schweizer Heimatschutz, der Schweizerischen Vereinigung für Landesplanung, dem Schweizer Alpen-Club (SAC) und dem Schweizer Tourismus-Verband gegründet.
Die SL ist eine gemeinnützige Stiftung und verfolgt keine kommerziellen Zwecke.
Die SL strebt die Erhaltung, Pflege und Aufwertung der schützenswerten Landschaft in der Schweiz an. Sie sichert und fördert die natürlichen und kulturellen Werte der Landschaft.
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