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Ein Koffer voller Hoffnungen

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Nach 25 Jahren in der Schweiz spricht die Brasilianerin Samaritana Pasquier von einem "langen Integrationsprozess" in einem Land, dass sie sich ganz anders vorgestellt hatte. Die Ethnologin mit Schweizerpass hat ihre Erfahrungen in einem Buch festgehalten.

«Bin ich Schweizerin geworden?», fragt die Schweiz-Brasilianerin in ihrem Buch (Originaltitel Französisch: «Suis-je devenue suisse?»). Diese Frage ist alles andere als einfach zu beantworten…

Samaritana Pasquier wurde in São Luís (im Nordosten Brasiliens) in eine arme Familie von 16 Kindern geboren. Der Hunger begleitete sie oft. So erzählt sie in ihrem Buch, dass sie mit sieben Jahren jeweils ihre Arme verschränkt und sich vorgestellt habe, ein Pariser Baguette-Brot vor sich zu haben.

Ihre Erzählung beginnt sie mit der Erinnerung an ihre einfache Herkunft und die Schwierigkeiten, die ihre Familie ertragen musste. Das Schicksal kommt schliesslich in Form einer Schweizer Freundin, die in Brasilien mit den armen Gemeinden zusammenarbeitete und die ihr 1985 das erste Mal zu einer Gelegenheit verhilft, die Schweiz zu besuchen.

Drei Jahre danach, immer noch dank der Hilfe dieser Freundin, kehrt die 30-jährige Pasquier in die Schweiz zurück, diesmal nur mit einem Hinflug-Ticket. Ein Stipendium des Bundes ermöglicht ihr, ein Studium am Graduate Institute of Development Studies (GIDS) in Genf aufzunehmen.

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Wieso nicht alle Schweizer werden wollen

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Studie Einbürgerungslandschaft Schweiz, die 2012 von der Eidgenössischen Kommission für Migration (EKM) in Auftrag gegeben wurde, zeigt, dass 2010 rund 900’000 Personen in der Schweiz ihre Einbürgerung hätten beantragen können. Pro Jahr erhalten aber nur 36’000, das sind zwei Prozent der in der Schweiz lebenden Ausländer, die Schweizer Staatsbürgerschaft. «Im Vergleich zu anderen Ländern…

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Viele Illusionen

Andere Gründe, wie etwa eine Arbeitsstelle oder eine romantische Beziehung, können auch erklären, warum Ausländerinnen und Ausländer in die Schweiz ziehen wollen. Die Ethnologin gibt aber zu bedenken, dass auf der anderen Seite des Atlantiks viele Illusionen herrschen.

«Auszuwandern heisst, seine Träume von einem besseren Leben in den Koffer zu packen. Man erwartet, dass hier alles sehr einfach sein wird, dass es genügt, in die Schweiz zu kommen, um seine Träume zu erfüllen.»

Doch in Wirklichkeit könnten viele Einwanderer «ihre Träume nicht erfüllen und sehen sich mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert. Man muss aufpassen bei all den Erleichterungen, die geboten werden, um in die Schweiz zu kommen. Ich kenne Brasilianerinnen, die mit Künstlerverträgen in die Schweiz gekommen sind und in der sexuellen Ausbeutung gelandet sind», warnt sie.

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Komplexe Frage

In der Schweiz angekommen, wo sie verheiratet ist und zwei Mädchen hat, studiert sie mit Menschen aus allen Ländern der Welt. Langsam macht sie sich mit der schweizerischen Kultur vertraut, mit ihren Sitten und Gebräuchen. Die Ethnologin beobachtet, wie wichtig das Einhalten von Regeln ist und wie dies ein «kollektives Unterbewusstsein» des Landes beeinflusst.

«Wenn man in Brasilien etwas fragen will, beginnt man mit einem freundlichen ‹bitteschön› (por favor). Hier in der Schweiz kann man kein Gespräch anfangen, ohne vorher ‹guten Tag› gesagt zu haben, auch wenn dies nicht von Herzen kommt, sonst gilt man als schlecht erzogen. Und das sogar dann, wenn man seine Bitte mit der süssmöglichsten Stimme formuliert hat. Die Leute zeigen den Unterschied in kleinen Alltagsgesten. Wenn man da nicht gut hinsieht, kann man einen Kulturschock erleiden», erzählt sie.

Nach 20 Jahren in der Schweiz verspürt die Brasilianerin das Bedürfnis, zu wissen, wer sie wirklich ist. «Welches ist meine wahre Identität? Bin ich Schweizerin geworden?» Diese letzte Frage wird schliesslich zum Titel ihres Buches, mit dem sie diese existenziellen Fragen zu beantworten sucht.

Samaritana Pasquier schätzt, dass es schwierig ist, diese mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten, sei doch die Frage viel komplexer. In ihren Augen ist die Integration eine ewige Lehre. Namentlich erwähnt sie, wie wichtig es sei, die Regeln des entsprechenden Wohnorts zu respektieren. Trotzdem sei es wichtig, sich eine innere Freiheit zu erhalten, um sich selber zu sein.

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Wichtige Staatsbürgerschaft

«Diese Frage hat mich dazu gebracht, alle Etappen zu analysieren, die ich erlebt habe und die mir geholfen haben, zu realisieren, dass ich eine Staatsbürgerin geworden bin. Für mich war es nicht wichtig, Schweizerin zu werden, sondern eine Staatsbürgerin im ganzen Sinn des Wortes», erklärt sie.

Um Schweizer Staatsbürgerin zu werden, ist nicht wichtig, ein gutes Fondue machen zu können oder gerne Ski zu fahren – Dinge, die sie übrigens liebt –, sondern wählen und gewählt werden zu können, politische Rechte zu haben.

Sie selber ist in ihrer Gemeinde Villars-sur-Glâne, die in der Umgebung der Stadt Freiburg liegt, politisch aktiv. Doch dafür sei es essenziell, den Schweizer Pass zu besitzen.

«Schliesslich hast Du den Pass, aber die anderen um Dich herum betrachten Dich immer noch als Eingewanderte. Ich habe das begriffen und es stört mich nicht. Wichtig ist, darüber hinaus zu gehen, offen zu sein, um den anderen begegnen zu können.»

(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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