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Eine Energiekrise zeichnet sich auch in der Schweiz ab

Elektrizitätszähler
Angesichts der steigenden Energiepreise wird die Zukunft der schweizerischen Stromversorgung immer wichtiger. © Keystone / Christian Beutler

Privathaushalte und Unternehmen in ganz Europa müssen diesen Winter einen enormen Anstieg der Strom- und Heizkosten verkraften. In der Schweiz sind die Preiserhöhungen bisher vergleichsweise gering, aber es wird vor einer möglichen Energieknappheit in den nächsten Jahren gewarnt.

Für den jüngsten Anstieg der Öl-, Gas- und Strompreise gibt es mehrere Gründe: Eine generell erhöhte Nachfrage nach Energie, nachdem viele Staaten aus der Coronavirus-Starre erwachen; das Versäumnis der Öl- und Gasförderländer, ihre Produktion zu erhöhen; unzureichende Öl- und Gasvorräte; steigende Temperaturen, die den Energieverbrauch erhöhen; unterbrochene Lieferketten und weit verbreitete Programme zur Senkung des Kohlenstoff-Ausstosses, die zu einem Rückgang an Investitionen in eine effizientere Produktion fossiler Brennstoffe führen.

Die Energiepreise für private Haushalte drohen in Italien um 30%, in Spanien um 28% und in Griechenland um 20% zu steigen.

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Um die Auswirkungen dieser Preiserhöhungen abzufedern, haben mehrere europäische Regierungen Subventionen für einkommensschwache Haushalte gesprochen oder steuerlich eingegriffen. Teilweise wurden auch die Preiserhöhungen begrenzt und Gewinne der Energieunternehmen gedeckelt.

Schweiz steht vergleichsweise gut da

Bislang waren die Auswirkungen auf die Schweizer Haushalte relativ gering. Die Schweiz schützt sich vor steigenden Energiekosten vor allem durch ihre Energieerzeugung – hauptsächlich durch Wasserkraft- und Kernkraftwerke. Gleichwohl muss die Schweiz noch Öl, Gas und sogar Strom importieren, vor allem in den Wintermonaten.

Der Anstieg der Heiz- und Stromkosten macht sich dennoch allmählich bemerkbar, wenn auch nicht im gleichen Ausmass wie in den am stärksten betroffenen europäischen Ländern.

Im Oktober stiegen die Preise für Heizöl in der Schweiz im Vergleich zum Vormonat um 11,2%. Sie lagen somit 50% höher als im gleichen Vorjahres-Zeitraum. Die Preise für Gas haben sich laut offiziellen Statistiken zwischen September und Oktober dieses Jahres um 6,7% erhöht.

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Weil es schwierig ist, Gasleitungen durchs Gebirge zu verlegen und Gas zu transportieren, ist der Gasverbrauch in der Schweiz relativ bescheiden. Die ganze Schweiz verbrauche jedes Jahr nur etwa so viel Gas wie die deutsche Stadt Hamburg, sagt Thomas Hegglin vom Verband der Schweizerischen Gasindustrie (VSG).

Laut Mehdi Farsi, Energieexperte an der Universität Neuenburg, heizt rund ein Viertel der Schweizer Haushalte mit Erdgas. Zum Vergleich: In Deutschland heizt die Hälfte aller Haushalte mit Gas. Weitere 40% der Schweizer Haushalte haben Ölheizungen.

Laut dem Dachverband der Brennstoffhändler in der Schweiz (Swissoil) können neben dem aktuellen Marktpreis für Heizöl weitere Faktoren die Kosten beeinflussen. Preisdämpfend für die Schweizer Konsument:innen wirkt sich beispielsweise der starke Schweizer Franken aus, der der Schweiz einen Währungsvorteil beim Kauf von in US-Dollar gehandelten Brennstoff-Produkten bietet.

Swissoil-Direktor Ueli Bamert betont, dass die Industrie gesetzlich verpflichtet sei, über ausreichend Reserven zu verfügen, um die Versorgung für mindestens drei Monate zu gewährleisten, während die Privathaushalte derzeit bereits 50% ihres winterlichen Bedarfs eingelagert haben.

Anstieg der Strompreise

Laut der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (ElCom) muss ein durchschnittlicher Schweizer Haushalt im nächsten Jahr mit einem Anstieg der Stromkosten von durchschnittlich nur drei Prozent rechnen.

Doch der Anstieg kann je nach Region unterschiedlich hoch ausfallen. Es hängt vor allem davon ab, ob die lokalen Anbieter den Strom im Voraus zu festen Preisen eingekauft haben oder ihre Preise dem Marktverlauf anpassen müssen.

Einige Gemeinden müssen mit Strompreis-Erhöhungen von rund 15% rechnen, obwohl die Möglichkeit bestünde, Preiserhöhungen zu begrenzen, um übermässige Gewinne zu verhindern. Die Preise hängen je nach Kanton vom Anteil des importierten Stroms ab. Zudem machte es einen Unterschied, ob die Stromverteiler für die Lieferung von Strom im Voraus einen festen Preis vereinbart haben oder nicht.

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Die Aufsplitterung der Schweiz auf verschiedene Elektrizitätsgesellschaften kann im Vergleich zu Ländern mit einem stärker zentralisierten Stromversorgungs-System von Vorteil sein.

«In Frankreich gibt es mit EDF nur einen grossen Stromproduzenten und wenn dieser Probleme hat, ist das ganze Land betroffen», sagt Chantal Cavazzana von der Eidgenössischen Elektrizitätskommission. In der Schweiz ist der Markt mit rund 600 Unternehmen, die Strom liefern, viel stärker regionalisiert.

Die Schweizer Industrie beginnt jedoch, die globale Energieknappheit zu spüren, da viele Unternehmen auf importierte Rohstoffe und importiere Bauteile angewiesen sind. Einige Unternehmen haben damit begonnen, die Kosten an die Konsument:innen weiterzugeben, andere erwägen, die Produktion zu drosseln und Kurzarbeit für das Personal zu beantragen.

Engpässe in Lieferketten

«Viele Zulieferer in unterschiedlichen Regionen der Welt haben Schwierigkeiten mit der Stromversorgung und können nicht so viele Waren wie üblich produzieren», sagt Rudolf Minsch, Chefökonom des Dachverbands der Schweizer Unternehmen (Economiesuisse). «Dies führt zu Engpässen in den Lieferketten auf der ganzen Welt, die auch die Schweizer Wirtschaft betreffen. Das Problem ist wesentlich gravierender als im letzten Jahr.»

Eine Economiesuisse-Umfrage ergab, dass 80% der Unternehmen derzeit Probleme haben, Rohstoffe und Rohmaterialen für ihre Waren zu beschaffen.

Für energieintensive Industriezweige sind die steigenden Energiekosten besonders problematisch, da sie stark von Gas- und Stromimporten abhängig sind. Dies betrifft etwa die Herstellung von Zement, Papier, Glas oder Stahl. Diese Unternehmen liefern Rohmaterialien für handwerkliche Produktionsstätten oder für die Bauindustrie und bieten Recyclingdienste an.

Die Schweizer Unternehmen stehen vor den gleichen Herausforderungen wie ihre europäischen Konkurrenten, insbesondere wenn ihre Energielieferverträge erneuert werden müssen.

Die Netzanschlussgebühren seien in der Schweiz zwischen 30 und 60% höher als in den Nachbarländern, klagt die Schweizer Interessengemeinschaft Energieintensive BranchenExterner Link (IGEB). «Die Schweiz hat die höchsten Netzkosten in Mitteleuropa», sagt Verbandspräsident Frank Ruepp. Im Gegensatz zu einigen Nachbarländern subventioniere die Schweiz die Netzkosten für Unternehmen nicht, so Ruepp.

Neues CO2-Gesetz abgelehnt

Das Schweizer Stimmvolk hat im Juni 2021 ein neues Gesetz zur Einführung zusätzlicher Steuern für CO2-Emittenten abgelehnt. Es wird aber immer noch über eine Erhöhung der Abgaben zur Finanzierung der erneuerbaren Energien diskutiert.

Laut Ruepp könnte es unrentabel werden, diese energieintensiven Unternehmen in der Schweiz überhaupt noch zu betreiben. «Wenn die Schweiz diese Industrien behalten will, brauchen wir adäquate Bedingungen, damit die Unternehmen überleben können», sagt er.

Obwohl sich die Energieprobleme in der Schweiz bisher in Grenzen hielten, warnt die Regierung eindringlich davor, dass sich dies in naher Zukunft ändern könnte. Rund 30’000 Unternehmen erhielten im Oktober eine Broschüre, in der sie aufgefordert wurden, den Stromverbrauch zu senken. Die Schweizer Energieministerin Simonetta Sommaruga hat immer wieder gefordert, dass die Schweiz ihre Energieproduktion aus erneuerbaren Quellen ausbaut.

Ein Grund dafür ist, dass die Schweiz sich verpflichtet hat, die Energiegewinnung durch Kernkraftwerke auslaufen zu lassen. Bisher gibt es aber noch keine feste Frist für die Stilllegung der Atommeiler.

Spannungen mit der EU

Ein dringenderes Problem für die Energiesicherheit der Schweiz sind die mangelnden Fortschritte bei der Einbindung in den Strommarkt der Europäischen Union. Brüssel verlangt, dass die Schweiz ihren Markt weiter liberalisiert, um ihn mit der EU kompatibel zu machen.

Die Situation hat sich verschärft, da die Schweiz die Gespräche mit der EU zum so genannten Rahmenvertrag abgebrochen hat. Dieser sollte übergreifende Regeln für die zahlreichen bilateralen Abkommen festlegen.

Angesichts der gravierenden Folgen einer möglichen Energiekrise hat die Regierung im Oktober eine Reihe von Massnahmen vorgestellt, die sie im Falle eines Worst-Case-Szenarios ergreifen könnte.

Die erste Massnahme wäre die Aufforderung an die Bevölkerung, ihren Stromverbrauch einzuschränken. Die zweite wäre, den Betrieb von Schwimmbädern, Klimaanlagen und Rolltreppen zu verbieten. Erst in einem dritten Schritt würden der Wirtschaft Stromkontingente auferlegt.

Deshalb wird das Parlament unter Druck gesetzt, neue Gesetze zu verabschieden, um die Energiesicherheit der Schweiz bis 2025 durch den Ausbau erneuerbarer Energiequellen zu sichern. Ein Alternativplan sieht den Bau eines Netzes von Gaskraftwerken im ganzen Land vor.

(Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob)

(Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob)

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