Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Gebärende fühlen sich in der Schweiz gestresst

Eine Frau beim Gebären
Eine schwedische Fotografin hat die Gesichter von Frauen beim Gebären fotografiert und daraus eine Bilderserie gemacht. Foto: Moa Karlberg

Immer mehr Schwangere wählen Alternativen zur klassischen Spitalgeburt, weil sie sich beim Gebären gestresst fühlen. Das Schweizer Gesundheitswesen schafft Anreize, Gebärende zu zügigen Geburten anzutreiben – notfalls mit Zange und Kaiserschnitt.

SP-Politikerin Lea KusanoExterner Link aus Bern wählte bei der zweiten Geburt bewusst ein kleines Regional- statt eines Universitätsspitals. Sie wollte «ihre Ruhe» haben beim Gebären. Bei der ersten Geburt hätten die Ärzte völlig hysterisch reagiert, weil sie einige Tage übertragen habe. «Die Wehen wurden künstlich eingeleitet. Und dann folgte die Hölle einer Geburt.» Nichts sei mehr von allein gegangen, jeder Schritt habe medizinisch angestossen werden müssen.

Eine Frau lächelt in die Kamera
Lea Kusano. swissinfo.ch

Bei der zweiten Geburt in einem Landspital habe man sie in Ruhe gebären lassen: «Alles war gleich, aber ich wurde nicht gestresst.» Angst und Stress sind Gift beim Gebären, denn die Stresshormone hemmen die Wehen, wodurch die Geburt ins Stocken kommt. Laut Kusano müsste man es einfach mehr «lah gah», also loslassen und entspannter angehen. Doch das entspreche nicht unserer Kultur.

Fallpauschalen führen zu Zeitdruck

Seit 2012 bekommen Schweizer Spitäler von den Krankenkassen nicht mehr die individuell von einer Patientin verursachten Kosten vergütet, sondern sie erhalten einen Pauschalbetrag gemäss Diagnose. Das heisst: Es gibt FixbeträgeExterner Link für eine vaginale Geburt, einen Kaiserschnitt oder eine bestimmte Komplikation, egal wie lange die Geburt gedauert hat oder wie viel Personal benötigt wurde.

Dieser Text ist Teil einer Serie über das Thema Geburt. Wir haben unsere Leser und Leserinnen gefragt, welche Aspekte sie besonders interessieren. Die Texte sind anschliessend aus zahlreichen Interviews mit Müttern, Vätern, Hebammen, Doulas und Ärzten entstanden. Weitere Publikationen folgen:

Laut Monika WickiExterner Link, Zürcher Kantonsrätin und Präsidentin der Interessengemeinschaft IG nachhaltige GeburtshilfeExterner Link, ist dieses System mit ein Grund für die hohen Interventionsraten in der Schweiz: «Im Spital rechnet man: Die Pauschale reicht manchmal nicht, die Kosten zu decken und ist ein Anreiz, die Geburt möglichst schnell zu beenden.» 50% der Kaiserschnitte in der SchweizExterner Link werden wegen Geburtsstillstand oder schlechten Herztönen beim Baby gemacht.  Ab wann ein Geburtsstillstand vorliegt, ist allerdings nicht so eindeutig bestimmbarExterner Link und entsprechend umstrittenExterner Link.

Allgemein könnte der Kostendruck im Gesundheitswesen ein Faktor für die hohe Interventionsrate auf Schweizer Geburtsabteilungen sein. «Geburtshilfe ist teuer, weil Geburten nicht planbar sind», sagt Barbara StockerExterner Link, Präsidentin des HebammenverbandsExterner Link. «Man muss eine ganze Station rund um die Uhr parat haben, auch wenn manchmal nichts läuft.» Das sei ein Problem, weil Schweizer Spitäler gewinnbringend arbeiten müssten.

Die Auswirkungen der Fallpauschalen musste auch Elena* aus Bern erfahren: «Mein Partner und ich hatten den Eindruck, das Personal gucke dauernd auf die Uhr, weil sie die Geburt vor Mitternacht beenden wollten.» Das Kind wurde schliesslich mit der Saugglocke geholt.

Externer Inhalt

Entspannung und Ruhe können Geburt erleichtern

Genau davor fürchtete sich Sara aus Zürich. Interventionen mit Zange und Saugglocke können den Beckenboden der Frau beschädigen oder Fisteln verursachen, das wollte sie vermeiden. «Ich habe Freundinnen, deren Geburtsverletzungen so schlimm sind, dass sie praktisch keinen Sex mehr haben.» Also sprach sie ihre Hausärztin auf das Thema an und fragte sie nach einer Gynäkologin, die nicht zu so rabiaten Mitteln greift. Diese reagierte allerdings pikiert und sagte: «Sie werden keine Gynäkologin finden, die Ihr Sexleben und Ihre Ehe über das Leben des Kindes stellt.» 

Sara aber fand, es müsse doch möglich sein, den Beckenboden der Mutter zu schützen, «ohne gleich das Kind zu töten». Also befasste sich die im Iran geborene und in Kanada aufgewachsene Informatikerin intensiv mit wissenschaftlichen Untersuchungen und kam zum Schluss: «Entweder eine Hausgeburt – oder bei Komplikationen direkt ein Kaiserschnitt.» Sara hat den Eindruck, dass Geburtshilfe in der Schweiz nicht genug evidenzbasiert sei und in der Folge viel zu schnell und falsch eingegriffen werde, zum Beispiel mit einem DammschnittExterner Link.

Sara wollte nicht, dass jemand anderes Kontrolle über ihren Körper hat. Sie entschied sich daher, nur mit Hilfe einer Hebamme sowie einer Doula zu Hause zu gebären. Alles lief reibungslos und schnell. «Ich war sehr entspannt, vielleicht hilft das wirklich.»

Mehr

Eine Intervention führt zur nächsten

«Der Umgang von Ärzten mit Patientinnen hat mich schockiert», erzählt ein Vater. Ihm als Mann sei es nicht annähernd so ergangen im Umgang mit Ärzten. «Frauen, die sich informieren wollen, werden belächelt und mit der Bemerkung abgespeist, dass zu viel Sorge nicht gut für das Kind sei.» Seiner Meinung nach braucht man eine Doula, die verhindern kann, dass die Wünsche der werdenden Mutter einfach ignoriert werden.

Folgendes Szenario scheint in Spitälern immer wieder vorzukommen: Wenn eine Frau überträgt, werden ihr im Spital Mittel zur Einleitung der Geburt gegeben. Diese führen zu so starken Wehen, dass die Frau es nicht mehr aushält und eine PDA bekommt. Diese wiederum bringt den Geburtsverlauf ins Stocken, so dass die Geburt mit Zange oder einem Kaiserschnitt beendet wird. «Eine Intervention führt zur nächsten, man gerät richtig in einen Strudel», drückt es Elena aus.

Wie wichtig ist der Körper der Frau?

Dass Frauen wegen des Kostendrucks beim Gebären unter Zeitdruck gesetzt werden, bestreitet Roland ZimmermannExterner Link, Gynäkologe und Klinikdirektor der Klinik für Geburtshilfe des Universitätsspitals Zürich: «Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Zumindest nicht an meiner Klinik und an anderen Kliniken eigentlich auch nicht.»

Damit konfrontiert, dass manche Frauen den Eindruck haben, die Unversehrtheit ihres Körpers zähle nichts und es werde vorschnell zur Zange gegriffen oder ein Dammschnitt gemacht, meint er: «Kinder bekommen hinterlässt nun mal Spuren am Körper einer Frau.» Es sei aber richtig, dass kleinere Verletzungen der Geburtswege die Medizin über Jahrzehnte kaum interessiert hätten: «Die Lehrbücher kennen gerade mal verschiedene Grade von Rissen in Richtung Afterschliessmuskel und zwei, drei andere typische Risse.»

Deshalb haben Zimmermann und seine Mitarbeiter damit begonnen, Geburtsverletzungen systematisch zu erfassen, und bei Frauen, die damit einverstanden sind, auch Videoaufnahmen der Geburt zu machen, um verstehen zu lernen, wie gewisse Verletzungen zustande kommen. Sie wollen daraus Konzepte ableiten, wie man mit noch weniger Geburtsverletzungen aus einer Geburt herauskommt. Erste Erfolge konnten sie an ihrer Klinik bereits verzeichnen. «Wir haben nicht nur die tiefste Rate an höhergradigen Schliessmuskelverletzungen in Schweizer Spitälern, wir haben auch eine tiefe Rate an Dammschnitten und insbesondere auch eine tiefe Dammschnittrate bei Saugglockengeburten.»

Mehr

Der Bioethiker Tobias EichingerExterner Link vom Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich erinnert daran, dass die Interessen von Kind und Mutter bei der Geburt manchmal nicht miteinander vereinbar seien. «Bei der Geburtshilfe ist es etwas komplizierter als in der allgemeinen Medizin, weil das Wohl von zwei Personen auf dem Spiel steht: Das des Kindes und das der Mutter.» Früher hätten möglicherweise eher das Leben und die Gesundheit der Frau an erster Stelle gestanden, weil sie schon viele Kinder hatte und weitere bekommen konnte. «Es war damals normal, dass nicht alle Kinder überlebt haben», so Eichinger. Dieser Fokus habe sich heute extrem verschoben hin zur Sicherheit des Kindes: «Weil die Menschen wenige Kinder haben, hat das einzelne Kind enorm an Bedeutung gewonnen.» Dieses soll um jeden Preis gesund zur Welt kommen – notfalls zu Lasten der Unversehrtheit der Mutter.

Mehr
Eine Frau beim Gebären

Mehr

«Eine Missachtung der Gebärarbeit von Frauen»

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Auf Wunsch einer Leserin gehen wir der Frage nach, warum in der Schweiz bei einer Geburt meist ein Arzt anwesend ist.

Mehr «Eine Missachtung der Gebärarbeit von Frauen»

Zeit- und Kostendruck führt zu Gewalt in der Geburtshilfe

Im schlimmsten Fall führen Zeit- und Kostendruck zu unsensiblem oder übergriffigem Verhalten gegenüber der Gebärenden. «Es kommt vor, dass ein Arzt einen Dammschnitt macht und das Kind mit der Saugglocke holt, einfach weil er keine Zeit hat», sagt Dayo OliverExterner Link, Hebamme am Seespital Horgen. Das sei unnötige Gewalt.

Oder niemand hat Zeit, die Betroffenen aufzuklären. Lea Kusano erzählt, niemand habe sie bei der Geburt ihres ersten Kindes informiert, dass ein Notfall eingetreten sei. «Ich habe es gespürt, weil plötzlich drei Ärztinnen im Zimmer standen, aber niemand sagte etwas.» Die Ärztinnen hätten sich mit den Beinen abgestützt und ihre Beine mit einer Kippbewegung nach oben gestossen, um das Kind aus der Verkeilung zu lösen, während die Hebamme mit ihrem vollen Gewicht auf Kusanos Bauch drückte. «Das war brutal, es war wie beim Metzger!», erzählt Kusano. Etwas mehr Kommunikation hätte in dieser Situation schon geholfen, findet Kusano lakonisch.

Stocker erklärt sich das Phänomen der Gewalt in der Geburtshilfe mit Personalmangel. «Die Arbeit im Gebärsaal ist manchmal hart, vor allem, wenn Stellen nicht besetzt sind und Personal fehlt», erklärt Stocker. «Wenn eine Hebamme fünf oder sechs Dienste am Stück geleistet und jeweils zwei bis drei Frauen gleichzeitig betreut hat, kommt sie an ihre Grenzen. Das ist eine Tatsache und es ist auch legitim, das zuzugeben.»

Frauen wehren sich – mit Rosen

In Deutschland ist eine Elternbewegung gegen Gewalt in der Geburtshilfe entstanden, die nun auch in der Schweiz aktiv ist. Am «Roses Revolution DayExterner Link» (25. November) legen Frauen Rosen vor Kliniken, in denen sie Gewalt erlebt haben – als stillen Protest.

Die Initiative scheint zu wirken. Das Unispital Zürich kontaktiert Frauen inzwischen für ein Nachgespräch. Auch Stocker vom Hebammenverband begrüsst die Bewegung «Roses Revolution» und hofft, dass sich dadurch etwas im Gesundheitswesen bewegt. «Die zentrale Frage ist: Was ist uns eine Geburt wert? Und wie viel ist es uns wert, dass eine Frau unversehrt aus einer Geburt herausgeht?»

*Name der Redaktion bekannt

Kontaktieren Sie die Autorin @SibillaBondolfi auf FacebookExterner Link oder TwitterExterner Link.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft