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Aus den Städten vertrieben

Stadt Basel
Blick auf Kleinbasel. Keystone

In Schweizer Städten wandeln sich ganze Quartiere: Erst sind sie günstig und attraktiv, dann bringen neue Bewohner mehr Geld, und am Ende kann die bestehende Bevölkerung die steigenden Mietpreise kaum mehr bezahlen. Was Gentrifizierung bedeutet, lässt sich am Beispiel Basel derzeit gut darstellen.

An einem Samstag im Herbst fand in Basel eine Demonstration für bezahlbaren Wohnraum statt. Sie war nicht besonders gross, 300 Teilnehmer. Angeführt wurde sie von einem umgebauten Fahrradanhänger, an dem Strassenschilder befestigt waren: Steinengraben, Mülhauserstrasse, Burgweg. Diese Strassennamen sind in Basel mittlerweile Schlagworte für Gentrifizierung. Das Angebot an freien Wohnungen in Basel ist seit 2005 um zwei Drittel geschrumpft.

Basel ist nur ein Beispiel. In den grossen, wirtschaftlich starken Schweizer Städten wie Zürich, Genf, Bern und Lausanne wird der Begriff «Gentrifizierung» inzwischen ähnlich häufig an Wände gesprayt, wie er in wissenschaftlichen Untersuchungen auftaucht.  Er beschreibt ein Phänomen, dass ehemals einfache Quartiere über mehrere Stufen erst aufgewertet, dann teuer und schliesslich schlimmstenfalls entvölkert werden. Günstige Mieten locken zunächst Kreative und Studenten an. Diese sind für die Eigentümer attraktiv. Dann aber werden ehemalige Studierende mit dem Einstieg ins Berufsleben selbst zu zahlungskräftigen «Gents» – und Viertel, die von Ateliers und Kunstschaffenden geprägt sind, locken Unternehmen, Kulturangebote und zahlungskräftige Mieter an.

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Günstiger Wohnraum ist gesucht: Wohnungsbewerber an einem Besichtigungstermin. Keystone
Wohnung
Exklusiver Wohnraum bringt Rendite: Eine Interessentin besichtigt in Basel eine neu erstellte Musterwohnung. Keystone

​​​​​​​Liftschächte als Wohnfläche angegeben

An jenem Samstag gingen die Demonstranten wegen eines Bauvorhabens auf die Strasse, das zu einem Fall für die Richter geworden war. Es ging um den Abriss der Häuser am Steinengraben 30-36 – alte Villen, in denen mehr als 25 junge Mieter zu bezahlbaren Mieten leben. Am Montag nach der Demo folgte die Ernüchterung: Die Richter lehnten den Rekurs der Mieter ab. Diese müssen raus. Der Eigentümer darf einen geplanten Bürokomplex mit halb so vielen Wohnungen realisieren. Was die Demonstranten ärgerte: Um dem 2014 gelockerten Wohnförderungsgesetz Rechnung zu tragen, hatte die Liegenschaftsbesitzerin in den Plänen sowohl Tiefgarage als auch Liftschächte als Wohnfläche ausgewiesen – und das Gericht gab ihr Recht. «Der Entscheid wirkt bewusst investorenfreundlich», meint ein junger Mieter, der als Fahrradkurier arbeitet. Momentan beraten die Bewohner mit dem Mieterverband, ob sie den Entscheid ans Bundesgericht weiterziehen wollen.

Eine hübsche, alte Strasse
Der Steinengraben in Basel. Google streetview

Betagte müssen aus Wohnung raus

An der Mülhauserstrasse 26 lebten Rentner der Pensionskasse Basel-Stadt, ehemalige Staatsangestellte. Margrit Benninger ist 92, auch sie wohnte hier. Dieses Jahr musste sie umziehen, zum ersten Mal seit fast 50 Jahren.  Als die Beamten-Witwe im Mai 2016 die Kündigung wegen einer geplanten Totalsanierung erhielt, wusste sie nicht wie sie reagieren soll. Unterstützung, um gegen die Kündigung zu protestieren, fanden jene, die Widerstand leisten wollten, bei einer linksalternativen Genossenschaft in der Nachbarschaft. Für Margrit Benninger sind diese Aktivisten inzwischen zu Freunden geworden. «Sie mussten lernen, sich zu wehren, denn viele von ihnen sind Studenten und verfügen auch über wenig Geld. Das Gelernte haben sie uns weitergegeben», sagt die betagte Frau.

Benninger darf nach der Sanierung zurück, so wie drei weitere Parteien auch. Über den Mietpreis wurde Stillschweigen vereinbart; aber Benninger ist zufrieden. Sie hat sich gewehrt, wurde Teil einer kleinen Bewegung, die sich in Demos, Medienberichten und einer Sammelklage des Mieterverbands manifestierte. Laut der Sprecherin der Immobilienverwaltung sei die Einigung aber nicht deshalb zustande gekommen, sondern aufgrund «eines längeren Bemühens beider Seiten, eine Lösung zu finden». So steht es auch im Communiqué des Mieterverbands, der an den Verhandlungen wesentlich beteiligt war. Beat Leuthardt vom Mieterverband sagt: «Seit 2005 nutzen wir Sammelklagen als Instrument im Kampf für unsere Klienten. 180 haben wir bis heute eingereicht und fast immer waren Rentner unter den Betroffenen.»

Mit Zwischennutzung gegen Hausbesetzungen

Leuthardt ist auch Politiker. Als solcher reichte er eine Anfrage an die Regierung ein. Sie betraf einen weiteren Strassennamen auf dem Demo-Fahrradanhänger: den Burgweg. Am Burgweg 4-14 kämpften 13 Mieter seit 2013 um ihren Verbleib. In die Wohnungen derer, die früh eingelenkt hatten, wurden zwischenzeitlich Asylbewerber einquartiert. In diesem Frühling wurde zwei der letzten Mieter noch mit der Zwangsräumung gedroht. Kurz nachdem alle bis auf eine Einzelperson ausgezogen sind, machte eine Onlineausschreibung die Runde, die ebenjene Wohnungen anpries – als günstige Zwischennutzung für sieben Monate. Vermittelt von der Projekt Interim GmbH, einem schweizweit operierenden Unternehmen. Auf ihrer Homepage wirbt Interim mit den Vorteilen, die Zwischennutzungen Grundeigentümern bieten: Sie verhindern teuren Leerstand, Vandalismus oder gar eine Hausbesetzung. Gegenüber potenziellen Zwischennutzern reicht dem Unternehmen ein Werbeargument: der tiefe Preis.

Eine friedliche Strasse
Der Burgweg 4-14 in Basel. Google streetview

Am Burgweg 4-14 leben Menschen befristet, formell sind sie keine Mieter. Da sie einen sogenannten «Gebrauchsleihvertrag» unterzeichnet haben, der sie um jede Mietrechte bringt, können sie jederzeit auf die Strasse gesetzt werden. Mit solchen Verträgen, darf der Eigentümer – so die rechtliche Einschränkung – keine Rendite erzielen, sondern bloss Unkosten decken. Mietervertreter Leuthardt hat inzwischen von der Regierung Antwort erhalten. Zufrieden ist er damit nicht. Darüber, ob die Eigentümer Gewinne erzielen und es sich in diesem Fall um ein Mietverhältnis handle, müsse ein Gericht entscheiden. Womöglich könnten die Zwischennutzer ihr Mieterrechte erstreiten. «Aber sie lassen sich nicht organisieren – denn sie sind in einer Abhängigkeitssituation», entgegnet Leuthard.

Kinder leiden unter unsicherem Mietverhältnis

Die Bewohner zahlen 300 bis 450 Franken pro Monat. Pikant daran: Eigentümer ist auch in diesem Fall eine öffentlich-rechtliche Pensionskasse – diejenige des Nachbarkantons Basel-Land. Ein Vertreter von Interim beteuert auf Anfrage, dass der Liegenschaftsbesitzer keine Gewinne erziele und der Vertrag somit rechtens sei.

Eine Studie an der Universität Bern weist darauf hin, dass mittlerweile auch viele einkommensschwache Familien mit Kindern auf Zwischennutzungen angewiesen sind – und unter dem ständigen Ablaufdatum ihrer Unterkunft leiden. Gentrifizierung trifft die Schwächsten der Gesellschaft. Dieses Bewusstsein ist in Basel inzwischen verbreitet. Davon zeugen vier Volksinitiativen zu Wohn- und Mietthemen, die allein in diesem Kanton auf die Abstimmung warten; drei zur Stärkung des Mieterschutzes und eine, die ein «Grundrecht auf Wohnen» in die Verfassung schreiben will. 

Die Regierung ist sich bewusst, dass die Stimmung bei dieser Thematik aufgeladen ist: Im Westen der Stadt, wo Basel mit Deutschland und Frankreich zusammenwächst, plant der Kanton mit den Firmen Novartis und BASF auf 300’000 Quadratmeter stillgelegter Industriefläche ein neues Quartier. Ein Sprecher des Kantons sagt, bei allen Beteiligten bestehe kein Interesse an einer «urbanen Monokultur für Bessergestellte». Aber wie will man diese verhindern? Konkret äussern sich die Projektbeteiligten dazu noch nicht.

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