Wird der Lockdown zur Abhängigkeits-Falle?
Greifen Sie häufiger als vor der Coronakrise zum Zigarettenpäckchen. Gönnen Sie sich regelmässig ein Gläschen oder mehr? Haben Sie sich auf Online-Geldspiele eingelassen? Der Übergang vom Genuss- zum Suchtmittel ist derzeit kürzer als sonst.
«Isolation, Langeweile oder Ängste haben das Zeug, den Suchtmittel-Konsum zu begünstigen», sagt Markus Meury, von Sucht SchweizExterner Link, einem Kompetenzzentrum für Prävention, Forschung und Wissensvermittlung im Suchtbereich. Noch liegen keine konkreten Daten aus Befragungen oder Verkaufszahlen vor, aber aufgrund der Erfahrung und von Indizien, geht Sucht Schweiz davon aus, dass sich das Problem derzeit verschärft.
Auch Angehörige leiden mit
Meury nennt drei anonymisierte Beispiele aus der Hotline-Beratung:
Eine Frau erzählt am Telefon, sie trinke nun abends regelmässig Alkohol, insbesondere, um sich zu beruhigen und um schlafen zu können. Sie will wissen, ob das nun schon problematisch sei.
«Ja, leider besteht ein Risiko, dadurch in eine Sucht zu geraten. Es funktioniert anfänglich, aber dann sind immer grössere Mengen nötig, um die gleiche Wirkung zu erzeugen», sagt der Suchtexperte dazu.
In solchen Fällen sei es gut zu wissen, dass es eine ganze Palette anderer Entspannungstechniken gebe, um sich zu beruhigen oder schlafen zu können, sagt Meury.
Im Gespräch mit der Beraterin stellte sich heraus, dass die ratsuchende Frau ein Instrument spielt. Musizieren sei sehr dafür geeignet, um sich abzulenken und zu beruhigen.
Nicht nur Direktbetroffene melden sich, sondern sehr oft auch besorgte Angehörige von Suchtgefährdeten.
Meury erwähnt das Beispiel einer Frau, deren Partner schon vor dem Lockdown ein Alkoholproblem hatte. Aber jetzt, wo beide im Homeoffice arbeiten, ist das Problem für die Frau unerträglich geworden. Weil sie gefährdet sein könnte, vermittelt die Beraterin die Adresse eines Frauenhauses, um zuerst den Schutz zu gewährleisten.
In einem dritten Beispiel geht es um ein Elternpaar, dem jetzt – da alle drei zuhause sind – bewusst wird, wie viel Cannabis der Sohn konsumiert.
In diesen Fällen empfiehlt Sucht Schweiz, mit den Jugendlichen klare, dem Alter entsprechende Regeln auszuhandeln, die dann konsequent eingehalten werden müssen.
Werbung für Online-Casino
Besonders verführerisch ist derzeit das Spielen um Geld, für die einen als Abwechslung, für andere, die wegen der Corona-Krise in finanzielle Not geraten, um zum vermeintlich schnellen Geld zu kommen.
Weil die vielen Casinos in der Schweiz derzeit geschlossen sind, werben sie umso intensiver für ihr Online-Angebot. «Sichern Sie sich Ihren Willkommensbonus. Sie erhalten einen 100%-Bonus auf bis zu CHF 300.- und 200 Freispiele für unser Spiel Golden Rabbit», lockt zum Beispiel Grandcasino LuzernExterner Link.
Manche Casinos bewerben sogar Personen, die wegen auffälligen Spielverhaltens eine Spielsperre hätten, sagt Meury. Sehr problematisch ist laut Meury, dass das Online-Geldspiel anonym ist, es wenig Sozialkontrolle gibt und kaum kontrollierbar ist, wie viel Geld die Spielenden ausgeben. «Man kann ständig weiterspielen, 24 Stunden an 7 Tagen pro Woche.
Steuereinnahmen mit Suchtgeld
«Das unfaire Spiel der Schweizer Casinos», titelt die NZZ am SonntagExterner Link. Bei der Lancierung des neuen Geldspielgesetzes 2018 habe man dem Stimmvolk versprochen, dass «die illegal tätigen ausländischen Geldspiel-Haie vom Schweizer Markt ausgeschlossen würden». Heute zeige sich aber, dass die inländischen Casinobetreiber beim Online-Geldspiel mit dubiosen Anbietern aus dem Ausland zusammenspannten.
Die Schweiz steckt in der Geldspiel-Frage seit den 1990er-Jahren, als Spielbanken hierzulande in grosser Zahl bewilligt wurden, in einem Dilemma. Einerseits will der Staat gefährdete Spieler schützen. Andererseits verdient er kräftig mit in Form hoher Steuern auf den Gewinnen der Casinos.
Der Lockdown bringt neue Suchtgefahren mit sich, stellt Sucht Schweiz fest und lanciert deshalb das neue Informationsportal «Sucht und CoronakriseExterner Link«. Dort stellt sie drei «Survival Kits» mit Informationen zu Substanzen und Verhalten mit Suchtpotenzial zur Verfügung.
Besonders gefährdete Raucher/innen
Weil für die einen der Stresspegel infolge Homeoffice gestiegen ist und sich für die anderen die Langeweile breit macht, dürften viele Raucherinnen und Raucher häufiger als sonst zum Zigarettenpäckchen greifen, vermutet Thomas Beutler von der Arbeitsgemeinschaft Tabakprävention SchweizExterner Link.
Dies obwohl das Coronavirus für Raucherinnen und Raucher besonders gefährlich ist. Rauchen schwächt das Immunsystem und erhöht das Risiko für einen schweren Verlauf verschiedener Atemwegserkrankungen. Weil die Sauerstoffversorgung bei Rauchern schlechter sei, setze sich das Enzym ACE2 vermehrt auf den Lungenzellen fest. Dieses Enzym habe sich als Rezeptor für das neuartige Coronavirus herausgestellt, erklärt Beutler.
(SRF-Beitrag: Randständige in der Corona-Krise)
Schweiz ist kein Vorbild punkto Prävention
Was den Alkohol-Konsum betrifft, sind die Europäer SpitzenreiterExterner Link. Die Schweiz liegt im europäischen Vergleich im Mittelfeld.
Schlechter schneidet das Alpenland beim Tabakkonsum ab. «Die Schweiz hat diesbezüglich die wirtschaftsliberalste Politik aller Länder Europas», sagt Meury. Viele gute Präventionsprogramme würden hierzulande durch die inkonsequente Suchtpolitik des Bundes zunichte gemacht, kritisiert er.
«Die allgegenwärtige Werbung, heute auch immer mehr im Internet und in den sozialen Medien, ist mitverantwortlich für das Klima, das suchtgenerierende Substanzen umgibt. So stärkt die Werbung die Idee, dass ein Fest ohne viel Alkohol kaum möglich ist.»
Dabei hätten strukturelle Präventionsmassnahmen wie Preiserhöhungen, umfassende Werbeverbote oder Einschränkungen der Zugänglichkeit vor allem beim Tabak, aber auch beim Alkohol, eine starke Wirkung, insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
«Grossbritannien, Australien oder Skandinavien haben damit grosse Erfolge erzielt», sagt der Suchtexperte.
Chance zum Ausstieg?
Für die einen ist es schwieriger geworden, den Umgang mit Genuss- bzw. Suchtmitteln zu kontrollieren, aber für andere ist diese besondere Situation womöglich gerade ein günstiger Moment, ein langjähriges Laster loszuwerden. Das muss keine Qual sein, sondern kann sich positiv auf das Wohlbefinden auswirken. Erste VorteileExterner Link treten schon nach zwölf Stunden auf.
Mit der Stop-tabac-AppExterner Link der Arbeitsgemeinschaft Tabakprävention kann man gratis einen persönlichen virtuellen Coach engagieren, der einem beim Aufhören begleitet.
Je nach Substanz und Abhängigkeit sei ein Ausstieg derzeit aber nicht so einfach. Insbesondere beim Alkohol und Tabak, wo diese oft sehr stark sei, empfiehlt Markus Meury von Sucht Schweiz eine fachliche Begleitung.
Ob solche Beratungen ab dem 27. April gemäss Bundesratsentscheid wieder im direkten persönlichen Gespräch möglich seien, sei noch nicht klar.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch