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Wenn der Zahnarztbesuch zum Luxus wird

Zahnärzte
Rund 26% der Schweizer Bevölkerung verzichteten laut dem International Health Policy Survey im Jahr 2020 aus Kostengründen auf eine zahnärztliche Behandlung oder Untersuchung. Katy Romy / swissinfo.ch

Finanzielle Engpässe zwingen immer mehr Schweizer:innen dazu, auf dringend benötigte zahnärztliche Behandlungen zu verzichten. Manche suchen stattdessen Zahnärztinnen und Zahnärzte in Ausbildung auf, um von Rabatten zu profitieren.

«Ich bin schon immer vor Zahnärzten geflohen», gesteht Frédéric*, doch Anfang 2022 hatte der 63-jährige Rentner aus Genf keine Wahl mehr. «Meine Zähne begannen wie Herbstblätter auszufallen», berichtet er. Daher musste er einen Spezialisten aufsuchen – der ihm eine eindeutige Diagnose stellte: Er benötige eine Zahnprothese.

Die Kosten dafür können bis zu 10’000 Franken betragen, während eine Kariesbehandlung in der Schweiz mit rund 1000 Franken zu Buche schlägt. Die Zahnarztkosten werden nicht von der obligatorischen Grundversicherung erstattet.

Für den Genfer war diese Summe unerschwinglich. Deshalb machte er sich auf die Suche nach Alternativen. «Zuerst überlegte ich, mich im Ausland behandeln zu lassen, aber angesichts möglicher Komplikationen schien mir das zu riskant.»

Letztendlich entschied er sich für eine Behandlung an der Universitätsklinik für Zahnmedizin der Universität Genf (CUMD). Diese Einrichtung, die zukünftige Zahnärzt:innen ausbildet, gewährt ihren Patient:innen einen Rabatt von 70% auf Behandlungen, die von Studierenden unter Aufsicht diplomierter Zahnärzt:innen durchgeführt werden.

«Um die restlichen Kosten zu decken, erhielt ich Unterstützung von einer Stiftung, die bedürftigen Menschen in besonderen Situationen hilft», sagt Frédéric.

Die Erfahrung überzeugte ihn. Er konnte von einer qualitativ hochwertigen Betreuung zu einem Vorzugspreis profitieren und gleichzeitig einen Beitrag zur Ausbildung leisten.

«Jede Behandlung wurde von einer Studentin unter den wachsamen Augen ihrer Supervisorin durchgeführt. Dank dieser doppelten Kontrolle fühlte ich mich sogar noch sicherer als in einer herkömmlichen Praxis», berichtet er.

Er sucht die Patienten zu Hause auf, oder sie kommen in sein Zahnmobil. Der Zahnmediziner Michael Keller kurvt mit seinem umgebauten Bus seit 2014 durchs Urnerland und flickt betagten Menschen die Zähne:

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Zahl der Betroffenen steigt

Frédéric fand eine Lösung, im Gegensatz zu vielen anderen Menschen in der Schweiz, die finanziell schlecht gestellt sind. Bei diesen Personen handelt es sich nicht um Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger, denn diese erhalten die Kosten für Zahnbehandlungen erstattet. Die genaue Zahl der Betroffenen ist unklar und variiert je nach Untersuchung, da unterschiedliche Indikatoren berücksichtigt wurden.

Laut einer Erhebung des Bundesamts für Statistik im Jahr 2020 mussten 2,4% der Bevölkerung aufgrund fehlender finanzieller Mittel auf eine notwendige Zahnbehandlung verzichten. Dieser Anteil blieb laut Studie seit 2015 unverändert.

Eine andere Untersuchung, der International Health Policy Survey (IHP) der amerikanischen Stiftung Commonwealth Fund, kommt zu einer deutlich höheren Quote, weil sie eine umfassendere Definition von Verzicht verwendet.

Die Autor:innen kamen zum Schluss, dass im Jahr 2020 aus Kostengründen 26,4% der Schweizer Bevölkerung auf eine (nicht unbedingt notwendige) zahnärztliche Behandlung oder Untersuchung verzichtet haben.

Diese Zahl ist innerhalb von vier Jahren um 5,7 Prozentpunkte gestiegen. Im internationalen Vergleich liegt die Zahl in der Schweiz höher als in Frankreich (18,5%) oder Deutschland, aber niedriger als in den USA (36,2%).

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Bildung steht an erster Stelle

Einige Schweizer:innen wenden sich deshalb an Zahnärzt:innen in Ausbildung. «Bei uns steht nicht der soziale Gedanken im Vordergrund. Wir müssen in erster Linie genügend Patient:innen haben, um unseren Unterrichtsbedarf zu decken», betonen die CUMD-Verwalterin Chiara di Antonio und der operative Direktor Serge Borgis.

In der Klinik werden jährlich rund 10’000 Personen behandelt, ein Teil davon durch die rund 60 Studierenden in der Vordiplomausbildung. «Jede:r Studierende behandelt während des Studiums mehrere Dutzend Personen», sagt Borgis.

Zahnmedizinstudentinnen und -studenten üben an einer Puppe
Bevor sie Patientinnen und Patienten empfangen, üben Zahnmedizinstudentinnen und -studenten an Puppen. Katy Romy / swissinfo.ch

Im Jahr 2022 änderte die CUMD ihr Tarifsystem, um mehr Patient:innen zu erhalten. Während zuvor die Rabatte 25% für alle Behandlungen ohne Prothesen und 40% für Prothesenbehandlungen betrugen, richteten sie sich nun nach dem Ausbildungsniveau: 70% für Behandlungen durch Studierende ohne Abschluss und 25% für Behandlungen durch Zahnärzt:innen, die sich in einer Spezialisierungsausbildung befinden.

«Die günstigeren Tarife haben es uns ermöglicht, Patient:innen anzuziehen, die auch bereit sind, kompliziertere Eingriffe durchführen zu lassen», sagt Borgis.

Wer sparen will, muss geduldig sein

In den Räumlichkeiten des CMUD stehen den angehenden Zahnärzt:innen mehr als 90 verglaste Behandlungszimmer zur Verfügung. Auf den Gängen, die an die kleinen Glasräume angrenzen, herrscht reges Treiben. Vorgesetzte und Assistent:innen gehen von einem Zimmer zum nächsten, um die Arbeit zu überprüfen.

Als wir den Raum von Hanza Shabana betreten, einem Studenten im vierten Studienjahr, spürt man sofort die Konzentration. Nur das Geräusch der zahnärztlichen Instrumente bei der Arbeit durchbricht die Stille.

Der junge Mann kümmert sich um José Haeberli, einen weiteren Rentner aus Genf. Hanza führt einen Onlay-Schliff durch, bei dem ein Zahn vor dem Einsetzen einer Prothese präpariert wird.

Ausbildnerin überprüft jungen Zahnarzt
Eine Ausbildnerin überprüft die von Hanza Shabana, einem Schüler der 4. Klasse, durchgeführte Behandlung. Katy Romy / swissinfo.ch

Die Behandlungen können drei- bis viermal so lange dauern wie in einer privaten Zahnarztpraxis. Der Prozess beginnt mit einer ausführlichen Beratung durch eine erfahrene Berufsperson, um die individuellen Bedürfnisse zu ermitteln und einen Behandlungsplan festzulegen.

Haeberli, der bereits von mehreren Zahnärzt:innen in Ausbildung behandelt wurde, schätzt das Prozedere. «Da ich im Ruhestand bin, habe ich alle Zeit der Welt, und der Rabatt ermöglicht es mir, eine umfassendere Behandlung zu erhalten und einen Schritt weiterzugehen.»

«Der Rabatt ist nicht die einzige Motivation», sagt Chiara Di Antonio. «Manche Leute sind auch froh, dass sie einen Beitrag zur Ausbildung von Zahnärzt:innen leisten können und gleichzeitig eine qualitativ hochstehende Behandlung erhalten.»

Sie beobachtet auch, dass sich zwischen vielen Studierenden und Patient:innen im Lauf der Zeit eine starke Verbindung entwickelt.

Auf Prävention setzen

Ein paar Schritte weiter ändert sich die Atmosphäre spürbar. Zwei Gefangene in Handschellen warten unter Begleitung eines Polizisten auf ihren Termin. Wir befinden uns in der Abteilung für Sozialarbeit der Klinik.

Hier liegt der Fokus nicht nur auf der Betreuung von Sozialhilfeempfänger:innen, sondern auch auf der Versorgung von Häftlingen. In diesem Bereich werden die Behandlungen nicht von Studierenden, sondern von erfahrenen Zahnärzt:innen durchgeführt.

Für diese Personen übernimmt die Klinik die grundlegende zahnärztliche Versorgung, sofern sie notwendig, einfach, kostengünstig und angemessen ist. Aufgrund dieser Einschränkungen sind sie jedoch keine optimalen Kandidat:innen für den Unterricht.

«Unser Ziel ist es, die grundlegende zahnmedizinische Versorgung zu gewährleisten, während wir gleichzeitig die idealen medizinischen Verfahren unter optimalen Bedingungen lehren», sagt Borgis.

Serge Borgis
Serge Borgis, der operative Direktor der CUMD, ist der Ansicht, dass eine obligatorische Zahnpflegeversicherung negative Auswirkungen auf die Qualität der zahnärztlichen Versorgung in der Schweiz haben würde. Katy Romy / swissinfo.ch

Aus diesem Grund spricht sich Borgis auch gegen die Integration der zahnmedizinischen Versorgung in die obligatorische Krankenversicherung aus. «Dies würde die Qualität der Behandlung beeinträchtigen, da man gezwungen wäre, sich für kostengünstige Lösungen zu entscheiden, ähnlich wie bei der Versorgung von Sozialhilfeempfänger:innen», sagt er.

Als Vergleich zieht er die Situation in Frankreich heran: «Dort werden die Kosten für Zahnbehandlungen zwar von der Sozialversicherung übernommen, aber die Qualität leidet darunter. Diejenigen, die es sich leisten können, wenden sich deshalb an nicht subventionierte Praxen.»

Doch wie kann man Menschen helfen, die sich den Zahnarztbesuch nicht leisten können? Borgis setzt vor allem auf Prävention und empfiehlt, diese zu intensivieren. «Es ist wichtig, die Mundhygiene frühzeitig zu lehren. Mit einem minimalen Aufwand können 80% der zahnbezogenen Probleme vermieden werden», sagt er.

Diese Ansicht teilt nicht nur von der Schweizerischen Zahnärztegesellschaft, sondern spiegelt auch die Meinung einer Mehrheit der Bevölkerung wider. Tatsächlich fanden bereits Volksabstimmungen über eine kantonale Zahnpflegeversicherung in den Kantonen Waadt, Neuenburg und Genf statt, jedoch wurden diese Vorschläge bisher alle abgelehnt.

Gutscheine statt Versicherung

Der sozialdemokratische Neuenburger Nationalrat Baptiste Hurni, der auch als Vizepräsident der Schweizerischen Patientenstelle amtet, glaubt, dass die Integration der Zahnpflege in die Grundversicherung die Lösung wäre, um den Zugang zur Zahnpflege für alle zu gewährleisten.

Der Vorschlag habe derzeit keine Chance, eine politische oder populäre Mehrheit zu finden, räumt er aber ein. «Eine Kampagne zu diesem Thema wäre ein Desaster. Die Prämien für die Grundversicherung sind bereits jetzt zu teuer, und alle hätten Angst, noch mehr bezahlen zu müssen», so Hurni.

Für den Politiker sind die Argumente der Zahnärzt:innen gegen eine Pflichtversicherung nicht stichhaltig. «Es reicht nicht aus, eine gute Zahnhygiene zu haben, um keine Probleme zu haben», sagt er und betont, dass die Zahngesundheit einen Einfluss auf die allgemeine Gesundheit jedes Menschen hat.

Seiner Meinung nach fürchten die Zahnärzt:innen vor allem die Einführung einer nationalen Tarifstruktur nach dem Vorbild der geltenden Ordnung für ambulante medizinische Leistungen. «Der Berufsstand will nicht, dass die Kosten vom Staat kontrolliert werden, was einen Druck auf die Preise ausüben würde», sagt er.

Eine alternative Lösung zeichnet sich in Genf ab. Dort hat die Sozialdemokratische Partei eine Initiative eingereicht, die auf die Ausgabe von Gutscheinen im Wert von 300 Franken für Zahnbehandlungen an Personen mit geringem Einkommen setzt.

«Die Vorlage hat vielleicht mehr Chancen und könnte in anderen Teilen der Schweiz Nachahmung finden», sagt Hurni.

*Name der Redaktion bekannt

Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer

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