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Golden Gate Bridge folgt Berns Beispiel mit Fangnetzen

Die Golden Gate Bridge ist auch Plattform für Suizidwillige. Das soll nun ändern, dank Stahlnetzen, wie sie sich in Bern bewährt haben. (Visualisierung) Keystone

Die Golden Gate Bridge in San Francisco hält einen düsteren Rekord: Sie ist das Bauwerk mit der weltweit höchsten Zahl an Suiziden. Jetzt werden unterhalb der Brücke Fangnetze aus Stahl installiert. Diese sind vom "Berner Modell" inspiriert, das klare Erfolge brachte.

Vier Sekunden – länger dauert es nicht: Im letzten Jahr haben sich 46 Menschen mit einem Sprung von der ikonenhaften Brücke das Leben genommen. Seit Eröffnung der Brücke 1937 hat es dort offiziell 1653 Suizide gegeben. Doch diese Statistik erfasst nur jene Menschen, die beim Sprung gesehen oder deren Körper aus dem Wasser gefischt wurden.

Um Lebensmüde künftig vom Sprung in die Tiefe abzuhalten oder sie zumindest rechtzeitig aufzufangen, wurde am 27. Juni ein Projekt im Umfang von 76 Mio. Dollar gutgeheissen. Dieses sieht vor, dass bis 2018 sechs Stahlnetze unterhalb der Brücke installiert werden.

Schon während der vierjährigen Bauzeit der Brücke waren zum Schutz der Arbeiter Netze eingesetzt worden; mindestens 19 Arbeiter sollen so gerettet worden sein. Doch Pläne, Schranken oder höhere Geländer anzubringen, sind bisher immer wieder verworfen worden, vor allem aus ästhetischen, baulichen oder finanziellen Gründen.

Als Denis Mulligan in San Francisco jüngst das Projekt vorstellte, verwies er als Generaldirektor der Betreibergesellschaft der Golden Gate Bridge direkt auf die Erfahrungen von mit den Schutzvorrichtungen an MünsterplattformExterner Link. Die Terrasse neben dem Münster bietet eine atemberaubende Sicht auf den Fluss und die Alpen in der Ferne. Sie bietet aber auch einen schwindelerregenden Blick in die Tiefe: 33 Meter jäh hinunter auf die Strasse, die entlang der historischen Stadtmauer verläuft.

Die Münsterplattform in Bern. Die Sicherheitsnetze, die sich seit 1998 sehr bewähren, sind sieben Meter unterhalb der Aussichtsterrasse angebracht. unibe.ch

Seit 1998, als sieben Meter unterhalb der mittelalterlichen Terrassenmauer Netze installiert wurden, habe dort niemand mehr einen Suizidversuch unternommen, erklärte Mulligan. Tatsächlich mussten bisher nur zwei Hunde und mehrere Velos aus den Netzen geholt werden.

«Es wäre schmerzhaft, aus sieben Metern auf Stahlnetze zu fallen. Lebensmüde Menschen wollen sich umbringen, nicht verletzen», sagte Mulligan.

Befürchtungen, dass Suizidwillige einfach woanders hin gehen würden, um sich umzubringen, scheinen falsch zu sein. Eine Studie von 1978 war 515 Menschen nachgegangen, die zwischen 1937 und 1971 versuchten, von der Golden Gate-Brücke zu springen, aber physisch daran gehindert werden konnten.

Der Autor der Studie fand heraus, dass 94% von diesen entweder noch lebten oder eines natürlichen Todes gestorben waren, nur 6% hatten sich schliesslich doch das Leben genommen. Oder waren bei Unfällen umgekommen, die einen Suizid erahnen liessen.

Dieses Resultat unterstütze die Idee, dass man Suizide verhindern könne, erklärte Paul Muller von der Bridge Rail Foundation, einer Organisation, die sich dafür stark macht, Suizide von der Golden Gate Bridge auch mit Hilfe von baulichen Veränderungen zu verhindern. «Das Wichtigste ist, den einfachen Zugang zu tödlichen Hilfsmitteln einzuschränken», sagte Muller.

Der suizidale Zustand eines Menschen erstrecke sich über eine gewisse Zeitspanne. «Psychiater können darüber diskutieren, wie lange diese Zeitspanne ist. Sie kann mit einigen Stunden eher kurz sein, aber auch mehrere Tage anhalten. Der Kern der Prävention ist es, an die Person heranzukommen, sie an einen Ort zu bringen, wo sie so lange sicher ist, bis der suizidale Impuls nachlässt», erklärte Muller.

Schüler bilden den Slogan «Stop Suizid». Es war vorgekommen, dass Lebensmüde von der Kirchenfeldbrücke hinunter auf den Rasen sprangen, auf dem Schüler Turnunterricht hatten. Keystone

«Nicht akzeptabel»

In der Schweizer Hauptstadt gibt es mehrere Brücken und andere Bauwerke, von denen es in die Tiefe geht. 30% der Suizide in Bern gehen auf Sprünge zurück, meist von Brücken aus. Bevor sich die Behörden 1998 zum Handeln gezwungen sahen, war dieser Anteil bei 60% gelegen.

Zwischen 1996 und 1998 hatten sich sieben Menschen von der Münsterplattform gestürzt. Sie schlugen direkt vor den Wohnhäusern im Mattequartier auf, resp. auf dem Parkplatz, der zwischen der Häuserreihe und der Mauer der Plattform liegt. Im Januar 1998 schlug jemand nur wenige Meter neben einem zehnjährigen Jungen auf. Bis Ende jenes Jahres wurden dann die Netze angebracht.

Dank diesen konnten nicht nur Leben gerettet, sondern auch die Traumatisierung weiterer Anwohner und Passanten verhindert werden. Zudem stehen die Rettungskräfte nicht mehr vor den ebenso traumatischen Aufräumarbeiten, mit denen sie nach den Todessprüngen konfrontiert waren. Die Netze können auch ernsthaftere Verletzungen der (wenigen) Überlebenden und damit verbundene Gesundheitskosten verhindern helfen.

Der Politiker Erich Hess, der für die Schweizerischen Volkspartei (SVP) im Berner Stadtparlaments sitzt, war vor einigen Jahren Zeuge eines Suizids geworden. 

«Ich sass in einem Tram, das über die Kirchenfeldbrücke Externer Linkfuhr und schaute aus dem Fenster, als plötzlich jemand von der Brücke sprang. Ich stieg an der nächsten Haltestelle aus und sagte zu mir selbst, dass diese Situation nicht akzeptabel ist; ich wusste, dass viele Leute sich auf diese Art umbrachten», erklärte Hess gegenüber swissinfo.ch.

Hess reichte eine Motion ein, in der er die Installation von Netzen an den Brücken zur Suizidprävention forderte. 2009 wurde die Motion vom Stadtparlament überwiesen. Als temporäre Massnahme wurden die Geländer der Kirchenfeld- und der Kornhausbrücke mit vertikal in die Höhe gezogenen Netzen gesichert (nicht mit horizontalen Netzen unterhalb der Brücken).

«Merklicher Rückgang»

Die Netze erfüllen ihren Zweck, die Zahl der Suizide von Kornhaus- und Kirchenfeldbrücke ist nach Angaben der Stadtregierung seither «merklich zurückgegangen». Genaue Zahlen sind schwierig zu erhalten, da sich alle Beteiligten zurückhaltend geben. Experten warnen, dass zu viel Information oder Medienberichterstattung bei lebensmüden Menschen solche Suizide fördern könnten.

Laut Hess waren aber «vor der Installation der Netze in Bern fast zehn Leute pro Jahr von den Brücken gesprungen. Heute liegt diese Zahl praktisch bei Null.»

Im Februar 2014 bewilligte das Stadtparlament einen Kredit von knapp 6,5 Mio. Franken, um die provisorischen Netze an der Kirchenfeld- und der Kornhausbrücke mit ähnlichen Auffangnetzen wie jenen bei der Münsterplattform zu ersetzen. Dieses Modell soll nur auch bei der Golden Gate Bridge in San Francisco zur Anwendung kommen.

Die Abstimmung im Stadtparlament verlief zwar klar, aber keinesfalls einstimmig. Einige Abgeordnete beklagten sich über hohe Kosten, andere sorgten sich um den Schutz historischer Bauwerke, da die beiden vor mehr als 100 Jahren gebauten Brücken Bestandteil des UNESCO-Weltkulturerbes sind.

«Leben zu retten ist wichtiger als ästhetische Fragen», konterte Hess solche Einwände.

«Gute Investition»

Das Interesse aus Kalifornien an Bern geht nach Aussagen von Dieter Arnold vom Tiefbauamt der Stadt Bern auf 2008 zurück. Damals habe die kalifornische Verkehrsbehörde CalTrans von der Stadt wissen wollen, wieso man bei der Münsterplattform Netze gespannt habe statt einen Zaun zu errichten. CalTrans habe sich auch erkundigt, wie man Leute, die dennoch springen würden, aus den Auffangnetzen befreie.

«Bei jener Anfrage ging es aber um die Cold Spring Canyon Bridge bei Santa Barbara, nicht um die Golden Gate Bridge», präzisiert Arnold. Er vermutet, dass die Informationen später von CalTrans an die Behörden in San Francisco weiter geleitet worden waren. Bei der anderen Brücke hatte CalTrans schliesslich einen höheren Zaun errichtet, worauf die Suizide abnahmen.

Gewisse Kritiker sind jedoch der Ansicht, es sei nicht Aufgabe des Staates, so viel Geld auszugeben, um Menschen davon abzuhalten, sich das Leben zu nehmen.

«Was heisst viel Geld? Es geht um eine einmalige Investition, die wahrscheinlich 50 bis 75 Jahre Bestand haben wird. Unternehmen wir aber nichts, käme es in diesem Zeitraum logischerweise zu etwa 2000 weiteren Todesfällen», sagt Paul Muller.

«Wir investieren viel mehr Geld in die Verbesserung der Verkehrssicherheit von Autobahnen und Brücken, wo die Zahl der Todesfälle viel geringer ist. Um Frontalzusammenstösse zu verhindern, werden zum Beispiel auf der Golden Gate Bridge 25 Mio. Dollar für eine bewegliche Mittelschranke aufgewendet. Das ist eine durchaus sinnvolle Investition in die Sicherheit, aber ich glaube, die Zahl der Todesopfer, um die es dabei geht, liegt seit 1970 bei insgesamt weniger als 20.»

Das Projekt für die Auffangnetze sei «in Bezug auf die Verbesserung der Sicherheit und gerettete Leben also eine ziemlich gute Investition», ist Muller überzeugt.

Die Golden Gate Bridge ist eine 2,7 Kilometer lange Hängebrücke über die Golden-Gate-Meerenge in San Francisco, Kalifornien. Die Brücke wurde am 27. Mai 1937 nach vierjähriger Bauzeit in Betrieb genommen,. Es war damals die längste Hängebrücke der Welt.

Heute überqueren jeden Tag rund 6000 Velos, 120’000 Autos und mehr als 10’000 Fussgänger die Brücke.

Die Höhe der Brücke über Meer beträgt rund 70 Meter. Springt ein Mensch von der Brücke, dauert es etwa vier Sekunden, bis er mit einer Geschwindigkeit von rund 120 km/h im Wasser aufschlägt. Die meisten Springer sterben durch die Wucht des Aufpralls. Etwa 5% der Springer überleben zwar den Aufprall, sterben aber danach meistens doch durch Ertrinken oder an Unterkühlung im sehr kalten Wasser.

Im Dezember 2013 lag die offizielle Zahl der Menschen, die sich seit der Einweihung der Brücke in den Tod gestürzt haben, bei 1653. Paul Muller von der Bridge Rail Foundation geht von mindestens 400 weitere Suiziden aus, bei denen aber nie Leichen geborgen wurden, weil sie aufs offene Meer hinaus getrieben wurden.

Gemäss einer Studie des Gerichtsmedizinischen Instituts von Marin County, die sich über 15 Jahre erstreckte, kamen 90% der Lebensmüden aus Nordkalifornien. Deren mittleres Alter lag bei 40 Jahren, 74% waren Männer, 56% alleinstehend oder nie verheiratet, 80% Weisse, 80% hatten eine identifizierbare Berufstätigkeit, 8% waren Studierende.

Offiziellen Angaben zufolge überlebten bis Juli 2013 nur 34 Menschen den Sprung von der Brücke. Überlebende waren mit den Füssen voran und in einem leichten Winkel auf dem Wasser aufgeprallt, oft erlitten sie aber dennoch innere Verletzungen oder Knochenbrüche.

In den 1990er-Jahren wurden auf der Brücke mehr als ein Dutzend gelbe Notruftelefone installiert, die direkt zu einer Hilfs-Hotline führen. Zudem fahren Angestellte der Brückenverwaltung jeden Tag in kleinen Elektroautos auf der Brücke hin und her, um Ausschau nach potentiellen Suizidwilligen zu halten.

Suizide in der Schweiz

2012 haben sich in der Schweiz insgesamt 1037 Menschen das Leben genommen, 752 Männer und 285 Frauen. Im Vergleich dazu starben im selben Jahr 339 Personen bei Verkehrsunfällen.

Die Zahl derSuizide in der Schweiz ist seit Mitte der 1980er-Jahre, als sich pro Jahr mehr als 1600 Personen das Leben genommen hatten, langsam gesunken.

Gemäss einem Bericht der Regierung von 2009 über Suizidmethoden erfolgten 28% der Suizide durch Erhängen, 23% durch Erschiessen. Je 14% hatten sich vergiftet oder zu Tode gestürzt, 10% warfen sich vor ein Fahrzeug und 11% wählten eine andere Methoden.

Bei Männern sind Suizide durch Schusswaffen und Erhängung besonders häufig, während Frauen sich eher durch Vergiften oder mit einem Sprung in die Tiefe oder vor ein Fahrzeug wie den Zug umbringen.

Die oben erwähnten Suizide schliessen assistierte Suizide (Sterbehilfe) nicht ein.

(Quelle: Bundesamt für Statistik)

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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